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Phillip Geist versenkt seine Kamera nahe der Mündung von Müggelspree und Dahme.
© Thilo Rückeis

Berliner Ufer (8): Atlantis in den Tiefen von Köpenick

In Köpenick, wo Dahme und Müggelspree sich treffen, lässt der Künstler Philipp Geist seine Kamera tauchen - und entdeckt entrückte Welten und surreale Kraterlandschaften.

Philipp Geist steht am Ufer und hält seine Nylonschnur ins Wasser. Das ältere Paar, das vorbeiläuft, stellt Mutmaßungen an. Erstens: Geist messe die Wassertiefe, für irgendwelche Bauarbeiten vielleicht. Zweitens: Er beabsichtige, einen Hecht zu fangen, und der schwarze Kasten neben ihm auf dem Boden sei ein Grill, um den Fisch gleich an Ort und Stelle verzehren zu können.

Ganz falsch ist die Angelthese nicht. Bloß dass Philipp Geist keine Lebewesen, sondern Bilder fängt. Von Orten in Städten, die Menschen sonst verborgen bleiben. Heute sind es die letzten Meter der Müggelspree. Am nordwestlichen Rand der Köpenicker Altstadt, dort, wo sie auf die Dahme trifft und zur Spree wird, lässt Geist seine wasserdichte Kamera in die Tiefe.

Wie idyllisch es hier ist. Am Ufer liegt kein Müll rum, nirgends sieht man platt getretene Kaugummis, auch kaum Graffiti. Passanten spazieren oder sitzen auf ebenfalls sehr sauberen Holzbänken. Am Himmel ziehen Möwen ihre Kreise, am gegenüberliegenden Ufer blickt Philipp Geist auf Trauerweiden und kleine Bootsanleger. Sehr friedlich alles. Das schlimmste Vergehen, was man sich hier von seinen Mitmenschen vorstellen kann, ist maßloses Entenfüttern.

Unter der Wasseroberfläche ist die Welt viel düsterer. Hektischer auch. Die Kamera filmt Algen, herumwirbelnde Blätter, aufsteigende Luftblasen, Gekräusel am Flussboden. Oben steht Geist und beobachtet auf seinem Smartphone in Echtzeit, was ihm unten vor die Linse kommt. Die Daten werden per Wifi übertragen. Einige Standbilder wird der 40-Jährige später ausdrucken und so sein Langzeitprojekt „Riverine Zones“ erweitern. Denn Geists Kamera kam schon weltweit in Flüssen zum Einsatz. In Rom, München, Montreal. Seit zehn Jahren macht er das. Ein paar seiner Werke sind gerade in der Ausstellung „Bitteres Wasser“ in der Galerie im Hafen Rummelsburg zu sehen.

Ups, da treibt ein Apfel an der Oberfläche. Geist zupft oben an der Schnur, umkreist das Obst mit seiner Kamera . Wenn er später die Aufnahmen sichtet, wird er nicht immer erkennen können, was genau er da eigentlich gefilmt hat. Viele Bilder haben Schlieren, sind unscharf, zeigen große Schatten. Erinnern an bizarre Fantasiewelten. Geist will das so. Er sagt, er habe kein Interesse an perfekter Ausleuchtung. Er wolle keine Details sezieren. Er drehe hier schließlich keine Naturdoku fürs Fernsehen. Jetzt wird es laut. Ein Ausflugsschiff fährt vorbei. Aus den Boxen dröhnt nervige Schlagermusik: „Der Wal hustet laut, was kommt da denn raus? Es ist die fette Schwester von Klaus und Klaus.“ Ein paar Betrunkene winken. Philipp Geist winkt zurück.

Er kommt aus dem oberbayrischen Städtchen Weilheim, der deutschen Öffentlichkeit als Geburtsort von Fußballnationalspieler Thomas Müller, Popinteressierten als Brutstätte der Überband The Notwist ein Begriff. Seit 17 Jahren lebt Geist in Berlin. 300 Meter Luftlinie von der Stelle entfernt, an der er jetzt Bilder fischt, liegt das Rathaus Köpenick mit der berühmten Bronzestatue des Hauptmanns davor. Geist kennt das Gebäude gut, es ist sein Bürgeramt.

Blick aufs Smartphone. Das klare Wasser der Müggelspree, sagt Geist, sei das genaue Gegenteil des üblen Gebräus, das er vergangenes Jahr in Ägypten vorgefunden hat. So viel Plastikmüll und sonstigen Dreck wie im Nil habe er bisher nirgendwo herumschwimmen sehen. Es war ihm eine Lehre. Bevor er in diesem Herbst die indische Millionenmetropole Pune besucht und seine Kamera dort in den Mula taucht, werde er Plastikhandschuhe überstreifen.

Dass Geist so viel umherreist, liegt an seiner zweiten Leidenschaft. Er ist Lichtkünstler und liebt großflächige Fassadeninstallationen. In den letzten Jahren hat er den Königspalast von Bangkok, die Christusstatue in Rio de Janeiro, den Palazzo delle Esposizioni in Rom, den Azadi Tower in Teheran ausgeleuchtet. In knalligen Farben verkleidet. Er ist wie Christo, nur dass seine Verhüllungen nach Ende der Aktion viel leichter zu entfernen sind. Knopf gedrückt, Licht aus.

Als würde die Zivilisation versinken

Wo immer Geist unterwegs ist, hat er seine wasserdichte Kamera im Gepäck. Oft scharen sich bei seinen Angelversuchen kleine Trauben um ihn. Menschen, die sich wundern, warum bei dem seltsamen Deutschen mit dem Panamahut nie etwas anbeißt. Auch am Ufer der Köpenicker Altstadt zieht er Blicke auf sich. Ein junger Mann schaut skeptisch von der Parkbank rüber, als sei ihm in der U-Bahn ein schlechter Sänger begegnet.

Was die Kamera filmt, entscheiden in der Regel zwei Kräfte: die Strömung des Flusses und Geist selbst, der an seinem Kabel dreht und die Kamera so rechts- oder linksherum rotieren lassen kann. In Köpenick fließt das Wasser ganz langsam. Wüsste man es nicht besser, könnte man das Gewässer für einen See halten. Tatsächlich beginnt genau hier, wo Geist jetzt steht und die Schnur baumeln lässt, die Reise des vorbeifließenden Spreewassers durch Berlin. Je nach Jahreszeit braucht es mal acht Tage, mal mehrere Wochen, bis es in Spandau angelangt – dort, wo die Spree dann in die Havel mündet.

Zu jedem Tauchgang gehört auch der Blick direkt an der Oberfläche. Untere Hälfte Wasser, obere Stadt. Sieht aus, als würde die Zivilisation versinken. Sieht aus, als würde Köpenick untergehen.

Zuhause wartet das Ergebnis

45 Kilometer fließt die Spree durch Berlin. Philipp Geist hat an so einigen Uferstellen entlang dieser Strecke gestanden. Oft hat er sich gewundert, wie viele Fische er unter Wasser filmen konnte. Rotfedern, Güster, Plötze. Kein Vergleich etwa zum Tiber in Rom, der so verdreckt ist, dass dort überhaupt nichts mehr schwimmt.

Was sich der Künstler genau geangelt hat, sieht er erst zu Hause, sobald er das Material auf seinen Rechner lädt und auf dem großen Bildschirm sichtet. 60 Bilder pro Sekunde hat die Kamera gemacht. Im besten Fall ist es dann, als greife man in eine Wundertüte. Man schaut nach, welche Kunstwerke der Zufall komponiert hat. Welche Ausschnitte gewählt wurden, welche Fokussierung sich dieses Mal so ergeben hat.

Entrückte Welten, surreale Kraterlandschaften

Der Köpenicker Tauchgang hat sich gelohnt, sagt Philipp Geist. Entrückte Welten sind ihm begegnet, surreale Kraterlandschaften. Ein paar Barsche auch, nur schemenhaft erkennbar. An der Oberfläche Treibgut, das sich kaum identifizieren lässt. Am meisten begeistert ihn aber der Apfel. Die leuchtenden Farben, die Spiegelung. Fast wie ein Rembrandt-Gemälde, sagt Philipp Geist.

Das nächste Mal möchte er seine Kamera am anderen Ende der Spree, in Spandau, an der Schnur herablassen. Und dann sehen, wie das Wasser aussieht, wenn Berlin mit ihm fertig ist. Ob dann immer noch Leben möglich ist.

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