Die Nobelpreis-Rede von Olga Tokarczuk: Auf der Suche nach der zärtlichen Erzählinstanz
"Fiktion ist immer eine Art von Wahrheit": Die kraftvolle Stockholmer Nobelpreisrede der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk.
Am Ende ihres Opus magnum „Die Jakobsbücher“ („Księgi Jakubowe“) dankt die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk ihrem Lebensgefährten sowie ihrer Mutter. Diese habe sie bei der Lektüre der ersten Textfassungen des 1200-Seiten-Romans „mit ihrem sensiblen Gespür auf einige kleine, aber bedeutende Einzelheiten der Lebensrealien aufmerksam“ gemacht.
Mit einer Hommage an die Mutter und das heimische Radio beginnt auch die Rede, die Tokarczuk am Samstagabend in der Schwedischen Akademie in Stockholm gehalten hat, wie es für die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2018 vorgesehen war, vor Peter Handke, dem Preisträger 2019.
Das erste Foto, das sie bewusst wahrgenommen habe, so die 1962 geborene Autorin, sei eine Schwarzweiß-Aufnahme ihrer schwangeren Mutter am Radio gewesen: „Wenn ich als kleines Mädchen dieses Foto betrachtete, war ich mir sicher, dass sie nach mir gesucht hatte, als sie am Senderknopf drehte. Wie ein empfindsamer Radar drang sie in das unendliche Königreich des Kosmos ein und versuchte herauszufinden, wann ich ankommen würde und woher.“
Tokarczuk formuliert ein Unbehagen an der Zivilisation
Später habe sie ihre Mutter gefragt, warum diese so häufig traurig sei. Die verblüffende Antwort lautete: Sie habe ihre Tochter vermisst, obwohl diese noch nicht auf der Welt war. „Und so kam es, dass eine junge Frau, die niemals religiös war – meine Mutter – mir so etwas wie eine Seele gab und mich damit zugleich mit dem weltgrößten zärtlichen Erzähler versah“, schloss Tokarczuk diese sehr persönliche poetologische Eingangspassage.
Die Stockholmer Nobelreden gehen traditionell der feierlichen Verleihung der Nobelpreise am Dienstag, den 10. Dezember voraus. Ihre gut einstündige, auf Polnisch gehaltene Vorlesung hat Olga Tokarczuk „Czuły narrator“ („The Tender Narrator“) genannt, also der „zärtliche“ oder „liebevolle“ Erzähler.
Sie meint damit eine neutrale, allwissende Erzählinstanz, wie sie sich mit dem Bibel-Einstieg „Am Anfang war das Wort“ offenbare oder mit dem Satz „Und Gott sah, dass es gut war.“
„Wenn wir alle theologischen Zweifel beiseite lassen, können wir diese Figur eines mysteriösen, zärtlichen Erzählers als etwas Wunderbares und Bedeutsames betrachten“. Alles zu sehen bedeute die unumstößliche Tatsache anzuerkennen, dass alles mit allem zusammenhänge, so die Autorin, deren rhapsodisches Werk stets weit in Historie und Mystik ausgreift.
Literatur-Genres werden wie Sportarten behandelt, so Tokarczuk
Was aber lässt bei Olga Tokarczuk diesen Wunsch nach einer allwissenden „zärtlichen“ Erzählinstanz aufkommen, wie sie sie in den „Jakobsbüchern“ mit der greisen Seherin Jenta geschaffen hat, der Großmutter des realen, aber sagenumwobenen Religionsstifters Jakob Frank? Tokarczuk destilliert ihren überraschend altmodischen Wunsch aus einer profunden und schonungslosen Bestandsaufnahme unserer medialen Gegenwart.
Diese zersplittert sich für sie in Einzelinteressen, in lauter – auch literarische – Ich-Sager: „Wir leben in einer Wirklichkeit polyphoner Ich-Erzähler und werden von allen Seiten mit polyphonem Lärm konfrontiert.“
Diese egomanische Tendenz führe zu einem Realitätsverlust: „Mich beunruhigt oft das Gefühl, dass der Welt etwas fehlt, wenn wir sie mittels gläserner Bildschirme oder Apps wahrnehmen, dass sie unreal, fern, zweidimensional und seltsam unbestimmt wird, selbst wenn es erstaunlich einfach ist, Detailinformationen zu erhalten.“
Tokarczuk sieht ihr zivilisatorisches Unbehagen durch einen kommerzialisierten Buchmarkt verstärkt, der die Literatur künstlich in Genres gliedere, der besseren Verkäuflichkeit wegen: „Vielleicht um nicht in der Vielfalt der Buchtitel und Autorennamen unterzugehen, haben wir damit begonnen, den Leviathan-Körper der Literatur in Genres aufzuteilen. Diese behandeln wir wie verschiedene Sportarten und die Schriftsteller als deren speziell ausgebildete Akteure.“
Keine Frage ihrer Leserschaft regt Olga Tokarczuk mehr auf als jene, ob sie selbst erlebt habe, was sie beschreibt. „Fiktion ist immer eine Art von Wahrheit“, kontert sie: „Ich begreife diese Art von Leser-Neugier als Rückschritt der Zivilisation. Es bedeutet eine Beschädigung unseres mehrdimensionalen Vermögens […], an der Kette von Ereignissen teilzuhaben, die wir unser Leben nennen.“
Dieser Entwicklung setzt sie mit ihrem Romanwerk und auch dieser kraftvollen Stockholmer Rede das Vertrauen in den strukturbildenden Mythos entgegen - und eben in einen neuen „zärtlichen“ Erzähler, der die beschädigten Fragmente zur Idee des „unus mundus“, der einen Welt, wieder zusammenführt.