Comicszene: Angoulêmer Geschichten
Das größte französische Comicfestival zeigt sich in seinem 38. Jahr in jeder Hinsicht resistent, der erfolgreichste unabhängige Verlag wird bestreikt, und am Ende gewinnen ein Italiener und ein Amerikaner.
Das 38. Festival international de la Bande Dessinée in Angoulême, das am vergangenen Sonntag endete, hatte sich im Vorfeld in Superlativen überschlagen: 215 Aussteller, 7000 Branchenangestellte, 1580 Autoren, 32 Ausstellungen, 152 Zeichner-Gespräche, Workshops und Konferenzen, 72 Shows und Projektionen ... Was wie Verheißung klingt, war in Wahrheit der Versuch auf engstem Raum die ganze Vielfalt des Mediums Comic zeigen zu wollen. Die ganze Vielfalt? Nein, ein global gesehen kleiner Kulturkreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bande Dessinée (den Comic aus Frankreich) weiterhin als das Maß aller Dinge zu sehen und internationale Strömungen weitgehend zu vernachlässigen.
Das grenzt schon fast an Ignoranz, bedenkt man, dass der Manga weiterhin maßgeblich am Gesamtumsatz der Comicverkäufe in Frankreich beteiligt ist. Auf dem Festival zeigte man hingegen unverblümt, was man vom Manga hält, der im wahrsten Sinne des Wortes nur ein Nischendasein in einem der großen Zelte führen darf. Im Ausstellungsprogramm war dafür auch kein Platz. Zwar gab es einige wenige Ausstellungen aus anderen Ländern, warum aber eine andere große Comictradition wie die amerikanische gerade mal mit einer - und dazu noch inhaltlich überflüssigen - Peanuts-Ausstellung bedacht wird, bleibt rätselhaft. Mehr denn je war es ein Festival für die Franzosen, das „international“ im Titel könnte bedenkenlos gestrichen werden. Die internationalen Treffen („recontres international“) im Programm, bei denen vor wenigen Jahren noch mit Headsets simultan gedolmetscht wurde, zeigen sich mittlerweile wenig multilingual. Sparen hieß die Devise und um ein großes Publikum zu finden, musste die Breite stimmen, Details kann man sich nicht mehr leisten.
Die Präsidentschaft des Monsieur Baru
Aber trotz der leichten Irritation über die fehlende Umsichtigkeit der Organisatoren hat Angoulême viele Gesichter, und es ist wie jedes Jahr ein großes Vergnügen, den Geschichten des Comicfestivals zu lauschen und das Dargebotene zu bestaunen. Es strahlte als heller Stern über dem Festival die Präsidentschaft von Baru, der die Ausstellungen mit einer erinnerungswürdigen Orginalseiten-Tour-de-Force veredelte. Mit dem Comicautor Baru hatte man den richtigen Präsidenten zur richtigen Zeit, seine realistischen aber warmherzigen Comic-Sozialdramen bilden einen Background für das Jahr in dem sich jeder Verlag mit der Krise konfrontiert sah, aber niemand davon sprach. Also gut, mit Stimmung durch die Krise, so lassen sich auch die Comics des Präsidenten Baru beschreiben, in dessen Milieustudien die Figuren immer Haltung bewahren, nie sentimental wirken und denen auch trotz widriger Umstände immer Hoffnung winkt.
Die imposante Baru-Ausstellung überzeugte durch schiere Masse und dem Blick auf die unangenehmen Dinge, etwa dem spröden Leben aus der Arbeiterklasse oder den gewaltsamen Aufständen in den Banlieus, die mit kurzen Filmen ein passendes Rahmenprogramm zur Ausstellung gaben. Mehr als 500 (!) Originale waren zu sehen, davon 320 aus dem zeitlos-exzellenten Manga-Hybrid „Autoroute de Soleil“, daneben hochgezogene Skizzen, und fast wie Nostalgie: Rock'n' Roll. Eine fehlende Abgrenzung der einzelnen Werke präsentiert das Werk von Baru als kohärentes Ganzes - als das es auch gelten muss. Da bedauert man als deutscher Leser, dass in Deutschland die Werke Barus nurmehr zögerlich veröffentlicht werden. Wie gut würden diese auch der deutschen Comic-Landschaft zu Gesicht stehen.
Ansonsten war im Ausstellungsprogramm viel Durchschnitt zu finden, wie die didaktische Parodien-Ausstellung im Museum, die zwar aufzuzeigen wusste, wie Parodien im Comic funktionieren, die aber wie Merchandising zum neuen Buch von Thierry Groensteen wirkte. Es gab dort allerdings einige sehr schöne Originale zu sehen, klassisches vom großartigen und hierzulande vergessenen Gotlib, oder modernes, von Robert Sikoryak, der in „Good ol' Gregor Brown“ die Peanuts mit Kafka mischt, oder mit „Action Camus“ Superman-Cover mit dem Werk des französischen Existentialisten paart. Aber, auch das gibt es als Buch, im lustigen und empfehlenswerten „Masterpiece Comics“. Durch andere Ausstellungen schlendert man mehr oder minder interessiert durch, Nachhaltigkeit entsteht aber höchstens durch schöne Kataloge, etwa das großformatige Faltblatt aus der Hongkong-Ausstellung, die zwar inhaltlich interessant war, aber die mit ihren großen Übersee-Rollkoffern, aus denen Schautafeln und Schubladen ausgezogen werden konnten, etwas flüchtig wirkte. Dies machte deutlich, dass es sich um eine „gekaufte“ und nicht eigens konzipierte Ausstellung handelt.
Wenn Indie-Verlage streiken
Dass ein Blick über die eigenen Grenzen hinaus fehlt, hängt in Frankreich womöglich damit zusammen, dass man einfach nur viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, denn natürlich hatte auch das Festival in diesem Jahr unter fehlenden Mitteln zu leiden. Die Üppigkeit, mit der noch vor einigen Jahren Ausstellungs- und Rahmenprogramm bedacht waren, hatte nachgelassen. Da das Festival aber in erster Linie eine Messe ist, herrschte in den riesigen Verlagszelten Hochbetrieb und die Titelflut ist gigantisch (im letzten Jahr erschienen 5165 Titel), auch hier ist von Krise nicht die Rede obwohl von Umsatzeinbußen von bis zu 10 Prozent zu hören ist. Was Wunder, es fehlen Überraschungen bei den französischen Neuerscheinungen und man ist im Mainstream zu einer erstarrten, epigonalen Comic-Kultur geworden, die sich selbst wiederholt. Anfang der 1990er-Jahre entwickelte sich genau daraus das Verlagskollektiv L'Association, die gegen bestehende Stereotypen vorgingen und den Comic in Frankreich veränderten.
Auch bei diesem Festival sorgten die ehemals jungen Wilden für Gesprächsstoff, jedoch in anderer Art und Weise. Das zentrale Thema war der Streik der Mitarbeiter der L'Association, die seit dem 10. Januar im Arbeitskampf sind und diesen auf dem Festival fortsetzten. Man traf einen leeren Stand mit herumstehenden Mitarbeitern an. Anstelle der Comics war ein Flugblatt ausgelegt, welches die Situation erklärte: Der wohl bekannteste Independent-Verlag Frankreichs hatte angekündigt mehrere Mitarbeiter zu entlassen, woraufhin die restliche Belegschaft aufgrund der unsicheren Lage erst einmal in Streik trat und Gespräche mit J.-C. Menu forderte, einem der letzten Gründungsmitglieder. Populäre Autoren wie David B. oder Lewis Trondheim haben sich schon vor Jahren im Streit vom Verlag abgewandt. Menu wird ein autokratischer Führungsstil vorgeworfen und nach Auskunft der Mitarbeiter besteht nach Prüfung der Bilanzen kein Grund für die Entlassungen. Die Spekulationen darüber wogten in alle Richtungen und bis Samstagmittag gab es keinen Verkauf von Büchern, dann haben einige Autoren begonnen ihre Bücher zu signieren. Die Zukunft wird zeigen, wie es weitergeht, Gespräche sind angekündigt, Ausgang aber weiterhin offen.
Die Belgier schlagen zurück
So hatte also der Verlag, der lange Zeit für Innovation stand, eingepackt, ein Bild, das symbolträchtiger nicht sein konnte. Da denkt man wehmütig zurück an die Unbekümmertheit, als die Bande Dessinée noch gleichzusetzen war mit dem Begriff „Franko-belgischer Comic“, und richtungsweisende Impulse aus Belgien kamen. Belgien zeigt sich aber nach der Trennung endlich gut erholt und bietet einen großen Stand mit flämischen Comics und eine sehenswerte Ausstellung mit wallonischen Comics. An beiden Enden macht Belgien wieder auf sich aufmerksam, nicht nur der zu Recht prämierte Brecht Evens („Am falschen Ort“) signierte vor Ort, auch die Bücher seines Kollegen Olivier Schrauwen wurden wie kleine Trophäen gehandelt. Sein zweites Buch wird dieses Jahr bei Reprodukt erscheinen und es war eines der wenigen Bücher, über die man sprach.
Daneben war es Dominique Goblet, über die viel gesprochen wurde, die in einer eigenen Ausstellung ihre kunstfertigen Bilderzählungen zeigte, die aber auch Teil der Ausstellung „Génération spontanée“ war, wo sich junge wallonische Künstler vorstellten. Wer Traditionen erwartet, muss enttäuscht werden, denn mit ihrer Mischung aus Comic, bildender Kunst und Illustration sind sie dabei nicht weit von dem Selbstverständnis entfernt, das sich auch bei deutschen Hochschul-Comics herauskristallisiert. Wer aber wirklich Neues sehen wollte, der kam um diese wirklich beeindruckende Ausstellung nicht umhin, in der verschiedene Künstlergruppen den Comic in unterschiedliche Richtungen ausloten.
Welcome, Mr. President
Aber als wolle man die Versäumnisse des Festivalprogramms wieder wettmachen, lassen die Preise keine Internationalität vermissen, ganz im Gegenteil. Die Kategorien werden bestimmt von zwei Italienern (Manuele Fior und Micheluzzi), zwei Amerikanern (D. Mazzucchelli und Joe Sacco), einer Österreicherin aus Berlin (Ulli Lust), einem Belgier (Brecht Evens) und einem Japaner (Naoki Urasawa). Und selbst bei den Kindercomics ist der Schweizer Zep federführend. Was wie ein Denkzettel an die heimische Comic-Produktion wirkt, drückt einfach nur einen realistischen Tatbestand aus: Die Franzosen müssen aufpassen, dass sie nicht den Anschluss verlieren, die Bande Dessinée ist kein Selbstläufer. Die Jury hat mit ihren Entscheidungen hingegen eine ansprechende Auswahl getroffen. Im zweiten Jahr hintereinander ein Preis für einen deutschsprachigen Comic, das löste gar leichte Begeisterungsstürme aus und lässt zuversichtlich auf die kommenden Jahre blicken.
In Angoulême aber haben die ehemaligen Präsidenten, die die Jury bilden, mit der längst überfälligen Würdigung von Art Spiegelman (erst der dritte amerikanische Zeichner nach Will Eisner und Robert Crumb, der den Grand Prix de la Ville d'Angoulême erhält) zudem eine kleine Revolution ausgerufen, die heute schon neugierig auf das nächste Jahr macht. Denn dann wird dem amtierenden Präsidenten traditionsgemäß eine Ausstellung gewidmet. Spiegelman lässt sich in seinem Werk von den Ursprüngen des amerikanischen Comics in den Zeitungen inspirieren und mit der steigenden Verfügbarkeit von Klassikern könnten auch immer mehr junge Zeichner davon profitieren. In Nordamerika findet ja unlängst auch eine Auseinandersetzung mit dem europäischen Ursprung der Ligne Claire statt, so dass der spanische Comic-Zeichner Max in diesem Zusammenhang von einer „Renaissance“ spricht. Inwieweit sich Frankreich an einer solchen beteiligt, wird ein spannendes Thema in den nächsten Jahren sein, man darf auf die Entwicklung äußerst gespannt sein. Es war ein überaus interessanter Jahrgang 2011 in Angoulême.
Die Gewinner im Überblick
Die Preise in Angoulême zeigen, dass die deutschen Comic-Verlage auf der Höhe der Zeit sind, denn ein Großteil liegt schon vor oder ist angekündigt. Die Gewinner sind:
Fauve d'or du meilleur album: Cinq mille kilomètres par seconde (Atrabile), von Manuele Fior (dt. Ausgabe: 5.000 Kilometer in der Sekunde, avant-verlag, Frühjahr 2011)
Prix spécial du jury: Asterios Polyp (Casterman), von David Mazzucchelli (dt. Ausgabe Eichborn, August 2011)
Prix de la série: Il était une fois en France, tome 4 : Aux armes, citoyens ! (Glénat), von Fabien Nury (Autor) und Sylvain Vallée (Zeichnungen) (dt. Ausgabe: Es war einmal in Frankreich, Zack-Edition)
Prix révélation: Trop n'est pas assez (Cà et Là), par Ulli Lust (dt. Originalausgabe: Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens, avant-verlag) und La Parenthèse (Delcourt), par Elodie Durand
Prix Regards sur le monde: Gaza 1956 (Futuropolis), von Joe Sacco
Prix de l'audace: Les Noceurs (Actes Sud BD), von Brecht Evens (dt. Ausgabe: Am falschen Ort, Reprodukt)
Prix Intergénérations: Pluto (Kana), von Naoki Urasawa und Osamu Tezuka (dt. Ausgabe: Carlsen Manga)
Prix du Patrimoine: Bab El Mandeb (Mosquito), von Attilio Micheluzzi (erschien 1990 beim Carlsen-Verlag)
Prix de la bande dessinée alternative: L'arbitraire, volume 4
Prix Jeunesse: Les Chronokids, tome 3 (Glénat), par Zep, Stan & Vince
Prix du public: Le bleu est une couleur chaude (Glénat), par Julie Maroh
Grand Prix de la Ville d'Angoulême: Art Spiegelman
In einem demnächst erscheinenden zweiten Teil widmet sich der Autor der Wahrnehmung deutscher Verlage und Autoren in Angoulême.
Klaus Schikowski lebt in Köln als freier Autor. Er veröffentlicht regelmäßig in der Fachzeitschrift „Comixene“ und vielen anderen Publikationen Artikel über Comics. Sein Buch „Die großen Künstler des Comics“ (Edel-Verlag, 256 Seiten, Hardcover, mit 130 Illustrationen, 29,95 Euro) gibt einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Autoren und Zeichner der Comicgeschichte.
Klaus Schikowski
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