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Vorbild für den Look von "Blade Runner": "The Long Tomorrow" von Moebius.
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40 Jahre „Métal Hurlant“: Als die Zukunft wieder cool wurde

Vor 40 Jahren wurde das Comic-Magazin „Métal Hurlant“ gegründet. Dessen Künstler revolutionierten nicht nur ihr eigenes Medium, sondern prägten auch Filme wie „Blade Runner“, „Star Wars“, „Matrix“ oder „Pacific Rim“.

Ein Elend muss es für den Hochbegabten sein, jahrelang die Hausaufgaben seiner Mitschüler zu erledigen, nur um später beim Klassentreffen festzustellen, dass sich niemand an ihn erinnert. Die Macher von „Métal Hurlant“ dürften sich so manches Mal ähnlich gefühlt haben. Das französische Comic-Magazin lieferte Kreativen weltweit Ideen und brachte es doch nie auch nur annähernd zu einer Bekanntheit, wie sie etlichen Werken beschieden war, die es inspirierte.

Ins Leben gerufen wurde „Métal Hurlant“ (zu Deutsch: „Schreiendes Metall“) 1974 in Paris von dem Szenaristen Jean-Pierre Dionnet, den Zeichnern Jean „Moebius“ Giraud, Philippe Druillet und dem Geschäftsmann Bernard Farkas. Das neue, anfänglich auf Science-Fiction und Phantastik beschränkte Magazin sollte Comic-Schöpfern eine Plattform bieten, um Geschichten für Erwachsene zu erzählen – ein gutes Jahrzehnt, bevor man in den USA die Graphic-Novel als Medium feierte, das auch reifere Leser ansprach.

Die „Métal Hurlant“-Gründer waren mit franko-belgischen Comics von Künstlern wie Hergé oder Franquin aufgewachsen. Ihre Geschichten, die sie nun auf eigene Faust veröffentlichten, lagen jedoch Galaxien entfernt von braven Klassikern wie „Tim und Struppi“ oder „Spirou und Fantasio“. Moebius, Druillet und Kollegen hatten H.P. Lovecraft und Philip K. Dick genauso gelesen wie Gustave Flaubert oder Arthur Rimbaud; gleichzeitig ließen sich Einflüsse der Nouvelle Vague, des deutschen Expressionismus und des Surrealismus ausmachen. Solange man nur nicht die biederen grafischen und narrativen Strukturen vergangener Comic-Dekaden reproduzierte, schien alles erlaubt. Hier gesellte sich auch schon mal ein an Veteranen des Mediums wie dem „Prinz Eisenherz“-Schöpfer Hal Foster geschulter realistischer Strich in derselben Geschichte zu überdrehten Zeichnungen im Stil eines „Mad“-Cartoons. In teils bizarrer Gedankenstrom-Erzählweise brach sich die Kreativität der jungen Wilden des Comics Bahn. Ein künstlerischer Rausch, der ungewöhnlich weite Kreise zog.

In "Métal Hurlant" begann Druillet seine Flaubert-Adaption "Salammbô".
In "Métal Hurlant" begann Druillet seine Flaubert-Adaption "Salammbô".
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Bald erschien in den USA die erste Schwesterpublikation. Etwas später etablierte der Underground-Verleger Raymond Martin mit „Schwermetall“ eine deutsche Lizenzausgabe. Anders als das Original aus Frankreich bot Martins Magazin kaum redaktionelle Inhalte. Es gelang „Schwermetall“ auch so, einer ganzen Generation deutscher Comicfans neue Sichtweisen auf die Möglichkeiten grafischer Literatur zu eröffnen.

Von Anfang an sorgte „Métal Hurlant“ besonders unter Filmemachern für Aufsehen. Federico Fellini und Alain Resnais zählten zu den ersten Abonnenten. Auch die amerikanischen Regisseure James Cameron, George Lucas und Oliver Stone waren Bewunderer der Zeitschrift. Cameron beschäftigte Moebius später als Designer für „Abyss“. Druillet und vor allem Jean-Claude Mézières beeinflussten Lucas und dessen „Star Wars“-Reihe, die in den siebziger Jahren das Science-Fiction-Genre wieder populär machte. Etliche Elemente jener Welten, die Mézières für seine Serie „Valerian und Veronique“ oder die in „Métal Hurlant“ erschienene Geschichte „Baroudeurs de l‘Espace“ entworfen hatte, fanden sich in „Star Wars“ kaum abgeändert wieder.

Auch in den Filmen der Wachowski-Geschwister, die ihre Karriere als Comic-Autoren begannen, scheint noch das grafische Vokabular der französischen Zeitschrift durch. Storyboards und Concept-Art ihrer Matrix-Trilogie stammen von Geof Darrow, der in „Métal Hurlant“ seinen ersten Comic veröffentlichte und dessen Wimmelbild-Stil sich die Wachowskis für ihren größten Erfolg zu Eigen machten. Selbst in Japan zeigte das Magazin Wirkung: „Arzach“, eine der frühesten „Métal Hurlant“-Arbeiten, diente Hayao Miyazaki als Inspirationsquelle für den Manga- und Anime-Klassiker „Nausicaä aus dem Tal der Winde“.

Im Filmgeschäft erlebten die wirkungsmächtigen Comic-Revolutionäre aber auch manchen Rückschlag. Legendär gescheitert ist zum Beispiel Alejandro Jodorowskys Verfilmung des Sci-Fi-Epos „Dune“, an der neben mehreren Künstlern aus dem Umfeld von „Métal Hurlant“ unter anderem Orson Welles, Pink Floyd und Salvador Dalí hätten mitwirken sollen. 1977 engagierte dann William Friedkin nach seinem Welterfolg „Der Exorcist“ Druillet, um „Atemlos vor Angst“ mitzugestalten. Friedkins Thriller, inzwischen zum Kultfilm avanciert, floppte damals. Auch Michael Manns Horrorstreifen „Die unheimliche Macht“, für den der „Métal Hurlant“-Zeichner Enki Bilal eine Kreatur entwarf, erwies sich als Fehlschlag.

Prägend auch für „Alien“

Stilprägend: Ein „Métal Hurlant“-Cover von Moebius.
Stilprägend: Ein „Métal Hurlant“-Cover von Moebius.
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Solchen Pleiten zum Trotz gelang es den Machern des Magazins in relativ kurzer Zeit – die Zeitschrift wurde 1987 eingestellt – eine ganze Reihe stilbildender Werke entscheidend zu prägen. Einen großen Fan gewannen die Franzosen etwa in Ridley Scott, der für cineastische Meilensteine wie „Blade Runner“ oder „Alien“ verantwortlich ist und nie verschwiegen hat, wie sehr ihn die Zeichner und Autoren von „Métal Hurlant“ beeindruckten: „Für mich waren sie ins Innere der Zukunft vorgedrungen“, sagte Scott einmal über die französischen Comic-Visionäre. „Sie hatten es geschafft, die Essenz von dem zu zeigen, was existieren könnte.“

In den siebziger Jahren lag in Scotts Büro stets ein Stapel „Métal Hurlant“-Hefte. Seine Szenenbildner bat er immer wieder, sich an dieser Zeitschrift zu orientieren. Nach der Frankreich-Premiere von „Blade Runner“ bedankte Scott sich persönlich bei Bilal. Moebius nannte er in einem Interview über dieses Sci-Fi-Meisterwerk sogar „den Vater von allem“.

„Blade Runner“ verdankt der von Moebius gezeichneten und in „Métal Hurlant“ publizierten Geschichte „The Long Tomorrow“ visuell deutlich mehr als seiner literarischen Vorlage, Philip K. Dicks „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“. Während Dicks Roman in einem fast entvölkerten San Francisco spielt, verlegte Scott seinen Film in einen übervölkerten, schmuddelig-düsteren urbanen Dschungel, der klar dem Future-Noir-Universum von „The Long Tomorrow“ entliehen war. „Blade Runner“ stand erst dadurch in krassem Gegensatz zur stromlinienförmigen Spandexjacken-Welt bis dahin gedrehter Science-Fiction-Filme, in der die Menschheit wohl Außerirdische oder ein totalitäres Regime plagen konnten, wo es aber keine Graffiti oder Leuchtreklamen gab und einem auch kein Kaugummi unter den Schuhen kleben blieb.

Beseelte Maschine: "Exterminator 17" von Bilal und Dionnet.
Beseelte Maschine: "Exterminator 17" von Bilal und Dionnet.
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Im Produktionsdesign Hollywoods überdauerte bis zu den ersten unter dem Einfluss von „Métal Hurlant“ entstandenen Filmen eine Zuversicht an den Siegeszug der Wissenschaften und Stadtplaner, wie sie eigentlich für die Nachkriegsjahre typisch war: Der Zukunft fehlten Chaos und Patina. Über Paris fand die sogenannte „Used Future“ ins große US-amerikanische Kino – die Vordenker des europäischen Comics hatten es geschafft, die Zukunft wieder cool aussehen zu lassen. In „Blade Runner“ trug hierzu auch die vertikal strukturierte Stadt aus Scotts Film bei, die ein ganzes Sozialgefüge widerspiegelte und ebenso aus „The Long Tomorrow“ stammte.

„Blade Runner“ gilt als klassisches Beispiel des Cyberpunk. Nicht ohne Grund nennt aber etwa William Gibson, einer der Pioniere des Genres, die Künstler von „Métal Hurlant“ als ausschlaggebenden Faktor für den „Look“ seines wegweisenden Romans „Neuromancer“ sowie „aller anderen Artefakte“ des Cyberpunk und schließt „Blade Runner“ dabei ausdrücklich ein.

1979 hatte Moebius bereits Raumanzüge für Scotts „Alien“ entworfen. Das berühmte Monster aus diesem Klassiker wurde indessen von dem Schweizer Maler und Bildhauer H.R. Giger beigesteuert, der ebenfalls für „Métal Hurlant“ arbeitete. Moebius’ Beteiligung beschränkte sich zwar offiziell aufs Kostümdesign. Seine Comics wie etwa „Rotbart und der Hirnpirat“ zeigen aber, dass selbst die klaustrophobischen Gänge des Raumschiffs aus „Alien“, die eher an Anlagen der Schwerindustrie als an NASA-High-Tech erinnern, und auch die verlotterten Space-Trucker des Films bei diesem französischen Genie schon Jahre früher zu sehen waren. Sogar den Kern des „Alien“-Drehbuchs konnte man 1976 auf den Seiten von „Métal Hurlant“ finden. In der Serie „Die Wunder des Universums“ hatte der seinerzeit erst 17-jährige Serge Clerc die Idee eines Raumfrachters als Geisterhaus im All vorweggenommen.

Die Parallelen zu „Mad Max“ sind unverkennbar

28 Jahre vor "Avatar": Szene aus Richard Corbens "Den II".
28 Jahre vor "Avatar": Szene aus Richard Corbens "Den II".
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„Das war außergewöhnliches Zeug“, sagte vor Kurzem Terry Gilliam, Regisseur maßgeblicher Filme wie „Brazil“ oder „12 Monkeys“, über „Métal Hurlant“, „schön anzuschauen, witzig, clever, Sci-Fi mit einem Niveau, auf dem man wirklich arbeiten wollte. Und ich habe bemerkt: Nichts von diesen Sachen wird verfilmt.“ Eine große, getreue Hollywood-Adaption eines Stoffes aus dem einflussreichen Comic-Magazin steht tatsächlich bis heute aus. Zwar gab es einen kanadischen Zeichentrickfilm („Heavy Metal“) und eine französische Fernsehserie („Métal Hurlant Chronicles“), beide Projekte standen aber nur sehr lose mit der Zeitschrift in Verbindung und enttäuschten letztlich.

Am nächsten kam „Métal Hurlant“ vermutlich Luc Bessons „Das fünfte Element“. Die Nähe zum Comic ist hier kein Zufall: Besson hatte Moebius und Mézières eigens als Mitarbeiter verpflichtet. Schließlich glich „Das fünfte Element“ der zuvor in „Métal Hurlant“ veröffentlichten Serie „Der Incal“ von Moebius und dessen Szenaristen Jodorowsky allerdings auch in seiner Handlung so stark, dass der Verlag Les Humanoïdes Associés, bei dem „Métal Hurlant“ erschienen war, vor Gericht zog. Sicher stand hinter dieser – erfolglos gebliebenen – Klage auch der Wunsch, Besson hätte sich besser gleich an einer Adaption des Originals versucht.

Sprechende Pflanzen: "Die grüne Hand" von Nicole Claveloux.
Sprechende Pflanzen: "Die grüne Hand" von Nicole Claveloux.
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An verpassten Gelegenheiten, um „Métal Hurlant“ bekannter zu machen, als es der Zeitschrift vergönnt war, mangelte es schon in frühen Jahren nicht. „Ein australischer Kerl kam zu mir“, erinnert sich Dionnet, ehemaliger Chefredakteur des Magazins, an den Besuch eines gewissen Mr. Miller. Dionnet ließ seinem Gast gerade genug Zeit, um noch erwähnen zu können, dass er einen Science-Fiction-Film drehen wolle. „Er hatte einen Doktor in Medizin. Ich brachte ihn höflich zur Tür. Für mich war das der wöchentliche Verrückte.“ Nach dieser Abfuhr realisierte Miller, heute einer der erfolgreichsten Regisseure Australiens, sein Projekt, ohne mit „Métal Hurlant“ zusammenzuarbeiten. Wirft man einen Blick in den Comic „Die Nacht“ des Magazin-Mitgründers Druillet, sind die Parallelen zu Millers späterem Film, der sich zum Mehrteiler ausweitete, unverkennbar. Stimmung und Kostümdesign weisen beträchtliche Ähnlichkeiten auf. Und hier wie dort kämpfen gesetzlose Rocker in einer postapokalyptischen Stammeswelt um Ressourcen. Im Kino schrieb dieses Szenario dann unter dem Titel „Mad Max“ Geschichte. Miller verwendete sogar das Logo von „Métal Hurlant“.

Die vierte Episode der „Mad Max“-Reihe wird 2015 in die Kinos kommen. Eine Neuauflage von „Métal Hurlant“ ist dagegen nicht sehr wahrscheinlich. Dionnet scheint sich mit diesem Umstand abgefunden zu haben: „Wir waren Avantgarde, und ich glaube, man darf nicht zu lange Avantgarde sein. Am Ende wird das zur Trickserei.“

Grund, stolz zu sein, haben die Comic-Erneuerer aus Frankreich in jedem Fall, auch wenn ihre Zeitschrift 1987 erstmals eingestellt wurde und nach einer kurzen Renaissance zwischen 2002–2006 ganz verschwand: Was Dionnet und seine Mitstreiter anstießen, wirkt bis in die Gegenwart nach. So nennt zum Beispiel der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro die Illustrationen des durch „Métal Hurlant“ international bekannt gewordenen Richard Corben als Bezugspunkt für die Farbgebung seines Blockbusters „Pacific Rim“. Und Zack Snyder hat sich für die Ansichten des Planeten Krypton aus dem Superman-Film „Man of Steel“ nicht an Superhelden-Comics orientiert, sondern führt den US-amerikanischen „Métal Hurlant“-Ableger „Heavy Metal“ als Vorlage an. Mit künstlerischer Avantgarde hat all dies nichts mehr zu tun. Ein Zeichen für die Kraft, die in den Werken der Visionäre eines der innovativsten Magazine aller Zeiten liegt, ist es dennoch.

Florian Friedman

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