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Kurt Masur Anfang Juni bei der Verleihung des Sächsischen Verdienstordens in Leipzig.
© dpa

Kurt Masur leitet Mendelssohn-Abend in Berlin: Glaube, Liebe, Harmonie

Der Dirigent Kurt Masur ist längst eine Legende. Seit einem Unfall ist der fast 87-Jährige auf den Rollstuhl angewiesen. Dennoch hat er in der Philharmonie jetzt einen Mendelssohn-Abend mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester geleitet.

Kurt Masur tritt nicht auf in der Philharmonie. Er wird von zwei Helfern im Rollstuhl hineingefahren, den Menschen gezeigt wie ein Heiliger. Wenn er die Hand hebt, sieht es aus, als segne er die Menge. Allerdings ist der fast 87-Jährige wohl heiterer als ein echter Heiliger; dass ihm der Abend Freude bereitet, sieht man ihm an, vielleicht erstaunt es ihn sogar ein wenig. Mit Masur gemeinsam spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ein reines Mendelssohn-Programm, zuerst die Ouvertüre „Ruy Blas“ nach Victor Hugo, danach die „Italienische“ und „Schottische“ Sinfonie.

Zuerst muss man feststellen, dass all dies fantastisch schöne, lebendig sprechende Musik ist. Unverwechselbar schon das markante Zwiegespräch zwischen Bläsern und Streichern anfangs der Ouvertüre, die Hitze des Saltarello in der „Italienischen“ oder der kompositorisch entfachte Sturm im ersten Satz der „Schottischen“, klug an der Grenze zwischen symphonisch konzipierter und blank abbildender Musik. Gleich darauf aber nimmt man wahr, was geschieht, wenn ein Dirigent zwar heiliggesprochen, aber keine Figur mehr ist, die tatsächlich auf das Orchester zugreifen kann.

Masur, eben von einem Knochenbruch genesen, sitzt mit seinem Rollstuhl auf einem Podest, hebt kaum die Hand oder den Arm, nickt vielleicht einmal in das Ensemble hinein. Auch das hat Wirkung. „Amsel, komm nach vorn, Amsel, hier ist dein Korn“, heißt es in einem Kindergedicht von Brecht, und ganz ähnlich rückt das Orchester nun nach vorn und tritt auf besondere Weise in Erscheinung: als Gruppe ohne Leitung, als eine Menge Musiker, die zeigen, was sie können. Beziehungsweise machen, was sie wollen. Sie tun dies ohne böse Absicht, in lauterer Zuneigung zu dem großen alten Herrn.

Doch so stellt es sich ein, dass der Orchesterklang auch mal lärmt oder wuchert; dass die eigentlich silbrig ziehenden Geigenrepetitionen in der „Italienischen“ verklappern und ihr heiter-trauriges andante con moto an Feinheit verliert; dass das Gewitter in der „Schottischen“ vorüberzieht wie ein ungepflegter Wetterausrutscher.

Geht man an diesem Abend der Werke wegen ins Konzert? Stärker wiegt die soziale Dimension, die hingebungsvolle Art des Orchesters, bei leisem Verdruss über die mangelnde Führung. Der Respekt und das Wohlwollen, das Masur vom Publikum und der Bühne aus entgegenschlägt, das Bewusstsein schließlich, dass die körperliche Einschränkung ihn augenscheinlich nicht daran hindert, Musik zu denken und sich von ihr maximal affizieren zu lassen: Das, was Masur an sich selbst in Erscheinung treten lässt, ist das Bild des idealen Zuhörers.

Christiane Tewinkel

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