Dystopie „American War“: Am Ende gewinnt Mad Max
Wie kaputt die Welt in sechzig Jahren ist: Omar El Akkads dystopischer Roman „American War“.
Mit der Regierung Trump begann auch eine Konjunktur der Dystopien. Klassiker wie Orwells 1948 erschienener Roman „1984“ oder Sinclair Lewis’ „ Das ist bei uns nicht möglich“, der 1935 veröffentlicht wurde, verkaufen sich wieder bestens. Herman Melvilles letzter Roman „Maskeraden“ von 1857 oder Philip Roths „Verschwörung gegen Amerika“ von 2004 fanden neue Aufmerksamkeit. Und angloamerikanische Autorinnen und Autoren publizieren derzeit weiter fleißig aktualisierte Endzeitkatastrophen.
Besonders beliebt sind Szenarien des Klimawandels, den Trump bekanntlich für ein Hirngespinst hält. So gerade Lidia Yuknavitch mit „The Book of Joan“, wo der klimatisch ruinierten Erde 2049 eine neue Jeanne d'Arc erwächst. Oder Kim Stanley Robinson, der in „New York 2140“ (erscheint im Januar auf Deutsch bei Heyne) gleich noch ein Jahrhundert drauflegt. In Michael Tolkins „NK3“ haben die Reichen sich eingemauert in ein Los Angeles mit ausgelöschter Erinnerung. Und schon 2014 verheerte bei Emily St. John Mandel in „Das Licht der letzten Tage“ (Station Eleven) eine Grippepandemie die USA. Doch am meisten Furore gemacht hat Omar El Akkad mit seinem Romandebüt „American War“.
Amerika unter mexikanischem Protektorat
Auch hier spielt der Klimawandel eine wesentliche Rolle. Vor allem der Süden der USA ist vom Meer weggefressen. Augusta, Georgia, derzeit noch rund 200 Kilometer landeinwärts gelegen, ist 2075 eine Hafenstadt. Es gibt Epidemien. Vor allem aber herrscht Bürgerkrieg. Weite Teile des Südens sind mexikanisches Protektorat. Louisiana, Tennessee, Georgia, South Carolina und Alabama bilden die Freien Südstaaten, die mit dem Norden, der sich durch einen Zaun abschottet, in einem aussichtslosen Bürgerkrieg liegen. Der Alltag ist geprägt von Mangelwirtschaft, Lagern, Arbeitslosigkeit, Selbstmordattentaten, Terrorüberfällen, Warlords und ihren Milizen, Jugendbanden, die sich politisch geben, Spitzelei, Korruption, Vetternwirtschaft, Seuchen, Drogen. Dazu kommt ein Folter-Lager in der Art von Guantánamo – kurz: von allem, was man aus der Berichterstattung aus Afghanistan, Libyen, Irak oder Syrien und den Reaktionen der USA kennt. Omar El Akkad, Kanadier mit ägyptischen Wurzeln, vermengt in seinem Roman Erfahrungen als Reporter in den genannten Kriegs- und Krisengebieten mit den überlieferten und noch immer nachwirkenden Traumata des amerikanischen Bürgerkriegs. Das ist nun keine schlichte Parabel, in der den USA widerfährt, was sie einst angezettelt haben. Es ist dies zwar auch, zum Beispiel in den Gegenspielern China und dem – ironischerweise – demokratischen arabischen Bouaziz-Reich, aber zugleich viel mehr: ein Epos der Eigendynamik einer mit sich zerfallenden Welt wie eines der unvorhersehbaren Folgen von menschlichen Regungen wie Rache oder Mitleid.
Bericht aus der Zukunft
Im Zentrum steht die Südstaatenfamilie Chestnut, deren Nachkomme als Historiker aus dem noch ferneren 22. Jahrhundert über das ausgehende 21. berichtet, insbesondere über seine Tante Sara T., genannt Sarat. Sie, anders als ihre sanfte Zwillingsschwester eher ein Tomboy, erlebt als Kind die Tötung ihres Vaters. Dann muss sie mitansehen, umgesiedelt in ein Lager mit all seinen Schrecken, wie ihr Bruder sich einer Rebellengruppe anschließt und bei einem Massaker, das auch die Mutter das Leben kostet, verstümmelt und zum Märtyrer wird. Sie selbst dagegen, durch einen faszinierenden „Lehrer“ sanft, aber umso erfolgreicher auf den Weg der Rache gebracht, wird zu einer legendären Kämpferin.
Sarat ist nicht nur ein Mythos in den Augen ihrer Bewunderer, sondern von vornherein als mythische Figur angelegt: Sie ist, vom Meer bis zur Kloake und wieder bis zum Meer, mit dem Wasser verbunden. Und sie löst die verheerendsten Verlängerungen und Ausdehnungen des Bürgerkriegs aus. Zunächst indem sie als Sniper einen General des Nordens erschießt und damit einen grausamen Rachefeldzug auslöst, dann, als sie, im Folterlager dem Waterboarding unterzogen und freigekommen, bei der Familie ihres Bruders unterkriecht, um schließlich die Erreger einer Pestilenz, die sie von einem geheimnisvollen Unbekannten aus dem Bouaziz-Reich erhalten hat, freizusetzen. Ausgerechnet die Mitleidsregung eines selbst auf Rache sinnenden Soldaten des Nordens macht das möglich. Der fallen am Ende nicht weniger als 110 Millionen Amerikaner zum Opfer.
Komplex wie eine politische Analyse
Aus der anrührend und sympathetisch dargestellten, neugierigen, waghalsigen Kleinen ist im Verlauf des Romans eine roboterhaft programmierte Kampfmaschine, eine Art Lara Croft geworden; aus der zwischen Elend und Überlebenswillen, Chaos und Ordnungsversuchen beeindruckend intensiv geschilderten Welt des Lagers eine Mad-Max-Welt; aus dem komplexen Epos ein eindimensionaler Bekehrungsjournalismus.
Und im Zentrum dessen ein eigentümlich blinder Fleck: Die Menschen benutzen „alte“ Tablets, haben Internet und Fernsehen. Nur was sie da lesen, spielen oder ansehen, erfährt man nicht.
Sollten in künftigen Bürgerkriegen die neuen Medien keine Rolle mehr spielen? Zeitungen scheint es ohnehin nicht mehr zu geben. Dafür wartet der Roman immer wieder mit schriftlichen "Dokumenten" auf, von Lexikoneinträgen bis zu Anhörungsprotokollen. Schließlich vernichtet der Neffe die minutiös geführten Tagebücher der Tante, um an deren Stelle den Roman zu setzen, den wir nun gelesen haben.
So unausgewogen Omar El Akkads Roman „American War“ in seiner Entwicklung wie Sprache erscheint, so sehr ist festzuhalten, dass er bis weit über die erste Hälfte die Welt des Alltags im Bürgerkrieg, ihre Verwerfungen wie Zusammenhänge, in einer Intensität und Komplexion schildert, an die keine Reportage und schon gar nicht politische Analysen heranreichen.
Omar El Akkad: American War. Roman. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 445 Seiten, 24 €.
Erhard Schütz
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