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Multitasking. Früher malochte der Arbeitnehmer – hier Charlie Chaplin in „Modern Times“, 1936 – ohne Freizeitausgleich. Heute trifft das eher auf Arbeitgeber zu, Topmanager und Politiker müssen Workaholics sein.
© Fotex

Platzecks Rücktritt: Arbeit und Leben: Das System ist die Frage

80 Wochenstunden für Spitzenpolitiker? Was der Rücktritt von Matthias Platzeck über Arbeit und Zeit verrät.

Auf seine freundlich schlaue Art hat Matthias Platzeck dem gewöhnlichen Bürger wohl einen Schock versetzt. Bis zum 70. Lebensjahr wöchentlich 40, 50 Stunden zu arbeiten? Kein Problem, hätten ihm die Ärzte gesagt, aber weiterzumachen „mit 80 Stunden die Woche“, das gehe für ihn nicht mehr. Also kündigt er seinen Rücktritt an als Brandenburgs Ministerpräsident.

Couchpotatoes müssten sich schämen

Ein inszenierter, kalkulierter Schock, nicht nur im Land mit dem diätschlanken roten Adler als Wappentier. Der normale deutsche Arbeitnehmer müsste ja gleich vom Sessel fallen oder sich als Couchpotato beschämt verkriechen, wenn er in den Feierabendnachrichten solche Arbeitszahlen hört. Stattdessen schenkt er dem Politiker, der offenbar auch nur ein Mensch im Übermenschlichen ist, sein leicht beschämtes Mitgefühl.

Politiker haben als Berufsstand kein gutes Image. Aber dass Politiker besonders faul seien und zuviel verdienten, das können nur wirklich Denkfaule oder Ahnungslose vermuten. Andererseits fragt man sich: 80 Stunden, muss das denn sein? Selbst Gott hat am siebten Tag geruht, was freilich die Kanzlerin nicht tut und viele andere auch nicht. Angela Merkel allerdings kommt mit drei bis vier Stunden Schlaf aus, und andere sind zwar Tuer, aber nicht so wichtig.

Seinen berühmten Vortrag, in dem das mit dem Bohren dicker Bretter steht, hat Max Weber „Politik als Beruf“ betitelt. Als Beruf, folglich Hauptarbeit, das war 1919 noch nicht so üblich. Und vier Jahrzehnte später ging der große Kanzler Konrad Adenauer noch am Abend der Bundestagswahl recht früh zu Bett und ließ sich am nächsten Morgen mit dem Ergebnis wecken: absolute Mehrheit. Anschließend das Frühstücksei.

Das sind Tempi passati. Der zivilisatorisch-technische Wandel gewährt zumindest in der so genannten Ersten Welt den Fabrikarbeitern kürzere Arbeitszeiten als den Fabrikherren oder ihren leitenden Managern. Ein gleichsam demokratischer Fortschritt, wenn es um das Glück der Mehrheit und die allzeit unvollkommene irdische Gerechtigkeit geht. Auch der Wahlbürger arbeitet gemeinhin weniger – oder sagen wir: kürzer – als der von ihm gewählte Politiker.

Globale Echtzeit bedeutet Allzeit

Daran haben neben wachsenden technischen Anforderungen und Möglichkeiten, neben der Beschleunigung und Parallelität von Prozessen und der vom Kommunalrecht bis zum Europa- und Völkerrecht gesteigerten Komplexität der politischen Materien ihren Anteil auch die Medien und die Medienöffentlichkeit. Multitasking. Multitalking. Umgekehrt gilt auch für die Informationsmittler, dass es in Zeiten von Online keinen echten Redaktionsschluss mehr gibt. Es ist, nicht nur in der Politik, eigentlich nie mehr Schluss. Und die globale Echtzeit bedeutet auch die Allzeit und Nichtzeit. Wir haben also gar keine Zeit mehr. Kein Maß und Limit. Außer den Tod.

Muss man erst sterben?

Muss man erst sterben, zur Unzeit, um wieder frei zu sein? Das ist, streng genommen, die Frage, vor der auch der angeschlagene Matthias Platzeck stand.

Nun gibt es auch heute noch andere Beispiele. Solche und solche. Wolfgang Schäuble macht den Stressjob eines Finanzministers querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Sein Tag beginnt um fünf Uhr morgens und dauert mindestens so lange wie zwei Tagesarbeiten eines gewöhnlichen Wählers. Aber das ist auch: selbstgewählt. Ist womöglich Trost und Flucht in die Arbeit.

Anders will es die rheinlandpfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer versuchen. Die 52-jährige Politikerin hat Multiple Sklerose und versucht, Krankheit und Amt mit dem Vorsatz eines starken, noch immer selbstbestimmten Lebens zu verbinden. Das freilich bedeutet mehr, als nur ein irgendwie verbessertes „Zeitmanagement“. Zumal für Politiker, die in repräsentativen Demokratien wiedergewählt werden möchten und auf die spätestens am Wochenende noch die Parteigremien warten und die lokalen Vertreter des eigenen Wahlkreises. Lauter Wissensdurstige und Kontakthungrige im weiten Mantel des Volkssouveräns, die auf Auskunft, Rechenschaft, Unterstützung oder auch nur ein gemeinsames Foto pochen.

Menschliche Gesichter brauchen menschlichere Politik

Mehr Freizeit und Freiheit für Politiker – ginge es nicht auch um etwas ganz Anderes, die meisten Leser würden hier nun mailen und maulen: Die machen das doch freiwillig, die kriegen das allemal zurück als Adrenalin der Macht, als Kitzel des eigenen Egos! Völlig richtig.

Trotzdem rührt es selbst den Politikverdrossensten, zeigt ein Politiker einmal sein „menschliches Gesicht“. Wenn etwa einer der bisher Immergegenwärtigen eine Auszeit nimmt, weil die Ehefrau Krebs hat oder eine neue Niere braucht. Das verdient allgemeines Mitgefühl. Freilich lässt sich an dieser Stelle auch fragen, ob eine Politik mit dem menschlichen Gesicht nicht überhaupt eine menschlichere Politik verlangt: um bei sich und für die Gesellschaft etwas neu zu bewegen.

Privates und Politik, Arbeit und Freizeit lassen sich, wo immer es über ein mechanisches Arbeiten und Leben hinausgeht, nicht auf Knopfdruck regulieren. Man kann sie in den Interdependenzen der heutigen Lebensverhältnisse ohnehin nicht mehr schematisch trennen. Wer ein Schnitzel aus der Massentierhaltung kauft (oder nicht), wer in der Innenstadt welches Verkehrsmittel wie nutzt, wer seine Kinder in die Kita gibt oder nicht, der handelt heute selbst im vermeintlich Privaten: auch politisch. Die Beispiele ließen sich beliebig variieren.

Mehr Zeit, mehr Freizeit nicht unbedingt im Sinne von Nichtstun, sondern von Freiheit – das ist tatsächlich ein Politikum. Ein radikales Politikum. Denn es hängt weniger ab von neuem Zeitmanagement als überhaupt von der Trennung von Zeit und Management. Es ist, ja doch, eine Systemfrage.

Recht auf Privatheit

Der böse wie der gute Kapitalismus hat bisher eines gemein: Er ist expansiv, zielt aufs Immermehr. Kein Wirtschaftszweig wächst inzwischen schneller als die IT-Branche, aber der Tag hat weiterhin nur 24 Stunden und die menschliche Energie ist wie jede andere Energie endlich. Wer seine Energie verlängern will und die eigene freie Zeit, dem hilft irgendwann nur noch eines. Abschalten, Stecker raus. Das schaffen bisher allerdings nur wenige.

Nietzsche sagte einmal, nur Dienstboten sind immer erreichbar. Wer heute wieder ein stückweit Frau oder Herr seiner selbst sein will, der muss tatsächlich sein Recht auf Privatheit, auf Alleinsein, auf Entspannung und Entschleunigung auch gegen die Ansprüche ständiger Kommunikation und Onlinebereitschaft verteidigen. Weniger ist dann mehr.

Botho Strauß, der Schriftsteller und intellektuelle Solitär, setzt in einem im jüngsten „Spiegel“ veröffentlichten Essay „Der Plurimi-Faktor“ auf den Einzelgänger. Auf den Idioten. „Idios“ bezeichnet im altgriechischen Ursprung das abgeschiedene Individuum in seiner Privatheit, meint so den „Unverbundenen“, wie Strauß sagt. Und er rühmt gegen den Fetisch der allgegenwärtigen Transparenz die „Kunst der Diskretion“ – dies wurde noch vor der NSA-Affäre geschrieben.

Das Gedankenklare mischt sich bei Strauß auch mit dem Hang zum Mystisch-Manierierten. Der Essay ist, das macht ihn im besten Sinne anstoßend und fragwürdig (der Fragen würdig), ein Plädoyer für die Elite gegen die in Strauß’ Augen verdemokratisierte Masse.

Kein großer Einzelner wird aber heute eine Kultur (und Politik) der reinen und zugleich sozialen Individualität mehr durchsetzen können. Auch das wäre eine mechanistische Vorstellung. Doch es gibt eine andere Vorhut. Es sind die vor allem Jüngeren, die eine neue Bedürfnislosigkeit auf noch immer hochzivilisatorischem Niveau anstreben. Die ohne Wachstum leben und nicht für jeden und alles rund um die Weltzeituhr digital und mental verfügbar sein wollen. Egal, wie lange sie hierfür arbeiten müssen.

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