Anna Netrebko live in Berlin: Arien im Kuschelrock
Und es regnete nicht: Anna Netrebko und Yusif Eyvazov verzückten das Publikum in der Berliner Waldbühne.
Eine Diva, so heißt es, ist eine Person, die sich Fehler erlauben darf, welche ihr das Publikum glückselig verzeiht. Anna Netrebko, eine der wenigen Figuren des Klassikbetriebes, die weit über dessen Grenzen hinaus Millionen Zuhörende fasziniert, ohne dem Kerngeschäft dieses Betriebs verlorenzugehen, macht zwar keine Fehler, ist aber dennoch eine echte Diva. Und das Publikum in der nahezu ausverkauften Waldbühne ist – trotz bedrohlich am Himmel aufziehender Wolken – besonders glückselig. Darüber, wie sie herantänzelt in Glitzer und Pailletten, für die Stücke aus Verdis „Macbeth“ und „Aida“ erst in Schwarz, dann für Puccinis grausame chinesische Prinzessin Turandot in Scharlachrot (sehr dramatisch von der zentralen Treppe aus gesungen), schließlich in Himmelblau für „O mio babbino caro“ und die schmonzettigen letzten Nummern von de Curtis und Krutoy.
Wie sie ihre inzwischen sehr blonden und sehr langen Haare schwingt, die Augen rollt, das Kinn bedrohlich senkt, die Hände von sich stößt – großes Kino, das umstandslos an die Stummfilme Sergej Eisensteins denken lässt. Wie sie sich mit herzlichem Lachen neben dem Dirigenten Michelangelo Mazza aufstellt und sich nach jeder Nummer anmutig verbeugt: eine junge Ballerina nach ihrem Debüt.
Gleißend helle Höhen
Ihre Stimme setzt sie hochvirtuos ein, mit den charakteristisch gedeckten Farben in der Mittellage, gleißend hellen Höhen, einem oft geradezu triumphalen Ton. Den örtlichen Veranstalter Peter Schwenkow hat sie sogar dazu gebracht – und der hat sich dazu sicher auch gern bringen lassen –, den Tausenden im Waldbühnenrund, die sich für alle Wetterlagen gerüstet haben, die Geschichte seines hellbraunen Anzugs zu erzählen.
In diesem Anzug, erzählt Schwenkow, habe er 2006, als Anna Netrebko schon einmal in der Waldbühne auftrat und die Wetterlage ähnlich prekär war, einen „Regentanz“ aufgeführt, und genau das habe schon damals im Verbund mit dem heftigen Daumendrücken der Zuhörenden große Wirkung gezeitigt. Im Publikum wird freundlich getan und geraunt zu diesen Worten, zusätzlich vielleicht ein Stoßgebet gen Himmel gesandt, jedenfalls bleibt es trocken an diesem Abend, der zügig vorübergeht und an dem ungewöhnlich aufmerksam zugehört, sogar gebannt gelauscht wird im dunkelschönen Halbrund der Waldbühne.
Bariton Noel Bouley mit virilem Timbre
Und Anna Netrebko ist nicht allein gekommen. Das zunehmend präziser agierende Ungarische Staatsopernorchester unter Mazza ist an ihrer Seite, das die Ballettmusik aus „Aida“ und die „Carmen“-Ouvertüre wunderbar schütter spielt, außerdem der für das Repertoire vielleicht etwas zu hanseatisch klingende Neue Kammerchor Potsdam. Und dann tritt, neben einigen Sänger-Statisten, allen voran der Bariton Noel Bouley mit virilem Timbre, auch Anna Netrebkos Ehemann Yusif Eyvazov auf, der trotz seiner standhaft und klangstark gemeisterten Tenor-Solo-Super-Arien („Celeste Aida“, „Nessun dorma“, „E lucevan le stelle“) einige Zeit braucht, um seine Anspannung abzulegen und gelöst zu singen. „Dies war der emotionalste Tag meines Lebens“, wird er am Schluss ins Mikrofon hauchen, mitten im Programmblock der Nummern von Igor Krutoy, aus dem neuen Album der beiden, das „Romanza“ heißt. Wie sonst?
Die Eheleute schmachten einander an
Man darf sich dieses Album vorstellen wie eine Opernversion von Kuschel-Rock, zumindest klingen die Kostproben, als habe jemand einen Mittelwert aus Bocelli, Potts, Puccini und Morricone errechnet, den die Eheleute nun vortragen: einander anschmachtend, ein Tänzchen wagend – und war dies eben nicht sogar ein Kuss auf offener Bühne? Die Zuhörenden sind auf jeden Fall entzückt, „Gänsehaut pur“ sozusagen, das blaue Licht der Handys konkurriert mit dem Ambient-Light an der Bühne. Die großen Kameras, deren Aufnahmen das Podium flankieren, halten auch dann auf Anna Netrebko, wenn diese nur Rücken und Hinterkopf zeigt. Noch bei der „Brindisi“-Zugabe regnet es nicht, schön und volltönend klingt der Abend aus. Was will man mehr von diesem letzten Tag im Berliner August?