Graphic Novels: Amerikanische Tristesse
Der Comic- und Drehbuch-Autor Daniel Clowes gehört zu den wichtigsten Vertretern des literarischen Comics – wie zwei neue Veröffentlichungen eindrucksvoll belegen.
Die Zukunft des Comics liegt in seiner Vergangenheit. Dieser Satz von Art Spiegelman bezieht sich auf die Experimentierlust in den Anfangstagen des Comics, die dabei helfen könne, die Kunst- und Erzählform Comic in die Moderne zu geleiten. Aber dieser Aphorismus könnte auch dem neuen Band „Wilson“ von Dan Clowes zugrunde liegen, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. Auch Clowes bedient sich der Tradition und erzählt die Geschichte des redseligen, vereinsamten Zynikers Wilson ähnlich alter Zeitungsstrips in sich abgeschlossenen Einseitern. Wilson, knapp über vierzig, Vollbart, lichtes Haar, hat nur ein Problem: alle Versuche, sich auf Menschen einzulassen, sind zum Scheitern verurteilt. Dass er dabei den Leuten ungeschminkt die Wahrheit ins Gesicht sagt, wobei er sie abwechslungsweise auch einfach nur beschimpft, scheint für dieses Vorhaben wenig hilfreich.
Wirkt der Band zunächst wie eine sarkastische Fingerübung um einen Misanthropen, verleiht Clowes der Geschichte nach und nach Tiefe: der Vater stirbt, Wilson macht sich auf die Suche nach seiner Ex-Freundin, erfährt, dass er eine uneheliche Tochter hat, entführt diese kurzerhand und landet im Gefängnis. Das ist weniger melodramatisch als vielmehr amerikanische Tristesse pur. Denn Clowes zeigt mitnichten die markanten Wendepunkte im Leben seiner Figur, sondern lässt das Leben als einen Fluss von Konversationen und Monologen am Auge des Lesers vorbeiziehen. So gelingen Clowes kleine poetische Momente, die sich wiederum mit erschreckend bitter-komischen Szenen abwechseln, etwa wenn Wilson seinen Vater am Sterbebett anherrscht: „Mach schon, du alter Sack.“
Es ist vor allem die bemerkenswerte formale Gestaltung, die die Ambivalenz des Charakters unterstreicht, denn Wilson tritt mal im Funny-Stil und mal in klaren, realistischen Zeichnungen auf. Jede Seite beginnt mit einer knappen lakonischen Überschrift und endet mit einer Pointe. Das erinnert an Zeiten, als die Comics noch für den täglichen Lacher in den Zeitungen verantwortlich waren, aus diesen Einzelwitzen generiert Clowes einen ganzen Lebensabschnitt. Und zeichnet einen Menschentypus, den man gar nicht mögen möchte, als hätte die Bitterkeit bei Charlie Brown endgültig gesiegt.
Bissige Kommentare auf den Zeitgeist
Das klingt experimenteller als es ist, aber diese Form der Fragmentierung des Erzählten ist nicht neu im Werk des 1961 geborenen Daniel Gillespie Clowes, der zu den bedeutendsten Comicautoren der USA zählt. „Wilson“ ist der erste Band, der nicht in der Reihe „Eightball“ erschienen ist, in der Clowes seit 1989 seine Graphic Novels in Fortsetzungsform veröffentlichte. Damit gehört Clowes jener Generation an, die in den USA für den Auftrieb der Alternative Comics verantwortlich war. Diese Bewegung in den 1990ern kann als Vorläufer der zeitgenössischen Graphic Novel amerikanischer Provenienz gesehen werden. Denn zu diesem Zeitpunkt erschienen in den USA Heftreihen, in denen die jeweiligen Künstler völlige Freiheit besaßen, die sie mit großem Erfindungsreichtum nutzten. Peter Bagge veröffentlichte seine Slacker-Komödie „Hate“, Seth machte „Palookaville“, Chris Ware begann mit seinem grafischen Füllhorn „Acme Novelty Library“, und Dan Clowes parodierte die Pop- und Nerdkultur in „Eightball“. Dort erschienen sowohl längere Fortsetzungsgeschichten als auch abgeschlossene oder lose zusammenhängende Kurzgeschichten, die sich nicht selten als bissige Kommentare auf den Zeitgeist erwiesen.
Sein erster Comic-Roman „Wie ein samtener Handschuh in eisernen Fesseln“ (eines der ersten Bücher des Berliner Verlags Reprodukt 1993), war eine bizarr-groteske Melange um Obsessionen, Verschwörungstheorien und Alpträume, das Clowes den Ruf einbrachte, der „David Lynch der Comics“ zu sein. Glücklicherweise zertrümmerte Clowes direkt in der folgenden Geschichte „Ghost World“ diesen Ruf, wurde aber mit diesem Generation-X-Nachhall über zwei Mädchen, die ihren Platz im Leben suchen und sich dennoch immer weiter entfremden, durch die gleichnamige Verfilmung von Terry Zwigoff („Crumb“) einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Das Drehbuch brachte Clowes sogar eine Oscar-Nominierung ein, eine überaus seltene Ehre für einen Comic-Zeichner. Mit Zwigoff entstand zudem „Art School Confidental“, weitere Filmprojekte seiner Comics sind in Planung. In seinem Heimatland hat Clowes längst den Ritterschlag erhalten, indem er in einer Simpsons-Episode zusammen mit Alan Moore und Art Spiegelman einen Gastauftritt erhielt.
Fassbinder trifft Nabokov
Dass das Comicwerk von Clowes allerdings bislang nur rudimentär vorgelegt wurde, überrascht angesichts seiner Wichtigkeit. Bislang war der Berliner Verlag Reprodukt für den Künstler zuständig, dort erscheint diese Tage auch ein weiteres Werk von Clowes, „David Boring“. Hatte Clowes bis Band 18 von „Eightball“ mit verschiedenen Erzählformaten gespielt, so trat mit Band 19, dem ersten Heft der Trilogie um David Boring, eine Veränderung ein. Erstmals stand das Heft einer einzigen Geschichte zur Verfügung.
„David Boring“ ist formal weniger anspruchsvoll als „Wilson“, dafür ist es erzählerisch extravaganter. Gesammelt erschien die Trilogie als Graphic Novel etwa parallel zum Erscheinen von Chris Wares „Jimmy Corrigan“, und beide Bände waren verantwortlich für die kulturelle Akzeptanz des literarischen Comics in den USA um die Jahrtausendwende.
Aber es ist bezeichnend, dass gerade diese Werke mit so viel Verspätung in Deutschland ankommen. Im Falle von „David Boring“ kann der Leser entscheiden, ob dieses Warten dem Band gut getan hat. Der Comic liest sich wie eine Versuchsanordnung, und der Autor selbst beschreibt den Band mit den Worten: Fassbinder trifft unausgegorenen Nabokov auf Gilligans Island. Atmosphärisch ist „David Boring“ dem Hardboiled-Roman nah, allerdings verbindet Clowes mehrere Genres miteinander zu einem mysteriös-fulminanten postapokalyptischen Obsessions-Thriller. Der Autor bietet dem Leser wenig Lösungen, doch immerhin viele Deutungsmöglichkeiten. David Boring versucht die Welt um sich herum anhand kleiner Comic-Schnipsel zu verstehen, die sein Vater hinterlassen hat und muss ernüchtert feststellen: „Mein Vater hatte für eine abgeschlossene Handlung wohl nicht viel übrig.“
David steht dem Geschehen mit fast heldenhaftem Gleichmut gegenüber, darin steht der Protagonist auch Wilson nah. Beide Figuren versuchen die Welt um sich herum zu verstehen, beide glauben daran, dass das große Glück in ihrem Leben kurz vor dem Durchbruch steht, aber beide hangeln sich emotionslos am Leben entlang, unsicher, ob sie nicht schon längst gescheitert sind.
Clowes liebt es, Fragen in seinen Comics unbeantwortet zu lassen, die offenen Fragen aber könnten schon im Frühjahr beantwortet werden, denn dann ist der Zeichner auf dem Fumetto-Festival in Luzern zu Gast und mit einer großen Ausstellung vertreten. Dort wird man die ganz eigene Ästhetik des Werks von Clowes in natura bewundern können. Eine Ästhetik, die sich auch aus dem Interesse an früher Comic-Historie entwickelt hat.
Daniel Clowes: Wilson, Eichborn, übersetzt von Doris Engelke, 78 Seiten, 19,95 Euro, mehr unter diesem Link. David Boring, Reprodukt, aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders, Handlettering von Céline Merrien, 128 Seiten, 20 Euro, mehr unter diesem Link. Kürzlich beantwortete Daniel Clowes den Tagesspiegel-Comicfragebogen - seine Antworten findet man hier.
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