Anne-Sophie Mutter in Berlin: Auf volles Risiko
Die Stargeigerin gastiert in der Philharmonie, zusammen mit Robin Ticciati und dem London Philharmonic Orchestra
Die gefragtesten Klassik-Künstler sind ihrer Zeit weit voraus. Zumindest in ihren Terminkalendern. Schon für die kommenden drei, vier Jahre festzulegen, wo sie wann auftreten werden, ist normal im Bühnenleben des Hochkultur-Jetsets. Was jetzt zu der absurden Situation führte, dass sowohl Robin Ticciati, der designierte Chef des Deutschen Symphonie-Orchesters, wie auch Kirill Petrenko, Simon Rattles Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern, ihre ersten Hauptstadt-Auftritte nach ihrer Wahl nicht etwa mit den jeweiligen künftigen Partnerorchestern absolvierten, sondern als Gastspiele mit auswärtigen Ensembles.
Im September war Petrenko mit dem Bayerischen Staatsorchester beim „Musikfest Berlin“ zu erleben – und steigerte bei diesem Abend noch einmal deutlich die Vorfreude auf seine Philharmoniker-Ära, die allerdings erst 2019 beginnt. Bereits zum Herbst 2017 tritt Ticciati sein Amt beim DSO an, der 33-jährige britische Maestro mit italienischen Wurzeln. Nach nur einem einzigen Programm hatte sich das DSO für ihn entschieden, ein im Februar geplanter Auftritt wurde vereitelt, weil Ticciati einen Bandscheibenvorfall erlitt. So fand sein zweiter Philharmonie-Auftritt nun am Freitag tatsächlich mit dem London Philharmonic Orchestra statt.
Anne-Sophie Mutter setzt auf starke Kontraste bei Mendelssohn
Wobei man sagen muss, dass die meisten im ausverkauften Saal nicht seinetwegen gekommen waren. Sondern, um Anne-Sophie Mutter zu erleben, die auch im 40. Jahr ihrer Karriere weiterhin die unbestrittene Geigenkönigin ist. Überraschend exzentrisch geht sie Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert an, mit mehreren rubati, also bewusst gesetzten Verzögerungen, bereits im Hauptthema. Diese Kontrastdramaturgie prägt den ganzen Eröffnungssatz, zwischen sehr breit gespielten lyrischen Passagen, teils hart an der Grenzen zum Stillstand, und halsbrecherischem Tempo in den schnellen Abschnitten.
Den entscheidenden Vorteil der Streicher gegenüber der menschlichen Stimme spielt Anne-Sophie Mutter im Andante aus: nämlich nicht Luft holen zu müssen. In wunderbar schlichtem Ton lässt sie ihr Instrument eine endlose Melodie singen, ohne den Bogen bis zum ersten Orchester-Zwischenspiel auch nur ein einziges Mal von den Saiten abzuheben.
Voll auf Risiko geht die Geigerin im Finale, das zum Parforceritt wird. Dass sie, die doch als Priesterin der makellosen Schönheit gilt, dafür einige nur ruppig angerissenen Töne hinnimmt, gibt ihrem Spiel das Abenteuer des Augenblicks, ein authentisches Live-Gefühl – und lässt die Fans umso dankbarer jubeln.
Ticciati versucht, Bruckners Ungeheuerlichkeiten zu glätten
Wenn es um Anton Bruckner geht, gibt es zwei Dirigenten-Schulen: Die einen unterstreichen das Radikale an diesen ungeheuerlichen, aus scheinbar disparaten Blöcken zusammengesetzten Partituren, die anderen versuchen die Brüche zu kitten. Robin Ticciati gehört eindeutig zu letzterer Fraktion. Wo Anne-Sophie Mutter zeigt, dass es auch in Mendelssohns vermeintlich lieblicher Märchenromantik eine Doppelgesichtigkeit gibt, verleugnet der Brite die zwei Seelen in Bruckners Brust und verwendet stattdessen viel Mühe darauf, dessen vierte Sinfonie ästhetisch zu vereinheitlichen. Das eröffnet zwar den Musikern des London Philharmonic viele Gelegenheiten zum Glänzen, allen voran den grandiosen Hörnern, bleibt als musikalische Erzählung dann aber doch recht banal.