Comics und Politik: Als Joe Sacco den Kaiser fertigmachte
Eine Reihe aktueller Veröffentlichungen illustriert die Wechselbeziehung von Kunst, Populärkultur und Politik im Comic. Der Politikwissenschaftler Thomas Greven hat sie analysiert.
Wer die politische Aktionskunst des Zentrums für politische Schönheit zur Flüchtlingstragödie im Mittelmeer im Sommer 2015 verfolgt hat, weiß, dass das Wechselverhältnis von Kunst und Politik nicht nur für den Betrachter große Herausforderungen bereit hält. Bei der Diskussion um die Exhumierungen und Beerdigungen von auf der Flucht Umgekommenen ging es auch um die Frage, ob und wie weit die Kunstfreiheit für politische Zwecke in Anspruch genommen werden darf. Abschließende Antworten kann es hier wohl nicht geben.
"Comics & Politik"
Wichtige Facetten der Debatte um Kunst und Politik werden in dem vom Medienkulturwissenschaftler Stephan Packard herausgegebenen Sammelband „Comics & Politik“ am Beispiel der „neunten Kunst“, den Comics, behandelt. Jedoch: Obschon verdienstvoll – der Band beruht auf einer Tagung der Gesellschaft für Comic-Forschung (ComFor) und es ist notorisch schwierig, aus verstreuten Tagungsbeiträgen ein kohärentes Buch zu entwickeln – gelingt es nur teilweise, Schneisen in das Dickicht der Debatte zu schlagen.
Aus politikwissenschaftlicher Sicht liegt dies vor allem daran, dass die Autorinnen und Autoren für ihre verschiedenen Analysen nur selten einen Begriff des Politischen entwickeln, und wenn überhaupt, dann nur einen unzureichenden bzw. verkürzten. Es überwiegen literatur- und kulturwissenschaftliche Zugänge, und es werden einige theoretische wie empirische „Steckenpferde“ geritten, deren Relevanz bezüglich des übergeordneten Themas nicht immer klar wird, z.B. bei Ole Frahms Ausführungen zur „Geste des Comics“ oder bei Martin Wambsganß' Überlegungen zum „Abstand vom Bild“.
Leiden diese Beiträge an ihrer starken Bezogenheit auf feinste Verästelungen theoretischer Debatten, so mangelt es den enger gefassten, oft durchaus lesenswerten Fallstudien oft an Einbettung in maßgebliche Kontroversen zur Wechselbeziehung von Kunst, Populärkultur und Politik bzw. an einer Überschätzung des Gegenstands durch die Werkbezogenheit der Methode des „close reading“.
Zwei Topoi – Propaganda und Widerstand – werden in vielen Beiträgen des Bandes aufgenommen und prägen auch die Konzeption im mit Abstand am deutlichsten politiktheoretisch fundierten Beitrag von Ann Miller zu „Konsens und Dissens im Bande Dessinée“. Miller bezieht sich auf die Arbeiten des französischen Philosophen Jacques Rancière, der – in Millers Darstellung – zwei Begriffe von Politik unterscheidet. Zum einen spricht er von „la politique politicienne”, der Politik der Politiker, die dem Machterhalt und der Verteidigung der etablierten Ordnung („la police“) dient, zum anderen von „la politique“ im starken Sinne, bei der es darum geht, politischem Dissens Gehör zu verschaffen. Miller diskutiert Arbeiten von Mathieu Sapin, der als eine Art „embedded cartoonist“ den Wahlkampf von Francois Hollande verfolgt hat (Campagne présidentielle, 200 jours dans les pas du candidat François Hollande, Dargaud 2012), und Étienne Davodeau, der in „Les Mauvaises Gens” (Delcourt 2005) anhand der Biographien seiner Eltern einen Ausschnitt der politischen Linken im Frankreich der 1950er bis 1980er Jahre nachzeichnet. Wenig überraschend kommt sie zu dem Ergebnis, dass nur Davodeaus Buch als widerständig im Sinne von „la politique“ gelten kann, während Sapin vielleicht nicht propagandistisch der Macht dient, aber nicht mehr als einen subjektiven „counter-point“ im (parteipolitischen) Spiel der Macht setzt.
Ich sehe mindestens zwei Probleme mit Millers/Rancières Konzeption von Politik und der sich daraus ergebenden Analyse. Erstens ist der Politikbegriff stark wertend: Das was dem Erhalt von Macht und Ordnung dient, wird grundsätzlich als schlecht angesehen, das was dazu dient, diese herauszufordern, als gut. Dies ist allein schon deshalb nicht schlüssig, weil Ordnungen im Regelfall bekämpft werden, um neue Ordnungen zu begründen. Und: Auch der von der FPÖ im Wahlkampf herausgegebene Comic zur fremdenfeindlichen Instrumentalisierung der Verteidigung Wiens gegen den osmanischen Angriff (Sagen aus Wien, 2010) ist widerständig bzw. subversiv, „gut“ ist er deshalb nicht. Und die vom Innenministerium von NRW herausgegebene Reihe "Andi" zur Bekämpfung von Extremismus dient sicherlich dem Machterhalt, das allein macht sie aber nicht problematisch.
Zweitens gibt es weder bei Miller noch in einem der anderen Beiträge des Sammelbands einen Hinweis darauf, welchen Stellenwert Kulturprodukte wie Comics für politische Auseinandersetzungen, Prozesse oder Inhalte überhaupt einnehmen. Es ist aber zu vermuten, dass die Rolle von Comics in der Politik insgesamt sehr gering ist. Selbstverständlich müssen dennoch unterschiedliche Comics bezüglich ihrer jeweiligen Relevanz bewertet werden. Wenn z.B. Miller den Band "Quai d’Orsay" von Christophe Blain und Abel Lanzac (Reprodukt 2012) als Beispiel für politische Konsensproduktion diskutiert, ist das vielleicht für den nationalen französischen Politikkontext angemessen, ignoriert aber, dass der verschlüsselt porträtierte konservative Außenminister Dominique de Villepin seinerzeit den (am Ende vergeblichen) Widerstand gegen die kriegstreibende Politik der Bush-Regierung anführte.
Betrachtet man den Band also mit Fokus auf die internationale Politik, beschäftigt er sich durchaus mit Dissens und politischem Streit. Und: Sowohl Sapins Band wie "Quai d’Orsay" gegenüber Davodeaus (im Übrigen sehr lesenswerter) Darstellung der französischen Linken haben beide deutlich mehr Leser erreicht und sind deutlich mehr diskutiert worden. M.E. müssen insbesondere auf einzelne Werke fokussierte Analysen immer um Antworten auf simple empirische Fragen (Auflage, Rezeption) ergänzt werden. Denn: Was nützt die pointierteste Gesellschaftskritik, wenn sie die Gesellschaft mangels Lesern gar nicht erreicht? Ich werde in der Folge vier Comic-Neuerscheinungen mit Rückgriff auf die politische Theorie Antonio Gramscis untersuchen, welche mir geeignet erscheint, sowohl den gesellschaftlichen Stellenwert als auch den politischen Gehalt von Kulturprodukten wie Comics besser zu bestimmen. Eine ausführliche Einleitung in die Theorie kann in diesem Rahmen nicht erfolgen, aber zentrale Begriffe werden nach und nach eingeführt und erläutert.
"BUMF Vol. 1: I Buggered The Kaiser"
Mit „BUMF Vol. 1: I Buggered The Kaiser” kehrt der Comic-Journalist Joe Sacco zu seinen Comix-Wurzeln zurück, sowohl stilistisch wie inhaltlich. Zeichnen sich seine Comic-Reportagen wie "Palästina", "Gaza", "Sarajevo" etc. durch ihre Orientierung auf journalistische Genauigkeit aus, regiert in "BUMF" (Slang für offensichtliche, platte Regierungspropaganda) die polemische Kritik an den politischen Zuständen, insbesondere dem US-Überwachungsstaat, der Folter und Entmenschlichung des Gegners im „War on terror“ („killing the enemy is never enough“).
Sacco verwendet drastische Bilder und verweist geschickt auf die amerikanische Kriegsgeschichte (Vietnam, General Custer), auf amerikanische Populärkultur (Clint Eastwood, Captain America) und immer wieder auf den ersten Weltkrieg (vgl. Joe Sacco, "Der erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme", Edition Moderne 2014). Hierin liegt vielleicht auch eine leichte Hoffnung: der „Kaiser“, der durch anale Penetration gedemütigt werden soll, ist in BUMF das zu entmenschlichende „Andere“, der „Feind“. Heute sind Amerikaner und Deutsche nicht länger Feinde.
Gemeinsam ist Saccos Arbeiten ihre Subjektivität; er spielt eine Rolle in seinem grafischen Universum. Als Journalist will er „auf Seiten der Schwachen objektiv sein“, was sich in seinen Recherche- und Interviewstrategien niederschlägt (vgl. Joe Sacco, "Reportagen", Edition Moderne 2013), in "BUMF" zeigt er sich als eine Art Hof-Cartoonist und ist eher ein nützlicher Idiot. Damit rekurriert er möglicherweise auf seine Komplizenschaft mit der hier scharf kritisierten amerikanischen Sicherheitspolitik – als mutmaßlicher Teil der Wählerschaft Barack Obamas, der über Nacht durch einen Wiedergänger Richard Nixons ersetzt wird – welcher auch deshalb Präsident wurde, weil er als Kandidat versprach, einen geheimen Plan für einen ehrenhaften Frieden im Vietnam-Krieg zu haben. Obama, Friedensnobelpreisträger (wie Nixons Außenminister Henry Kissinger), hat als Kandidat durchaus ähnliche Versprechungen bezüglich der Kriege im Irak und in Afghanistan sowie bezüglich des Lagers in Guantanamo Bay gemacht – und sie eben so wenig gehalten.
Inhaltlich ist "BUMF" eine scharfe Kritik, ohne Zweifel. Aber ist Saccos widerständige Subversivität auch herrschaftsrelevant – mit anderen Worten, welchen Stellenwert hat seine Kritik in der amerikanischen Politik und Gesellschaft?
Gramsci unterscheidet drei Aspekte von Herrschaft: ihre materielle Basis (welche der herrschenden Gruppe erlaubt, subalterne Gruppen durch teilweise Bedienung derer Interessen einzubauen), die staatlich-institutionelle Herrschaft und kulturelle Hegemonie. Kulturprodukte wie Saccos "BUMF" können vor allem im Bereich der kulturellen Hegemonie relevant sein; mit Gramsci gesprochen können sie über die Beeinflussung des „Alltagsverstands“ der Bevölkerung die Grenzen des Denk- und Machbaren verändern. Aber: Für Gramsci bedarf effektive Gegenhegemonialität einer über „organische Intellektuelle“ organisierte Einbindung in gesellschaftliche Koalitionen, Organisationen und Bewegungen.
Sacco, der mit seiner Kunst (und seinem Journalismus) als Einzelner im Diskurs agiert, wäre für Gramsci eher ein traditioneller Intellektueller. Diese sind nicht ohne Einfluss, aber die Wirkung einzelner Werke ist nur schwer zu bestimmen. Immerhin hat Saccos Band aufgrund seines Status einen größeren Verlag gefunden und eine vermutlich größere Auflage erreicht als es dem Independent/Comix-Stil gewöhnlich entspräche. Ihm ist eine breite Rezeption sicher. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass er viele Leser von seinen politischen Positionen überzeugen kann; der Band wird vermutlich eher eine verstärkende Wirkung bei Lesern haben, die ohnehin schon eine kritische Haltung haben. Dies ist aber keineswegs unwichtig! Die symbolische Gleichsetzung von Obama und Nixon und die gottgleiche Behandlung des Präsidenten im Comic deuten allerdings schon an, dass es im politischen System der USA ohnehin schwierig ist, eine wirkliche Alternative durchzusetzen.
"The Diary of Lev Afor"
In "The Diary of Lev Afor", dem dritten Band ihrer Reihe über die fiktive Katze Lev Afor („Graues Herz“) erzählt das israelische Autorenpaar Adi Kaplan und Shahar Carmel anhand eines Teenager-Tagebuchs die Rolle des Militärdiensts in der israelischen Gesellschaft. Die Geschichte ist auch lesbar, wenn man die mystische Verquickung von Katzentochter und menschlicher Tochter – welche in den ausschließlich doppelseitigen, lebendigen Ölkreide- und Graphitzeichnungen, nicht aber in den Textblöcken, aufscheint – sowie die geisterhafte Qualität der Darstellung der Katzen- bzw. Teenager-Eltern außer Acht lässt.
Inspiriert von Tagebuchaufzeichnungen von Schülerinnen vor ihrem Einzug zum Militärdienst untersuchen Kaplan und Carmel das Durcheinander des Erwachsenwerdens im Kontext ständiger Bedrohung und Militarisierung.
In der Erzählung wird die tiefsitzende Verankerung des obligatorischen Militärdiensts für alle jungen Israelis in der Gesellschaft (Zitat von Eltern: „Jetzt seid Ihr an der Reihe, uns zu beschützen“) und der daraus resultierende Militarismus deutlich. Sie können mit Gramsci als „Ablagerungen im Alltagsverstand“ bezeichnet werden und sind damit ein nur schwer veränderlicher Teil der kulturellen Hegemonie der herrschenden Gruppe. „The Diary of Lev Afor“ ist allerdings ohnehin keine eindeutige Kritik des Militärdiensts. Einerseits kann man die Darstellung der verschiedenen Propaganda-Bemühungen der Regierung, z.B. Vorträge, Augenzeugenberichte, eine Militärausstellung, kritisch lesen, andererseits aber auch die Darstellung der oberflächlich heilen Welt von Sonnenbaden und Partys – scheinbar die einzigen Beschäftigungen der Jugendlichen – als Kritik an einem gedankenlosen Hedonismus auffassen.
Während die offensichtlich zunehmende Belastung durch die nahende Einberufung von Kaplan/Carmel vor allem als Teil einer Coming-of-age-Geschichte erzählt wird, verweist die abschließende Sequenz, in der die Eltern von Lev Afor ihr die Möglichkeit eröffnen, eine Auslandsreise dazu zu nutzen, dem Militärdienst zu entgehen, auf die Kategorie von Klasse. In der kulturwissenschaftlichen Rezeption von Gramsci wird Klasse vernachlässigt, hier dominiert die Diskussion der „Diskurse“ um kulturelle Hegemonie. Es ist jedoch erst die materielle Basis, die es den Eltern von Lev Afor, die recht offensichtlich dem Bildungsbürgertum angehören (Bücher und Kunst in der Wohnung), erlauben, einen individuellen Ausweg für die zunehmenden Schwierigkeiten ihrer Tochter mit der anstehenden Einberufung zu finden.
"Ethel & Ernest"
Um die Kategorie „Klasse“ geht es auch im ursprünglich schon 1998 in England erschienenen und mit dem „British Book Award“ ausgezeichneten Band „Ethel & Ernest“ von Raymond Briggs, der in Deutschland vor allem durch die Filmadaption seines Kinderbuches „When the wind blows” von 1986 bekannt geworden ist. Auch „Ethel & Ernest“ wird derzeit als Trickfilm produziert.
Briggs erzählt auf liebevolle Weise und mit stimmungsvollen Farben illustriert die Lebensgeschichte seiner Eltern von ihrem Kennenlernen 1928 bis zu ihrem Tod 1971. Wiederum sind es die „Ablagerungen im Alltagsverstand“, die wir mit Gramsci identifizieren können, welche helfen können zu erklären, warum der Kapitalismus auch dann noch widerstandsfähig ist, wenn er nicht in der Lage ist, seine Versprechungen zu halten. Konkret gesprochen, warum sich z.B. in der Folge der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre der neoliberale Thatcherismus durchsetzen konnte, welcher den Konkurrenzdruck auf die ohnehin schon durch Arbeitslosigkeit und Inflation gebeutelten Arbeitnehmer noch weiter erhöhte.
England war in der Zeit der Ehe von Ethel und Ernest, insbesondere in den 1950er und 60er Jahren, sehr viel deutlicher eine Klassengesellschaft als z.B. Deutschland (die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, Helmut Schelsky). Nicht aber, wenn man Ethel glaubt! Als Ernest, ein auf seine einfache Herkunft stolzer Milchmann, der nicht einmal Vorarbeiter sein will, aus der Zeitung Nachrichten über die Forderungen der Labour-Partei für die Arbeiterklasse vorliest, bügelt Ethel ihn ab: Wir gehören nicht zur Arbeiterklasse. Sie verfährt genauso, als Ernest die niedrigen Durchschnittseinkommen der Arbeiter erwähnt und sich wünscht, doch nur so viel zu verdienen, oder als die beiden die Abschaffung der dritten Klasse in der Bahn diskutieren.
Ein wenig Spott über die Royals darf sein, aber als ehemalige Kammerzofe sieht sich Ethel in einer besonderen Beziehung zur Oberschicht – im Stil der Bediensteten aus der Fernsehserie "Downton Abbey" – und unterstützt folglich Churchill und die konservativen Tories. Dem Labour-Unterstützer Ernest gelingt es nicht, ihr das Konzept des Wohlfahrtsstaats oder den Sinn von Verstaatlichungen zu erklären, auch weil ihm selbst das analytische Verständnis fehlt. Und so ziehen sie sich nur gegenseitig damit auf, dass sich trotz diverser Regierungswechsel die ökonomische Situation nicht bessert, sondern z.B. Fleisch weiter rationiert ist.
Ethels Selbsteinschätzung wird zum gesellschaftlichen Problem, weil sie die Bildung gegenhegemionaler Bewegungen behindert. Sie ist Teil der kulturellen Hegemonie der herrschenden Gruppe, der Vorstellungen einer klassenlosen Gesellschaft entgegenkommen. Man könnte sagen, Ethel demonstriert eine traditionelle amerikanische Eigenschaft: seine eigene sozioökonomische Position und seine Aufstiegschance stets besser einzuschätzen als sie es tatsächlich sind. Daraus speist sich einerseits ein erfrischender Optimismus, andererseits wird so erschwert, dass Menschen erkennen, dass sie gemeinsam für die Verbesserung ihrer Lebensumstände kämpfen müssen.
"Le Château. Une année dans les coulisses de l'Élysée"
Von Mathieu Sapins Arbeiten war bereits die Rede. Ann Miller hatte nicht viel übrig für seine Form des „embedded comics journalism“ im Rahmen des französischen Präsidentschaftswahlkampfs. Und "Le Figaro" findet "Le Château. Une année dans les coulisses de l'Élysée", seinen neuen Insiderbericht aus dem Elysee-Palast, trotz Lobs für die schönen Zeichnungen eher banal; er sei „eine blasse Chronik“ mit Ähnlichkeiten zu einem Tim und Struppi-Band, fast wie Hofberichterstattung.
Propaganda wirkt bekanntlich am besten, wenn sie als solche nicht sofort zu erkennen ist. Haben wir es bei Sapins Band also mit mehr oder weniger geschickter Stützung der kulturellen Hegemonie der herrschenden Gruppe zu tun? Hat sich Sapin von den „organischen Intellektuellen“ der Parti Socialiste und des Präsidenten vereinnahmen lassen?
Sapin dokumentiert im Comic selbst, wie es zu seinem Jahr hinter den Kulissen des Präsidentenpalasts kam. Seine Kontakte im Kommunikationsbüro des Präsidenten halten ihn eher hin; erst eine SMS an François Hollande selbst ist am Ende der Türöffner. Sein Status ist ähnlich dem der akkreditierten Journalisten; tatsächlich hat er größere Freiheiten als seine Journalistenkollegen, weil man ihm wohl angesichts der langen Lücke zwischen Recherche und Veröffentlichung abnimmt, nicht auf einen „scoop“ aus zu sein.
Sapin geht es nicht um Enthüllungen, er will ein Bild davon zeichnen, wie „der Palast“ als Institution funktioniert, als Arbeitsplatz verschiedenster Beschäftigter, vom Sicherheitspersonal über Köche und Gärtner bis hin zu den Beamten, den politischen Funktionären und auch den Journalisten. Er tut dies mit großem Respekt, einzig sich selbst porträtiert er manchmal als leicht verloren. Viele der so erzielten Einblicke und viele der Anekdoten des Personals sind in der Tat nicht unmittelbar aufregend; selbst über Ereignisse im Kontext von Skandalen oder Empörungen der französischen Politik berichtet Sapin so, dass man sich über die Details anderswo informieren muss – er hält das politische Ereignis gewissermaßen auf Abstand.
Am Ende wird der Band genau dadurch spannend und einsichtsvoll; Sapin dringt auf eine Ebene grundlegender Erkenntnis vor, die nur durch eine Reportage mit langem Atem erreicht werden kann. Und doch ist dies selbstverständlich auch ein Buch über den aktuellen Bewohner des Elysees, François Hollande. Die Mischung aus Inkompetenz und Mangel an Fortune, die seine Amtszeit bisher auszeichnet, wird m.E. von Sapin recht schonungslos dokumentiert. Dass dies mit einem gewissen Sympathiebonus geschieht, ist offenkundig – so lässt Sapin einen Journalisten zu Wort kommen, der das Problem Hollandes darin sieht, dass er „zu nett“ sei. Gefragt, was denn der Unterschied zu Sarkozy sei, meint ein Beamter, dass man unter Sarko den „Arsch zusammenkneifen musste“. Jetzt nicht? fragt Sapin. Doch, aber anders.
Ich weiß nicht, ob man Sapin vorwerfen kann, ein Propagandist zu sein, wenn er den Präsidenten als äußerst menschlich porträtiert. Nach dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" kommt es noch einmal zu einem persönlichen Gespräch mit Hollande. Dieser ruft dann Lassana Bathily an, den malischen Einwanderer, der mehrere Kunden des ebenfalls überfallenen jüdischen Supermarkts gerettet hat: „Hier ist François Hollande … [Pause] … der Präsident der Republik“.
Raymond Briggs: Ethel & Ernest, Reprodukt, Berlin, 2015. 104 Seiten, farbig, 15 x 22,5 cm, Hardcover, 20 Euro
Adi Kaplan/Shahar Carmel: The Diary of Lev Afor, Edition Patrick Frey, Zürich, 2014 Gebunden, 200 Seiten, 190 Farbabbildungen, 38 Euro
Stephan Packard (Hg.): Comics & Politik / Comics & Politics, Berlin, 2014, Christian A. Bachmann Verlag. 495 Seiten, 39,90 Euro.
Joe Sacco: BUMF Vol. 1: I Buggered The Kaiser, Fantagraphics, 2014. 120 Seiten, rund 18 Euro.
Mathieu Sapin, Le Château. Une année dans les coulisses de l'Élysée, Édition Dargaud, 2015, 19,99 Euro.
Unser Autor Dr. Thomas Greven ist Senior Research Fellow am Institut für Internationale Politik, Berlin, und Privatdozent am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin.
Thomas Greven
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