Besetzung der Berliner Volksbühne: Alles ganz gut so - oder ein Skandal?
Intendant Dercon und Berlins Kultursenator Lederer machen den Besetzern der Berliner Volksbühne Angebote. Dabei zieht selbst Rot-Rot-Grün nicht an einem Strang.
Wie wäre es mit friedlicher Koexistenz? Die Volksbühne und die Berliner Kulturverwaltung schlagen genau das den Besetzern des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz vor: Die Theaterkünstler proben für die Premieren im November, die Aktivisten nutzen den Grünen Salon und den Volksbühnen-Pavillon für ihre Veranstaltungen. "In diesen Minuten startet eine Verhandlungsrunde", heißt es um 17.20 Uhr am Dienstag in einer gemeinsamen Erklärung der Volksbühnen-Intendanz und von Kultursenator Klaus Lederer. Die Verhandlungsrunde wird von Intendant Chris Dercon geleitet, am Tisch sitzen Besetzerinnen und Besetzer, zwei Volksbühnen-Mitarbeiter, Kulturstaatssekretär Klaus Wöhlert und weitere Vertreter der Senatsverwaltung. Man wolle weiter deeskalierend und lösungsorientiert agieren.
Volksbühne offen halten: Gibt es nach Tegel bald einen neuen Volksentscheid? Zur Zeit findet die Abstimmung eher mit den Füßen der Besetzerinnen und Besetzer statt. Am Dienstagvormittag soll Frank Castorf seiner ehemaligen Wirkungsstätte einen Besuch abgestattet haben, am Nachmittag ist es allerdings eher leer im Foyer. Etwa 50 verstreute Aktivisten halten sich im Gebäude auf, Workshop und Konzert finden vor einer Handvoll Zuschauer statt.
Dennoch hat anders als bei Tegel niemand die Absicht, den okkupierten Laden dichtzumachen und das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz zu räumen. Fragt sich nur immer dringlicher, ob der Flug- respektive Spielplan tatsächlich nicht gefährdet ist, solange die Verhandlungen nicht dazu führen, dass Regisseure, Schauspieler, Tänzer und Bühnenarbeiter dort unbeeinträchtigt für die Premieren im November proben können.
Die Aktivisten wollen ein neues Konzept für die Volksbühne entwickeln und schlagen dafür eine zweijährige Interimsintendanz vor, um gemeinsam mit Stadt, Senat, Künstlern und Mitarbeitern ein Konzept zu entwickeln.
Deeskalation als Strategie
Schon am Montagabend hatte Klaus Lederer erklärt, er stehe in „permanenten“ Verhandlungen mit dem so heftig umkämpften neuen Intendanten Chris Dercon und den Besetzerinnen und Besetzern; er setze auf „Deeskalation statt Konfrontation“. Ziel der Gespräche, das wird auch im Dienstag gemeinsam mit der Intendanz wieder versichert, sei die Arbeitsfähigkeit des Theater-Mitarbeiter und ein ordentlicher Probenbetrieb, so dass die Spielzeit am 10. November starten kann.
Die Sicherheit der Menschen im Haus dürfe nicht gefährdet, das Gebäude nicht beschädigt werden. Das bereits in der ersten Version auf eine friedliche Lösung bedachte Statement enthält nur eine klare Absage: Nicht erfüllbar sei die Forderung, sich die Volksbühne mit einer kollektiven Intendanz anzueignen.
Kein Hausfriedensbruch
Ein juristisches Vorgehen ist ohnehin nicht angeraten. Auch wenn Chris Dercon zunächst gefordert hatte, dass die Politik „dringend ihrer Verantwortung nachkommt und handelt“, duldeten er und sein Team doch seit Beginn der Theaterbesetzung am Freitag, dass im Haus Pressekonferenzen veranstaltet und Musik-, Film- oder Diskussionsprogramme angeboten werden. Die Aktionen der Gruppe „Staub zu Glitzer“, die sich inzwischen „VB 61-12“ nennt (nach der Nummernbezeichnung einer Kernwaffe), erfüllen also kaum den Tatbestand des Hausfriedensbruchs.
Eine Linie, die etliche Theaterintendanten im deutschsprachigen Raum begrüßen, wie eine Umfrage der „Süddeutschen Zeitung“ zeigt. „Reden. Reden. Reden. Trinken. Trinken, Trinken“, erwidert Matthias Lilienthal, Chef der Münchner Kammerspiele auf die Frage, was er im Fall einer Besetzung tun würde. Während Annemie Vanackere (HAU) von Besetzung als einem „nicht akzeptablen Mittel“ spricht und Karin Bergmann (Wiener Burgtheater) den Besetzern „klare Grenzen“ setzen würde, nennt Thomas Oberender (Berliner Festspiele) die Volksbühnen-Lage eine „maximal schwierige Situation“. DT-Intendant Ulrich Khuon und der neue BE-Chef Oliver Reese diagnostizieren beide eine Lose-Lose-Situation.
Temporäre gemeinsame Lösung?
Das Hausrecht liegt allemal bei Dercon, der es gewissermaßen an Lederer als obersten Dienstherrn abgetreten hat. Beide machen davon Gebrauch, indem sie weiter nach einer einvernehmlichen Lösung suchen. Die temporäre gemeinsame Nutzung - hier proben Dercons Leute, da improvisieren die Aktivisten - klingt gut, könnte aber schon aus Lärmgründen auch knifflig sein. Hinter den Kulissen heißt es, dass sich das konzentrierte Proben für die Premieren-Regisseure Susanne Kennedy und Tino Sehgal notfalls noch etwa acht Tage hinauszögern lässt, ohne dass der Saisonstart kippt. Aber nicht länger.
Die anderen Fraktionen im Abgeordnetenhaus sehen den Kurs des Linken-Kultursenators teilweise kritisch. Selbst Rotrotgrün zieht nicht an einem Strang. Es sei zwar „wichtig und richtig, kulturelle Freiräume zu schaffen und zu sichern“, sagt die Grüne Sabine Bangert, Vorsitzende des Kulturausschusses. „Dies durch die Besetzung eines existierenden Freiraums – der Volksbühne – erreichen zu wollen, ist absurd und nicht akzeptabel.“
Grüne uneins über Vorgehen
Die Aktion beschädige die Freiheit der Kunst und schade der gesamten Berliner Kulturszene, „auch den vielen Initiativen, die sich seit Jahren im Rahmen von partizipativen Verfahren und Runden Tischen für die Schaffung und den Erhalt von kulturellen (Frei-)Räumen einsetzen“. Bangert schlägt damit einen anderen Ton an als ihre Parteikollegin Ramona Pop. Nachdem sich am Dienstag auch der Senat mit der Volksbühne befasst hatte, äußerte die Vize-Regierungschefin und Wirtschaftssenatorin Sympathien für Lederers Vorgehen. Eine deeskalierende Lösung sei bekanntlich „immer die beste, die man anstreben kann“.
Auch der kulturpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Frank Jahnke, unterstützt den Kultursenator. Gegenüber dem Tagesspiegel betonte Jahnke gleichermaßen, dass die Arbeit der Angestellten nicht beeinträchtigt werden dürfe und deren Sicherheit gewährleistet sein müsse. In seinen Augen würde ein Polizeieinsatz die Gefahr einer dauerhaften Besetzung nur verschärfen. Zwar habe Lederer in der Vergangenheit im Bezug auf Dercon „manchmal unglücklich agiert“, als Kultursenator stehe Lederer aber nun zum neuen Intendanten der Volksbühne. Das sei ein wichtiges Signal. Als problematisch betrachtet Jahnke es, dass die Forderungen der Besetzer sehr allgemein gehalten seien. Seit dem Wochenende will aber auch er einen schwindenden Zulauf erkennen.
Scharfe Kritik durch Opposition
Einen erwartbar scharfen Ton schlagen die Oppositionsfraktionen von CDU, FDP und AfD an; Letztere spricht vom „rot-rot-grünen Skandal“ der Duldung einer rechtswidrigen Besetzung. Robbin Juhnke und Florian Kluckert, kulturpolitische Sprecher der CDU- und der FDP-Fraktion, fordern eine schnellstmögliche Beendigung des „Besetzer-Klamauks“ (Juhnke). Die Volksbühne sei kein rechtsfreier Raum, betont Juhnke; laut Kluckert handelt es sich um „als Künstlergruppe getarnte Hausbesetzer“. Er fordert, dass „alle entstehenden Schäden von den Besetzern bezahlt werden und nicht zu Lasten des Steuerzahlers gehen, wie es bei der Besetzung der Humboldt Universität zur Unterstützung des Hausbesetzersympathisanten und Berater der Linke-Fraktion, Andrej Holm, der Fall war“.
Der Gentrifizierungskritiker Holm stand auch am Dienstag wieder auf dem Programm der Besetzer, ab 22 Uhr sollte er über die „Tonlage der Aufwertung: Gentrifizieren im Spiegel von Musik“ referieren. Der Schwerpunkt der Aktivisten-Agenda liegt weiter auf stadtpolitischen Themen. Für 18 Uhr war eine Vorführung des Films „Stadt als Beute“ (2005!) nach und mit René Pollesch angesetzt. Der Dramatiker und langjährige Castorf-Mitstreiter hat sich mit den „VB 61-12“ern solidarisiert und die Aktivisten rückwirkend zu Castorfianern geadelt. „2014 dachten wir auch, es wäre schon unsere letzte Spielzeit. Da hatte Bert Neumann die Idee, das ganze Haus jungen Leuten zu geben, die da dann machen, was sie wollen. Und Castorf und ich sollten in den dritten Stock. Und das passiert eben gerade mit und durch euch.“ schreibt Pollesch auf Facebook – unter dem Neumann’schen Räuberrad-Logo.
René Pollesch solidarisiert sich mit Besetzern
Das Rad auf dem Rosa-Luxemburg Platz haben Castorf und Co. bekanntlich in die Theatergeschichte entsorgt. Das Gleiche geschieht jetzt mit einem Großteil des Volksbühnen-Archivs, respektive den Dokumenten zur künstlerischen Arbeit in der Ära Castorf. Es wandert in die Akademie der Künste, auch dies im Einvernehmen mit dem Kultursenator. Ein seltsamer Vorgang: Träger der Volksbühne ist das Land Berlin, die Akademie untersteht dem Bund. Das Land verliert also wertvolle Kulturdokumente an den Bund. Ohne Not – weil Castorf es so wollte. (mit dpa)