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Aufatmen. Im Sommer zieht es die Stadtmenschen ans Wasser - wie hier unweit der Oberbaumbrücke.
© picture alliance / dpa

Berliner Ufer (10): Am Wasser haben wir’s gelernt

Darf es Besitz an etwas geben, das seinem tiefsten Wesen nach gemeinschaftliches Gut ist? Wir sagen: Entspannung an Berliner Ufern für alle – so soll es sein. Ein Plädoyer zum Ende unserer Sommer-Serie.

Jetzt, wo die Saison sich zügig ihrem Ende zuneigt, sehen sie geliebt aus, die Berliner Ufer. Sie tragen die Spuren des Sommers, der die Städter in Scharen ans Wasser trieb, dorthin, wo die gewohnten Wege erst einmal enden und sich der Blick unweigerlich wieder auf zum Horizont hebt. So, wie das nur an einem Ufer möglich ist.

Wie kostbar dieser Ort ist, der nicht mehr Wasserfläche, aber auch noch nicht festgefügter Stadtraum ist, darüber sind sich Architekturpsychologen, Humanbiologen und Bauunternehmer einig. Das Ufer, so scheint es, ist das Gold dieser Stadt. Schürfen kann es nur, wer sich den Zugang sichert, am besten exklusiv. Um die Verteilung dieser Ressource, an der unser Lebensgefühl so sehr hängt, toben bunte Schlachten. Schlauchboote, gespickt mit Transparenten, brachen auf gegen Investorenjachten wie Greenpeace- Aktivisten gegen gigantische Wahlfänger. „Mediaspree versenken“ war die Parole, die für ein frei zugängliches Spreeufer kämpfte. Was musste sie sich der Blauäugigkeit zeihen lassen – von jenen, die am liebsten noch immer Willkommensgeld zahlen wollen an alle, die in dieser Stadt Kapital verbauen.

Freier Zugang zum Ufer als Sinnbild für aufgeklärte Gesellschaft

In der Rummelsburger Bucht, einer ebenso zauberhaften wie von Giftschlamm bedrohten Wasserlage Berlins, spielt ein neues Kapitel des Uferkampfes. „Lummerland“, die schwimmende Insel, das Holzfloß „Rockfish“, der Katamaran „Anarche“ und viele andere so nicht zu kaufende Gefährte proben dort eine Alternativkultur, die auf dem Festland an vielen Orten bereits der Gentrifizierung weichen musste. Ohne Ufer, ohne Übergang zur Stadt, können diese Satelliten nicht bestehen. Noch bietet eine Spundwand sich als Liegeplatz an. Doch die Rummelsburger Ufer säumen immer mehr gehobene Eigentumswohnungen, deren Käufer sich ihren Platz am Wasser gutes Geld haben kosten lassen. Das verträgt sich schlecht mit den Experimenten eines alternativen Wasserlebens, die hier, als „schwimmende Favelas“ wahrgenommen, am besten ganz und gar aus dem Blickfeld verschwinden sollen.

Doch kann es ein individuelles Anrecht oder gar Besitz an etwas geben, das seinem tiefsten Wesen nach ein gemeinschaftliches Gut ist? In Potsdam wurde diese Frage über ein Jahrzehnt hinweg exemplarisch von der Bürgerinitiative „Griebnitzsee für Alle“ durchgespielt. Der freie Zugang zum Ufer wurde in ihrer Argumentation zum Sinnbild für eine aufgeklärte Gesellschaft. Es handle sich dabei um ein Jedermannsrecht, wie man es etwa in Norwegen kennt. Und da gibt es Ufer ohne Ende.

Unsere Vorfahren haben das Gehen beim Waten gelernt

Darf man in Berlin, wo diese emotionale Nahtstelle unter dem Druck einer wachsenden Stadt steht, in Verkaufsprospekten mit „unwiederbringlicher Wasserlage“ um Kunden werben? So steht es auf der Website für das „Wave“-Projekt von GRAFT Architekten zwischen Oberbaumbrücke und Elsenbrücke. Immobilienexperten raten auch deshalb dringend zum Erwerb, weil am Ufer die Mietpreise dauerhaft über den Toplagen der Innenstadt liegen werden. Eine Forderung der Mediaspree-Aktivisten lautete: Keine Ufernutzung als Wertanlage.

Warum es uns alle ans Wasser drängt, dafür hat der Humanbiologe Carsten Niemitz eine Erklärung gefunden. Er untersuchte, wie der aufrechte Gang entstand, und entwickelte dabei die „Ufer-Theorie“. Sie stellt vieles auf den Kopf, was Entwicklungstheoretiker lange zu wissen glaubten. Doch Niemetz, ehemaliger Institutsleiter an der Freien Universität Berlin, ist sich sicher: Unsere Vorfahren haben das Gehen auf zwei Beinen beim Waten gelernt. Sie waren Uferbewohner, weil sie dort ohne größere Probleme hochwertige Nahrung finden konnten, die nötig war, um dem Gehirn zu einem Entwicklungssprung zu verhelfen.

Menschen sind Ufergucker

Seitdem lebt der Mensch mit einer Wassersehnsucht, die sein Verhalten prägt. Niemetz und seine Kollegen finden dafür überall Beispiele, sei es in uferseliger Werbung für Versicherungen oder in der Tatsache, dass Immobilien am Wasser doppelt so viel kosten wie 50 Meter weiter landeinwärts. In Parks mit Wasseranlagen picknicken Menschen dreimal länger als in uferlosen Grünanlagen. Um ihre These vom aufrechten Gang zu untermauern, beobachteten die Berliner Forscher über Jahre hinweg das Verhalten von Badegästen am Wannsee. Das überraschende Ergebnis der Uferstudien: Erwachsene Badegäste schwimmen nur zwei Prozent der Aufenthaltszeit, zehn Prozent verbringen sie mit dem Waten durch das Wasser. Den Rest der Zeit halten sich die Menschen am Ufer auf. Humanbiologe Niemetz sieht sich durch die Zahlen bestätigt: „Wir Menschen sind keine Schwimmer, wir sind Ufergucker.“

Wenn wir kein Ufer mehr sehen, kommt uns die Orientierung abhanden. Spinnt man die „Ufer-Theorie“ weiter, trägt sie in sich auch die Erinnerung daran, dass wir für Entwicklungsschritte immer wieder den festen Boden unter den Füßen aufgeben müssen. Der freie Zugang zum Wasser, den es sogar in der Investitionsmetropole London entlang der Themse gibt, stellt daher den essenziellen ersten Schritt dar. Wie geht es aber dann weiter? Wird es uns und unserer alten Sehnsucht genügen, in den Liegestühlen einer Strandbar zu kauern, über die Spundwand aus Beton und Stahl zu schauen und mit dem Blick einem Ausflugsdampfer zu folgen? Ein rettendes Ufer in der Stadt ist im Grunde nur eines, das jederzeit den Wechsel zwischen fließend und fest erlaubt, das uns die Wahl ermöglicht, Watender zu sein oder Schwimmer oder Ufergucker.

Demnächst Baden in der Spree?

Das klingt nach einer Utopie – doch es ist eine, die wir nötig haben. An einer Idee dazu arbeitet der Verein „Flussbad Berlin“. Er will den Spreekanal im historischen Zentrum, der längst seine ursprüngliche Funktion als Schifffahrtsroute verloren hat, neu nutzen. Auf 850 Metern Länge könnte zwischen Schlossplatz und Bode-Museum ein Freischwimmbecken entstehen, wie es nur wenige gibt auf der Welt. Teile der Ufermauern verwandeln sich dafür in Freitreppen, die Stufe für Stufe hinunter zum Wasser führen. Das mit internationalen Preisen ausgezeichnete Projekt geht weit übers große Planschvergnügen hinaus, es will für eine nachhaltige und integrative Stadtentwicklung stehen. Dazu soll der oberste Abschnitt des Kanals zu einem Biotop samt Parklandschaft werden, an den sich dann ein mit Schilf bestandener Teil anschließt. Hier wird das Flusswasser natürlich gereinigt, bevor es schließlich in den Schwimmbereich strömt.

Vom Bund und der Stadt als ein „Nationales Projekt des Städtebaus“ ausgesucht, wird die Flussbad-Idee weiterentwickelt. Als Feigenblatt aber taugt sie nicht. Vielmehr muss sie ein Ansporn sein, sich weiter für freie Ufer zu engagieren. Dort, wo sich der aufrechte Gang einst entwickelte, muss er sich heute bewähren. Für einen nächsten Schritt in unserer Entwicklung.

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