Ehedrama „Loveless“ im Kino: Armes Mütterchen Russland
Subtil ist hier nichts: Der russische Regisseur Andrei Swjaginzew schildert in seinem Ehedrama „Loveless“ ein Land in Weltuntergangsstimmung.
Gefühlt steht das Ende der Welt in Andrei Swjaginzews Gesellschaftsporträt „Loveless“ unmittelbar bevor. Im Autroradio läuft die Nachricht, dass die Regierung die Verbreitung „apokalyptischer Propaganda“ unter Strafe stellen will, die verschneite Landschaft erstreckt sich – farblos im Endzeit-Look – zwischen sozialistischen Hochhausblöcken. „Glaubst Du, dass die Welt untergehen wird?“ fragt Boris einen Arbeitskollegen in der Kantine. „Ganz sicher“, entgegnet der über seinen Teller gebeugt. „Loveless“, vergangenes Jahr in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, handelt allerdings nicht vom Weltuntergang, eher schon vom Beginn einer neuen Eiszeit. Wenn Schenja (Marjana Spiwak) und Boris (Alexei Rosin) noch miteinander sprechen, schreien sie sich an. Die Scheidung ist bereits vollzogen, das Einzige, was die beiden noch verbindet, ist ihre gemeinsame Wohnung, durch die sie potentielle Käufer führen.
Ihr zwölfjähriger Sohn Aljosha (Matwei Nowikow) weiß, dass sich die Eltern seinetwegen streiten: Weder der Vater noch die Mutter wollen die Verantwortung für den Jungen übernehmen. Sein stummes Weinen hinter der gläsernen Wohnzimmertür, im Schutz der Dunkelheit, ist ein herzzerreißender Anblick. Boris und seine viel jüngere Freundin erwarten bereits das nächste Kind; Schenja, die einen Schönheitssalon führt, zieht in das Luxusloft eines reichen Junggesellen. Nach dem Sex erzählt sie ihm, wie sehr sie den sensiblen Aljosha, der sie bei der Geburt fast zerrissen hätte, wie sie meint, verachtet – mehr noch als seinen Vater. „Bin ich ein Monster?“ fragt sie ihren Lover. „Ja, aber ein wunderschönes“, meint der nur.
Gesprochen wird kaum, gesoffen umso mehr
Swjaginzew hat seine Karriere mit Geschichten über zerrüttete Familien begründet. In seinem Regiedebüt „The Return – Die Rückkehr“ von 2003 begleiten zwei Brüder ihren Vater, der nach zwölf Jahren Abwesenheit wieder seine Kinder aufsucht, auf einen Survivaltrip in die Wildnis. In „Die Verbannung“ zwingt der männliche Protagonist seine Frau zu einer Abtreibung, an der sie stirbt. Und in „Leviathan“, für den Swjaginzew und sein langjähriger Drehbuchautor Oleg Negin 2014 in Cannes ausgezeichnet wurden, treibt der Kampf des Mechanikers Nikolai gegen die korrupte Bürokratie in der russischen Provinz einen Keil in dessen Ehe.
Swjaginzew beschreibt am Mikrokosmos der Familie gesellschaftliche Stimmungsbilder, der Befund ist niederschmetternd. Gesprochen wird kaum, gesoffen dafür umso mehr. Sein Stamm-Kameramann Michail Kritschman arbeitet bevorzugt mit weiten Einstellungen und unendlich langsamen, fast kriechenden Kamerafahrten, die das Gefühl einer schleichenden Bedrohung evozieren. Aus den Bildern ist alle Farbe gewichen. Im Weltkino gilt Swjaginzew damit als legitimer Erbe von Andrei Tarkowski, in seiner Heimat hingegen muss er für seine düsteren Russland-Porträts immer wieder Kritik einstecken. Tatsächlich versteht es im aktuellen Arthousekino niemand so virtuos wie Swjaginzew, aus einer Haltung des inneren Rückzugs so weitläufige, in ihrer lyrischen Tristesse überwältigende Tableaus der Verzweiflung zu entwerfen. Im Gegensatz zu einem Poeten wie Tarkowski, dessen Bilder Echokammern erzeugen, in denen politische Diskurse nachhallen (was natürlich auch der politischen Situation in der Sowjetunion geschuldet war), neigt Swjaginzew dazu, seine Absicht etwas zu plakativ auszustellen.
Ein Nihilismus, der auf Analysen verzichtet
In dieser Hinsicht ist „Loveless“ sein konsequentester Film, obwohl er sich augenscheinlich weniger politisch gibt. Schon der Titel spottet jeder Beschreibung, Swjaginzew kultiviert einen Nihilismus, der kaum noch Perspektiven aufzeigt, auf Analysen verzichtet. Schenja und Boris führen hasserfüllte Parallelexistenzen, ohne zu bemerken, dass Aljosha buchstäblich aus der Welt verschwindet. Irgendwann kommt der Junge, der auch in der Schule keine Freunde hat, nicht nach Hause. Seine Mutter bemerkt sein Verschwinden erst nach Tagen. Vom phlegmatischen Boris, dessen einzige Sorge darin besteht, dass sein christlich-orthodoxer Chef nicht vom Scheitern der Ehe erfährt, kann sie keine Hilfe erwarten. Die Polizei empfiehlt einen privaten Suchdienst, der die Außenbezirke Moskaus systematisch durchkämmt. Ähnlich ungerührt beschreibt auch Swjaginzew die Gefühlswelten im Putin-Russland. Während Aljoshas Spuren allmählich verblassen – das Absperrband, das sich in den Ästen eines Baumes verfängt, die Vermisstenplakate an Laternenpfählen und Bushaltestellen –, erstarrt die Fahndung zur Routine.
Beim Besuch der Oma bricht die hässliche Familiengeschichte hervor, in einer pittoresk verfallenen Hotelruine der Sowjet-Ära findet der Suchtrupp Aljoshas Jacke. Schenja und Boris zeigen keine Anzeichen von Reue, regungslos finden sie sich mit dem Verschwinden des Jungen ab. Ein Termin im Leichenschauhaus endet mit Handgreiflichkeiten. Swjaginzew versucht gar nicht erst, seine düstere Grundstimmung herzuleiten, das Filmende fällt bloß zusammen mit der Krim-Besetzung. Wer es bis dahin nicht verstanden hat, erkennt spätestens hier die politische Tragweite von Swjaginzews Ehedrama. Subtil ist an „Loveless“ nichts. Wenn Putins Autokratie mehr solcher Filme hervorbringt, droht auch dem russischen Autorenkino eine neue Eiszeit.
In neun Berliner Kinos in OmU, Deutsche Fassung: Acud, B-Ware, Cinemaxx Potsdamer Platz, Delphi Lux