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Überall Tentakel. Andreas Geschichte steckt voller Anspielungen auf den Cthulhu-Mythos von H. P. Lovecraft.
© Schreiber & Leser

"Cromwell Stone" von Andreas: An den Grenzen der Realität

Tentakel, Träume und das Meer: Die Geschichten von "Cromwell Stone" erzählen Gothic Horror aus ungewöhnlichen Blickwinkeln.

Cromwell Stone ist ein Überlebender. Ein Überlebender in doppelter Hinsicht: Zunächst wurde er bei einer Meuterei in einem Beiboot auf dem Atlantik ausgesetzt und zusammen mit zwölf weiteren Männern gerettet. Und nun ist diese Schicksalsgemeinschaft gerade noch drei Mann stark. Jedes Jahr treffen sie sich, um ihrer Rettung zu gedenken, jedes Jahr fehlt einer mehr. Cromwell Stone macht sich schließlich auf die Spur von Jack Farley, des zuletzt Verschollenen, mit dem er bis kurz zuvor noch im Briefverkehr stand.

In Farleys Heimatort muss Cromwell Stone feststellen, dass niemand ihn zu kennen scheint, und dass sein Haus angeblich schon seit langem leer steht. Stone mietet sich selbst dort ein und wird schnell in einen Sog von rätselhaften Ereignissen gezogen: Da sind ein stummer Junge am Bahnhof und ein Zimmer, das er nicht betreten darf. Stone findet das Skelett eines rätselhaften Tieres im Kaminfeuer, die Wände seines Hauses scheinen sich zu verschieben und mehrfach erwacht er aus verstörenden Träumen am Strand.

Der erste Band wurde bereits 1986 gezeichnet

Gezeichnet wurde dieses düstere Stück Gothic Horror schon 1986 von Andreas Martens – kurz:  Andreas, denn das ist der Künstlername des 1951 in Weißenfels geborenen Zeichners, der nach einem Kunststudium in Düsseldorf und Brüssel vor über 30 Jahren nach Frankreich übersiedelte und dort als Comickünstler wesentlich bekannter ist als hier. Der Verlag Schreiber & Leser hat nun in einem Sammelband die insgesamt drei Geschichten rund um Cromwell Stone veröffentlicht. Teil zwei und drei entstanden 1994 und 2004.

Erst im Herbst hatte Schreiber + Leser ähnliches mit dem Achtziger-Jahre-Zyklus um Mister X vollbracht, einem vielschichtigen Identitätenspiel rund um einen Mad Scientist mit Sonnenbrille und Glatze. Beiden Werken gemein ist ihr Gefühl für die beklemmende Wirkung von Licht und Schatten, von Perspektive und Raum und - daraus resultierend - ihre umwerfende Atmosphäre. Wird diese in Mister X durch die kühl-expressiven Ansichten einer dystopischen Pop-Art-Metropolis erzeugt, sind es bei Andreas rein schwarz-weiße Zeichnungen im Stil alter Holzstiche.

Feine Schraffuren schaffen hypnotische Bilderwelten

Mit unzähligen feinsten Schraffuren schafft er hypnotische Bilderwelten von höchstem Detailreichtum. Im zweiten Band ist die Strichstärke noch ein wenig filigraner, im dritten streut Andreas Bleistiftzeichnungen ein, die dank ihrer Graustufen und dem Verzicht auf harte Konturen beinahe sanft wirken.

Zersplittert. Andreas experimentiert ausgiebig mit ungewöhnlichen Bildformaten.
Zersplittert. Andreas experimentiert ausgiebig mit ungewöhnlichen Bildformaten.
© Schreiber & Leser

Teil zwei ist dabei einige Jahrzehnte später als der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts spielende erste Teil angesiedelt. Er erzählt abermals von einer Atlantiküberfahrt samt blutiger Verschwörung. Als zweite Ebene werden hier die Tagebuchaufzeichnungen Cromwell Stones eingeflochten, die zum einen die zeitliche Lücke schließen und zum anderen die Vorgeschichte des ersten Bandes erzählen. Hier nimmt das Szenario epische Ausmaße an, denn es offenbart sich, dass ein übermächtiges Wesen aus den Anfängen des Universums auf der Erde gestrandet ist. Dieser mythologische Überbau erinnert stark an die Cthulhu-Geschichten des Horrorliteraten H. P. Lovecraft, den Andreas schon auf der allerersten Seite zitiert hatte.

Der dritte Band schließlich handelt von der jungen Marlene Parthington, auch sie eine Überlebende - eines Flugzeugabsturzes über Schottland. In ihrem Gepäck trägt sie das Testament des Cromwell Stone. Sie findet bei einem älteren Ehepaar Unterschlupf und zwischen den Erinnerungen an dessen verstorbene Tochter, einem Begräbnis und tagaktiven Eulenschwärmen wird nach und nach Parthingtons Vergangenheit enthüllt. Die Trilogie endet auf einem verlassenen Turm in den Highlands, in einer doch arg verschwurbelten Symbolhaftigkeit.

Seitenarchitektur und Bildaufbau sind schlicht atemberaubend

Doch das Entscheidende an Cromwell Stone ist ja auch gar nicht die Geschichte. Es sind die Zeichnungen! Seitenarchitektur und Bildaufbau sind in ihrer Vielfalt schlichtweg atemberaubend. Andreas bedient sich allen nur erdenklichen Perspektiven, er kombiniert Detailaufnahmen von mitunter abstrakter Qualität mit schwindelerregenden Fluchten und Draufsichten. Er wechselt kleinteilige Arrangements ab mit Supertotalen, manche Panels bleiben auch einfach schwarz.

Geradezu obsessiv ist der Einsatz von ungewöhnlichen Bildformaten: Wir sehen superflache Panoramapanels, die locker sechsmal so breit wie hoch sind, zum Einsatz und als Gegenstück dazu extreme Vertikalen, bis zu acht Stück davon setzt Andreas nebeneinander. Manche Seiten zersplittern in Drei-, Vier- und Fünfecke, es gibt Parallelogramme, die sich über die gesamte Blattbreite ziehen, Bild-im-Bild-Konstruktionen und auch kleine Gimmicks: Als Cromwell Stone ein Exponat aus seiner Wanduhrensammlung aufrichten will, ist das erste Panel wie im 45-Grad-Winkel gekippt, das zweite steht fast senkrecht und das letzte, in dem Stone die Uhr wieder auf den Boden legen muss, ist komplett horizontal ausgerichtet.

So entstehen gewaltige Seiten, die man sich immer und immer wieder anschauen möchte. Was unter alldem hingegen leidet ist die Übersichtlichkeit. Doch sie leidet bewusst, denn die fragmentierten Seitenlayouts und krassen Perspektivwechsel tragen ihren Teil zu der soghaften und so fantastisch beklemmenden Stimmung von Cromwell Stone bei. Einem Comic, in dem die Grenzen der Realität gedehnt und gebrochen werden und wo selten klar ist, wem und was man noch trauen kann.

Schwarzer Turm auf A4. Das Cover des besprochenen Bandes, der Geschichten aus den Jahren 1986, 1994 und 2004 enthält.
Schwarzer Turm auf A4. Das Cover des besprochenen Bandes, der Geschichten aus den Jahren 1986, 1994 und 2004 enthält.
© Schreiber & Leser

Andreas: „Cromwell Stone“, übersetzt von Gerd Benz und Bernd Leibowitz, Schreiber & Leser, 144 Seiten, 24,80 Euro

Michael Brake

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