Herbert von Karajan: Der Titan mit dem Taktstock
Vor 30 Jahren starb Herbert von Karajan, der berühmteste Dirigent aller Zeiten. Unser Autor erinnert sich an seine frühen Begegnungen mit dem Weltstar.
Heute vor 30 Jahren starb der berühmteste Dirigent aller Zeiten. In den Regalen der Plattenläden allerdings ist Herbert von Karajan weiterhin extrem präsent, ebenso auf den Websites der Onlinehändler wie der Streamingdienste. Dieser mediale Nachruhm war ihm wichtig. Alle Neuerungen auf dem Gebiet der Aufnahmetechnik hat er begeistert genutzt, er war der prominenteste Pionier der CD-Technologie und der größte Fan der kurzlebigen Bildplatte. Wurde eine Kamera auf ihn gerichtet, dann hatte der Maestro ganz genaue Vorstellungen davon, was der Zuschauer später zu sehen bekommen sollte.
Und doch transportieren all die zahllosen Bild- und Tonkonserven nur einen schwachen Abglanz dessen, was bei Karajan-Auftritten live im Konzertsaal zu erleben war. Die einmalige Aura des letzten romantischen Originalgenies nämlich. Dieser Mann war ein Pultgigant, ein Titan mit Taktstock, der uns, die wir damals noch Schüler waren und nur noch seine späten Jahre miterleben durften, ebenso faszinierte wie einschüchterte.
Schlange stehen vor der Abendkasse
Bei den wenigen Programmen, die er pro Saison in Berlin dirigierte, wollten wir natürlich unbedingt dabei sein. Zu dritt machten wir uns schon am frühen Nachmittag auf den Weg zur Philharmonie, wo sich bereits ein mehr oder minder großes Grüppchen versammelt hatte. Klassikbegeisterte, die ebenso wie wir darauf hofften, Stehplatzkarten für das Konzert zu ergattern. Die wurden ausschließlich an der Abendkasse ausgegeben, die Türen öffneten sich eine Stunde vor Vorstellungsbeginn. Also formierte sich die Schlange im Freien, unter dem Vordach. Der Erste hatte eine Liste angefangen, auf der sich die Nachfolgenden eintragen mussten. Regelmäßig wurden die Namen vorgelesen – wer nicht präsent war, wurde gestrichen.
Fast immer aber hat es geklappt mit diesen billigen Last-Minute-Tickets. Vorfreudig streiften wir dann durch das Scharounsche Foyer, um schließlich, kurz bevor das Saallicht gelöscht wurde, zum Block F hinaufzusteigen. Dort lag Teppichboden auf den Stufen, wie wir herausgefunden hatten. So konnten wir uns trotz der Stehplatzkarten sogar niederlassen. Wenngleich missbilligend beäugt von den Abonnenten.
Für die Berliner Philharmoniker war sein Tod eine Epochenwende
Haydns „Schöpfung“ ist mir als besonders glanzvoll im Gedächtnis geblieben, von Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ wünschte ich mir nach dem Konzert sofort eine Schallplattenaufnahme (natürlich mit Karajan!), Arthur Honeggers 3. Sinfonie war eine Entdeckung – und unvergesslich bleibt auch jene Schrecksekunde, als der bereits stark von Schmerzen gezeichnete Maestro beim Weg vom Podium in die Garderobe auf der Treppe zu stürzen drohte, sich dann aber im allerletzten Moment noch am Stuhl des Konzertmeisters festhalten konnte.
Fern und unnahbar wirkte der Weltstar auf uns junge Menschen, als würde ihn eine unsichtbare Glaskuppel umgeben, die ihn vor jeder Berührung mit der profanen Alltagswelt schützt. Die Berliner Philharmoniker freilich, deren Chef er unglaubliche 35 Jahre lang war, haben ihn ganz anders wahrgenommen: als zugewandt, sobald es um den künstlerischen Probenprozess ging, als sehr ernsthaft bei seiner lebenslangen Suche nach dem perfekten Klang – und auch als grenzenlos fürsorglich, wenn einer von seinen Musikern in Schwierigkeiten geriet.
Herbert von Karajan starb am 16. Juli 1989 mit 81 Jahren. Sein Tod markierte für die Berliner Philharmoniker eine Epochenwende, das Ende all dessen, was ihnen selbstverständlich erschien, woran sie sich über die Jahrzehnte gewöhnt hatten. Keine vier Monate später brach dann auch für den Rest des Landes völlig überraschend eine neue Zeit an.