Konzert Grigory Sokolov: Als säße Brahms am Flügel
In Frühlingsstürmen: der russische Pianist Grigory Sokolov in der Philharmonie.
Es gibt Abende, an denen die Philharmonie verstimmt ist wie ein großes Instrument. Das Ächzen, Knistern und Prusten in den Rängen will kein Ende finden, das Konzerterleben erreicht katarrhalische Qualitäten. Begleitend quittieren mobile Endgeräte lautstark den Empfang von Nachrichten aus der äußeren Welt. Manch ein Pianist hat das zum Anlass genommen, den Klavierdeckel donnernd zu schließen, das Publikum harsch zurechtzuweisen oder schlicht von der Bühne abzugehen. Doch Grigory Sokolov bleibt seiner entrückten Aura auch in Berliner Frühlingsstürmen treu. Dieser Musiker, der dem Publikum mit seiner jährlichen Wiederkehr einen Anlass zum Pilgern geschenkt hat, erträgt stoisch das Unberechenbare, das ein ausverkauftes Riesenhaus birgt. Manchmal hilft nicht einmal, dass er das Licht auf ein dämmeriges Minimum herunterfahren lässt. Man ahnt die Gründe, warum Sokolov auf seinen Riesentourneen mit über 70 Auftritten gerne in mittlere, auch kleine Räume zurückkehrt, obwohl er mit seiner staunen machenden Musizierhaltung längst nur noch die größten Bühnen bespielen könnte.
Der bald 69-jährige Russe liebt es, mit seiner Musik unterwegs zu sein. Jede Saison studiert er ein einziges Programm ein und interpretiert es dann so oft wie keiner seiner Kollegen. Sokolov ist Live-Künstler aus Überzeugung, einer, der die Freiheit des Spiels und seine unerschöpflichen Möglichkeiten über alles stellt. In den vergangenen Jahren hat er der Deutschen Grammophon erlaubt, einige skrupulös ausgewählte Konzertmitschnitte zu veröffentlichen. Sie dokumentieren sein stupendes pianistisches Niveau. Sokolovs Magie aber entsteht im Augenblick, in seiner feinen Kunst, Musik über Epochengrenzen hinweg zu beleben, zum Schweben zu bringen, immer eingedenk, dass unsere Spiele enden müssen.
Die erste der traditionell drei Konzerthälften stellt Beethovens frühe Klaviersonate Nr. 3 C-Dur seinen späten Bagatellen gegenüber, eine ungleiche Paarung, hier die stürmische Form(über)erfüllung, dort karge Ideen ohne tiefere Ausgestaltung. Für Sokolov aber existiert kein Widerspruch, er kann Risse und Inseln in noch so fest gefügten Formen aufspüren und Momentaufnahmen einen Horizont von Ewigkeit schenken. Dieser wundersame Perspektivwechsel gelingt ihm bei Beethoven diesmal nicht immer unangestrengt.
Nach der Pause kriecht Sokolov förmlich hinein in die letzten Klavierwerke op. 118 und 119 von Brahms, den man sich im Beinahedunkel jetzt selbst am Flügel denken könnte. Die Intermezzi mit ihrem scheinbar überwundenen Wollen, ihrem Schweben über gelockerten Harmonien, durchmisst Sokolov mit gebrochenem Sonnenlicht und leuchtendem Nachtblau. Endlich kommt auch der Saal für kurze Zeit zur Ruhe. Dann rumpeln die Bravos heraus, und Sokolov spielt seine sechs Zugaben, die immer eine Konzertwelt für sich sind: von Schuberts Impromptus As-Dur über einen in Trillern zerstiebenden Rameau bis hin zu Debussys sich verlierenden „Fußspuren im Schnee“. Nun müssen wir wieder Frühling, Sommer, Herbst und Winter durchleben, bis Sokolov uns davon ein Echo schenkt – im März 2020. Ulrich Amling