Richard Sennett im HKW: Angst vor den Anderen
Die Stadt als privater und öffentlicher Raum: Der Soziologe Richard Sennett diskutiert im Haus der Kulturen der Welt.
Ach, das Leben in der Stadt: Das sei „kein Gefühl der Kameradschaft, eher ein Gefühl, dass etwas gemeinsam getan werden muss, um diesen Konflikt verträglich zu machen, ja um gemeinsam zu überleben.“ So beschrieb der Soziologe Richard Sennett 1970 in seinem Essay „The Uses of Disorder“ seine betont unharmonische Vision von Urbanität. Hintergrund seiner damaligen Überlegungen bildete das heimatliche Chicago, bis heute eine der am stärksten segregierten Städte der USA.
Beinahe 50 Jahre später greift Sennett – mittlerweile 75 und in London wohnhaft – einen ähnlichen Gedanken wieder auf. Vordergründig mochten zwar viele der Bücher des ehemaligen Professors der London School of Economics von den sich rasant verändernden Arbeitsbedingungen beim Eintritt ins post-industrielle Zeitalter handeln. Sein Bild des „flexiblen Menschen“ wurde zum Fixstern der Kritik am Neoliberalismus. Und doch bildete das Urbane dabei immer den Mittelpunkt von Sennetts Überlegungen. Sein neues Buch, „Die offene Stadt“, ist ein Plädoyer für eine offenere und, ja, auch flexiblere Stadt der Zukunft.
Pflicht zur politischen Verantwortung und Teilnahme
Sennett hat jetzt im Rahmen der von den Blättern für Deutsche und Internationale Politik jährlich organisierten Democracy Lecture im Haus der Kulturen der Welt gesprochen. Das Thema, „Der Kampf um die Stadt“, scheint denkbar gut gewählt, spiegelt sich darin doch die vielerorts wütende Auseinandersetzung um bezahlbaren Wohnraum, die gerade wieder ordentlich Auftrieb erhalten hat – in Form eines stadtweiten Aufrufs, Berliner Wohnungseigentümer zu enteignen.
Auch wenn es an diesem Abend etwas knapp kommt: Für Sennett sind solche Debatten die direkte Folge eines Widerspruchs, den unser Denken über Städte seit jeher begleitet hat. Da sei zum einen das Verständnis der Stadt als physischer Raum, den das Französische mit ville bezeichne. Zum anderen gebe es aber eine spezielle urbane Mentalität, die in älteren Bedeutungen des Wortes cité zum Tragen komme. Jean-Jacques Rousseau prägte im 16. Jahrhundert den Begriff des „Citoyen“, um die aus dem Stadtleben erwachsende Pflicht zur politischen Verantwortung und Teilnahme zu beschreiben.
Ein Mehr an Reibung hätte gut getan
Heute gestalte sich, so Sennett, das Verhältnis so: Hier die gemütliche Vorstellung von Wohnen – eigenes Mobiliar und möglichst gut versiegelte vier Wände. Dort die sogenannte Öffentlichkeit: porös, konfliktbeladen, meist chaotisch. Während sich die Stadtplanung des letzten Jahrhunderts fast vollständig auf die Herstellung und Befriedigung bestimmter Bedürfnisse konzentriert habe, würde der undefinierte, offene Raum zusehends als Bedrohung wahrgenommen – auch von der Bevölkerung. In dieser Gegenüberstellung sieht Sennett ein fundamentales Ungleichgewicht. Denn Urbanität bedeute immer auch die Begegnung mit Andersheit, es bedeute zu lernen, mit Menschen zu leben, die man eigentlich nicht mag. Sennett berichtet von seinen Erfahrungen in Shanghai, Delhi und Caracas. Und davon, wie in allen Entwürfen, vom sozialen Wohnungsbau bis zur durchdigitalisierten Smart City, ein geschlossenes Stadtbild dominiere. Es seien in physische Form gegossene Machtverhältnisse, möglichst nutzerfreundlich, aber ohne Raum für Stimulation.
Ein Mehr an Reibung hätte auch der anschließenden Podiumsdiskussion gut getan, bei der Sennett mit Francesca Bria, Stadträtin für Digitales in Barcelona, und Sozialwissenschaftler Andrej Holm vor allem Gemeinsamkeiten entdeckte. Nur einmal moniert Holm, der 2016/17 kurzzeitig Berliner Staatssekretär für Stadtentwicklung war, dass Sennetts Sichtweise nur bedingt helfe, die Wohnsituation vieler Berlinerinnen und Berliner nachhaltig zu verbessern. Obwohl der Koalitionsvertrag des Senats die richtigen Signale gegeben habe, sei man in der Stadt – in der es nur einen Baustadtrat gebe, der sich offen für Enteignungen ausspreche – noch weit davon entfernt, von Zukunftsvisionen eines gemeinsamen Lebens zu sprechen.
Frederic Jage-Bowler
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