Scheidender Staatsoper-Intendant Jürgen Flimm: „Angefangen habe ich im Kasperletheater“
Jürgen Flimm verlässt die Berliner Staatsoper, der 31. März war sein letzter Arbeitstag. Ein Gespräch über Baustellen, Lieblingsplätze und Daniel Barenboim.
Herr Flimm, in die Geschichte der Berliner Staatsoper werden Sie als Baustellen-Intendant eingehen. Ist das nicht frustrierend? Jetzt, wo Unter den Linden alles saniert ist und der künstlerische Betrieb langsam wieder ins Laufen kommt, haben Sie am 31. März Ihren letzten Arbeitstag.
Es war eine schöne Zeit. Ich bin ja kein Freund sozialistischer Putten. Wir hatten im Schillertheater viel Freiheit, die wir genutzt haben. Wir konnten herumexperimentieren, gerade auch in der Werkstatt, die haben wir uns gekrallt und wirklich tolle Sachen gemacht, übrigens ohne einen zusätzlichen Subventions-Cent. Lauter zeitgenössische Musik, auch bei den Kinderstücken.
Gleich der erste offizielle Tag im Schillertheater im September 2010 drohte im Chaos zu versinken. Beim Tag der offenen Tür stürmten die Leute das Haus, der Saal war bald überfüllt, aber immer mehr Menschen drängten nach, die Stimmung war extrem aufgeheizt.
Das war in der Tat ein lustiger Moment. Da muss man gelassen bleiben. Ich habe chorisch mit dem Publikum den Satz „Ach, neige, du Schmerzensreiche“ geprobt. Und anschließend gab es noch eine Applaus-Schule. Das hat gut funktioniert.
Sie hatten zunächst befürchtet, dass Ihr Stammpublikum nicht nach Charlottenburg kommen würde.
Ja, das erste Jahr war schwierig. Dann wurden jene, die uns nicht aus Mitte folgen wollten, aufgewogen durch Besucher aus dem Westen. So hat sich das Publikum gemischt und wir haben zusätzlich neue Freunde gewonnen. Die Charlottenburger sind jetzt übrigens begeistert mitgewandert zurück in die Lindenoper.
Den Mann, der Sie nach Berlin lockt, der damalige Kulturstaatssekretär André Schmitz, kannten Sie schon sehr lange.
In meinem ersten Jahr als Intendant des Hamburger Thalia Theaters, 1985, wurde mir ein junger, rotblonder Typ vorgestellt, der eine seiner Stationen als juristischer Referendar in unserer Verwaltung machte. Das hat uns später sehr amüsiert. Dass André Schmitz die Theaterbetriebe aus dem Effeff kannte, machte ihn zu einem außergewöhnlichen Staatssekretär. Jeder seiner Nachfolger hat da große Schuhe anzuziehen. Mit Klaus Lederer geht das allerdings sehr gut.
Sie kamen aus Salzburg, wo Sie als Intendant der Festspiele den renommiertesten Job im Kulturbetrieb innehatten. Haben Sie den Schritt nach Berlin nie bereut?
Es war eine der besten Entscheidungen meines gesamten Lebens! Ich habe mich hier von Anfang an sauwohl gefühlt ...
... und offensichtlich mit Ihrer positiven Einstellung auch andere angesteckt. Die chronischen Querelen innerhalb der Opernstiftung hörten plötzlich auf.
Keine Kräche in der Öffentlichkeit, haben wir uns geschworen. Jede Stunde, die man mit internen Streitereien verbringt, ist verlorene Zeit, in der man sich nicht um sein Haus kümmern kann. Wir hatten aber auch ein Riesenglück mit Barrie Kosky von der Komischen Oper, wir haben denselben Spaß am alltäglichen Slapstick. Dietmar Schwarz von der Deutschen Oper ist ein bissl seriöser, aber auch mit ihm bin ich sehr befreundet. Wir waren wie die drei Musketiere.
Sie sind gelernter Schauspielregisseur. Wie kamen Sie zur Oper?
Das hat sehr viele Gründe. Es war die Neue Musik. Johannes Fritsch, einer meiner Freunde am Gymnasium im Köln, studierte beim Komponisten Bernd Alois Zimmermann. Durch ihn kam ich in die Musikerkreise, habe 1965 die Uraufführung der „Soldaten“ erlebt und Nonos „Intolleranza“. Später habe ich Karlheinz Stockhausen kennengelernt und auch bei der Fluxusbewegung mitgemacht. 1978 inszenierte ich dann an der Frankfurter Oper „Al gran sole“ von Luigi Nono und schloss Freundschaft mit ihm. Erst später kam die Alte Musik, dann die lange Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt, von dem ich so viel gelernt und dem ich viel zu verdanken habe. Und zuletzt erst die Oper des 19. Jahrhunderts. Und Daniel Barenboim.
Mit Sängern zu proben unterscheidet sich stark von der Schauspielarbeit, oder?
Nein. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten total geändert. Diese Standbein-Spielbein-Interpreten gibt es nicht mehr. Sie können heute vieles machen! Eine der ersten Erfahrungen war vor Jahren schon Cecilia Bartoli. Als wir „L’anima del filosofo“ machten, Haydns Version von „Orpheus und Eurydike“, hatte ich die Idee, dass Cecilia nach dem Schlangenbiss eine Schräge herunterrollt, Stück für Stück, und dabei singt, bis sie unten ankommt und stirbt. „Giorgio“, hat sie gesagt, „Giorgio, we are the new generation, we can do as you want it!“
Sie sind jetzt 50 Jahre im Geschäft. Macht der Job noch Spaß?
Na, hören Sie mal! Ich war immer dankbar für das deutsche Theatersystem. Es ist ein tolles Geschenk, dass dir als Intendant ein Haus auf eine bestimmte Zeit geliehen wird. Außerdem darf ich noch die Leute um mich herum versammeln, die ich mag. Das Theater ist ein Ort, hätten wir früher gesagt, da kann man sich repressionsfrei einrichten. Mein Lieblingsplatz ist übrigens das Inspizientenpult gleich neben dem Bühnenportal. Da stelle ich mich abends hin, schaue mir ein wenig die Vorstellung an und bekomme sofort gut Laune. Angefangen habe ich ja als Kasperletheaterdirektor. Als Kind habe ich mir das Theater aufs Fahrrad geschnallt, bin zu Kindergeburtstagen gefahren und habe dort gespielt.
Zunächst sollte Ihr Vertrag in Berlin bis 2015 laufen. Gab es in den quälenden Jahren der Sanierung keinen Moment, an dem Sie dachten: Ich schmeiße hin?
Den gab es nie. Ich hatte mit André Schmitz verabredet, dass ich nach dem Rückumzug noch zwei Spielzeiten dableibe, bis alles läuft. Daran hätte ich mich gehalten. Herr Renner nicht.
Neu war für Sie, dass an der Staatsoper erstmals einen Generalmusikdirektor an Ihrer Seite stand. Bis dahin waren Sie immer alleinverantwortlich in den Theater wie auch bei den Festivals, die Sie leiteten.
Daniel Barenboim ist ein Glücksfall. Mit einem solch großen Künstler und Menschen eng zusammenzukommen, ist eine ganz besondere Erfahrung. Wir haben uns immer vertragen.
Bei Ihrer Amtseinführung haben Sie Barenboim „eine ganz große Wildkatze“ genannt. Hat er nie die Krallen ausgefahren?
Das musste er nicht. Er konnte sich stets auf mich verlassen. Er wusste, dass ich mich vor oder hinter ihn stelle, immer dort, wo er mich gerade brauchte. Es war übrigens Elena Bashkirova, seine großartige Frau, die irgendwann zu uns gesagt hat: Jetzt hört mal auf, euch über die Verzögerungen bei der Sanierung zu ärgern! Davon geht es nicht schneller. Okay, wir sind dann ganz cool geblieben.
Als es im vergangenen Herbst endlich zur Eröffnung kam, gerieten Sie dann aber doch in die Bredouille. Weil Sie eigentlich mit einer Uraufführung starten wollten.
Nein, zuerst war geplant, mit Jörg Widmanns „Babylon“ zu eröffnen. Ich hatte schon eine neue Fassung gemacht. Dann wollten wir Wolfgang Rihms neue Oper „Saul“ nach Botho Strauß als Uraufführung bringen. Aber Rihm wurde sehr krank, er konnte nicht weiter arbeiten. Wir haben dann ganze Bibliotheken durchgeknetet. Bis die „Faust“-Szenen von Schumann zur Debatte standen. Als es endlich losging, knirschte es gewaltig im nagelneuen technischen Gebälk. Am 3. Oktober war nicht zu rütteln. Es war hart, die Premiere war der erste Durchlauf. Als wir dann weiter daran arbeiteten, wurde es großartig und ein Riesenerfolg. Nun macht Matthias Schulz in seiner ersten Saison „Babylon“, „Violetter Schnee“ von Beat Furrer – und Wolfgang Rihm hat sich wieder an den „Saul“ gesetzt.
In der kommenden Saison wird es nur noch eine einzige Flimm-Inszenierung Unter den Linden geben, nämlich „Die Hochzeit des Figaro“. Schmerzt Sie das?
Ich bedaure das, aber das müssen Sie mit Matthias Schulz besprechen. Es war eigentlich eine Neuinszenierung von mir für 2018/19 geplant, nämlich der „Sommernachtstraum“ mit der Musik von Mendelssohn. Ich habe ihm geraten, das am Ende der Spielzeit zu machen, damit ich als Ex-Intendant nicht gleich wieder durchs Haus laufe. Irgendwann aber wurde es ihm zu eng in der Planung, und der „Sommernachtstraum“ plumpste herunter wie ein Paket von der Ladefläche eines Transporters.
Haben Sie Pläne für die Zukunft?
Im Sommer mache ich in Innsbruck eine Mercadante-Oper, mit St. Petersburg ist ein „Falstaff“ in Planung. Ich bleibe hier wohnen, werde mich aber auch mal länger in mein Haus auf dem Land in der Nähe von Hamburg zurückziehen, um gegenüber dem Verlag Kiepenheuer & Witsch meinen Vertrag zu erfüllen, ein Buch über mein Leben zu schreiben, und zu unterrichten. Darauf freue ich mich.
Im Herbst 2010 trat er sein Amt als Intendant der Berliner Staatsoper an, das mit dem 31. März endet. Er führte die Staatsoper durch die Übergangszeit im Schillertheater. Bereits Ende April ist Jürgen Flimm dann schon wieder in der Staatsoper präsent – als Sprecher in Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“, die am 22. und 29.4. sowie 5.5. im Apollosaal aufgeführt wird. Am 7. Juli wird dann seine Inszenierung von Salvatore Sciarrinos Musiktheater „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ Unter den Linden herauskommen.
Jürgen Flimm, 1941 in Gießen geboren, gehört zum Theaterurgestein der Bundesrepublik. Er war Intendant am Kölner Schauspiel und am Thalia Theater Hamburg. Später leitete er die Ruhr-Triennale. Flimm ist berühmt für seinen Humor und seine gute Laune – sehr untypisch für die Branche.