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Verwandlung der Welt. Im Rahmen der Ausstellung „Yayoi Kusama. Eine Retrospektive“ wurden Bäume am Gropius Bau für die Installation „Ascension of Polka Dots on Trees“ mit rotgepunkteten Bändern umwickelt.
© Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB

Yayoi Kusama im Gropius Bau: All die Punkte im Universum

Bald öffnen die Museen wieder: Im Gropius Bau wartet die Retrospektive für Yayoi Kusama. Und die Erfahrung des Unendlichen. Ein Essay.

„Accumulation“, Anhäufung, heißt ein kleinformatiges Bild von Yayoi Kusama von 1952, das eine Vielzahl schwarzer Punkte auf mittlerweile vergilbendem Grund zeigt. „I want to live at the far end of the universe“ heißt wiederum ein anderes, weitaus größeres und bunteres Bild, das 2016 entstanden ist und der fortlaufenden Serie „My Eternal Soul“ zugehört, an der die 1929 im japanischen Matsumoto geborene Künstlerin kontinuierlich in ihrem Studio in Tokyo arbeitet.

Sieben Jahrzehnte liegen zwischen dem einen und dem anderen Titel, nicht weniger als ein Menschenleben. Trotz aller Veränderungen und Entwicklungen, die das zugehörige Oeuvre in diesem Zeitraum durchlaufen hat, stehen diese Arbeiten für zwei unveränderte Prinzipien: erstens für das Aufschichten von dem, was sein könnte, und zweitens für die Erkundung des sinnlich Erfahrbaren.

Verbunden sind die beiden Bilder über ein Gesamtwerk, das dank der beispiellosen Produktivität seiner Schöpferin selbst mit der Illusion spielt, kein Ende zu haben scheint. Es umfasst Malerei, Aktionskunst, Skulpturen, Installationen sowie Lyrik und Prosa in einer quantitativen Ausdehnung, die mühelos den Status „unendlich“ für sich reklamieren kann, wobei der gegenständliche Sinn dieses Wortes allerdings von seiner nicht-dinghaften Bedeutung noch übertroffen wird.

Denn als Botschafterin jener Unendlichkeit, für die das Universum steht, hat sich Kusama vor langer Zeit daran gemacht, einen Zustand wahrnehmbar zu machen, der weder Anfang noch Ende kennt und in dem man sich verlieren kann, ohne dabei verloren zu gehen.

Sigmund Freud setzte einst auf das Adjektiv „ozeanisch“, um zu klären, was dem Vorsprachlichen zufällt: das Unvermögen, zwischen sich und der Umgebung zu unterscheiden, bevor sich mit dem Spracherwerb auch die Welt erschließt. Kusama vermag es, einen solchen Eindruck begreiflich zu machen, ohne dass Erwachsene dafür auf den Bewusstseinsstand von Kleinkindern regredieren müssen.

Polka Dots und Infinity Nets

Sie überzieht das Gewöhnliche mit dem Ungeahnten und versetzt damit ihr Publikum in jenes Staunen, das dem Zauber einer jeden ersten Erfahrung innewohnt. Weil diese Kunst auf das Unendliche ausgerichtet ist, ihr Genuss aber eine absolut diesseitige Angelegenheit, handelt es sich hierbei um ein gänzlich atheistisches Vergnügen.

Daraus folgt jedoch keine bloße Aufwertung des Bestehenden. Kusama hat auch nicht die Lebensgewohnheiten und die technologischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts affirmativ vorweggenommen, wie ihr bisweilen eilig unterstellt wird. Ihre Polka Dots beispielsweise sind trotz modischen Nutzens weder Zierde noch Illustration der Umgebung, der sie jeweils appliziert werden, sondern eine Freisetzung des Möglichen, ohne dieses anschließend verwertbar zu machen.

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Ihre Infinity Nets, die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre entstanden und bisweilen enorme Ausmaße erreichten, waren schon deshalb keine Antizipation des World Wide Web, wie manchmal zu lesen ist, weil sie gar nicht erst versprachen, irgendwohin zu führen. Die trügerische Macht des Internets besteht letztlich darin, unendliche Möglichkeiten vorzutäuschen. Was es tatsächlich schafft, sind begrenzte Horizonte.

Der vermeintliche Blick hinaus ist heute noch kürzer als der zu Hochzeiten der Fernsehkultur; er reicht gerade mal zu einem Gerät, das in der Hand gehalten wird. Was von dort zurück in das Bewusstsein strahlt, weitet nicht die Sinne, sondern nimmt sie in Beschlag. Auch wegen dieser Penetranz des Realen hat Kusama ihre Netzgemälde einmal rückblickend als politischen Widerstand bezeichnet.

Radikale Pionierin. Yayoi Kusama. 92.
Radikale Pionierin. Yayoi Kusama. 92.
© YAYOI KUSAMA, Courtesy: Ota Fine Arts, Victoria Miro & David Zwirner

Diese Bemerkung stammt wohlgemerkt von einer Künstlerin, deren Kindheit und Jugend vom autoritären Tenno-Kult überschattet wurde und die als Schülerin zum zwangsweisen Nähdienst für das japanische Militär verpflichtet worden war – ein Umstand, den die Rezeption erstaunlich wenig thematisiert, obwohl ihre Werke unmissverständlich das Leben gegen seine Zurichtung verteidigen und damit unweigerlich an das Grauen des 20. Jahrhunderts gemahnen.

Ein eindrückliches Zeugnis hiervon ist die erste Schaffensphase der Malerin aus den 40er und 50er Jahren, deren Bilder zwischen Beklemmung und Bedrohung changierten; eines davon trägt gar den Titel „Accumulation of the Corpses“, was sicherlich nicht nur auf eine psychische Kondition anspielt. Dass Kusama insbesondere während ihrer New Yorker Aktionskunst-Phase um 1968 von „Selbstauslöschung“ als Imperativ sprach, um eins zu werden mit dem Universum, ließe sich psychoanalytisch zwar als dunkles Echo jener frühen Prägung deuten.

[ Bei weiter sinkender Inzidenz könnte der Gropius Bau ab Mittwoch wieder öffnen. Immer erreichbar ist die digitale Kusama-Retro: www.berlinerfestspiele.de]

Was damit gemeint ist, lässt jedoch tatsächlich eher Spinozas Begriff des Unendlichen anklingen – eine Substanz in unendlicher Variation –, als dass damit zur Tilgung des Individuums im Sinne des Kollektivismus aufgerufen worden wäre.

Im Gegensatz zum Konformen, Statischen, Geordneten und Strengen des Totalitarismus jedweder Couleur reklamieren die Arbeiten der Künstlerin bis heute Differenz, Lebendiges, Bewegung und Evolution. Ihre Netze sind so ungleichmäßig wie unabgeschlossen und widersetzen sich der Vorhersehbarkeit des Ornaments. Ihre Punkte sind farbenfroh, kommen nie alleine und gruppieren sich nicht um ein Zentrum. Und ihre Spiegelräume, die das Sichtbare vervielfältigen, sind das Gegenteil des Monuments, das einseitige Ehrfurcht von allen einfordert, die sich ihm nähern.

Das Alltägliche rückt ins Unerwartete

Darüber hinaus ist die Technik der Wiederholung, die Kusama ebenfalls in ein grundlegendes Prinzip überführt hat, als Kommentar auf jene Formen stupider Arbeit zu verstehen, bei der mit den immer selben Handbewegungen – auch in parabolischer Hinsicht – nur Monotones hervorgebracht wird. Während die daraus resultierende und vielerorts waltende Funktionalität das sinnentleerte Weiterlaufen des Ganzen garantiert, zeigt die um Potenzialität bedachte Kusama, was indes jeweils im Bereich des Möglichen liegt.

Die selben Materialien nutzend, deren herkömmliche Verarbeitung dem Auge allerhand Unansehnliches zumutet, das die Empfindungen abstumpfen und den Frust anschwellen lässt, bringt sie hingegen etwas hervor, das das Alltägliche ins Unerwartete entrückt. In ihrer Obhut werden Worte, Bekleidung, Oberflächen, Räume und Gebäude zu etwas anderem. Und zu etwas Besserem, zweifelsohne.

Klaus Mann veröffentlichte 1932 bekanntlich einen Roman namens „Treffpunkt im Unendlichen“. Obschon in einem gänzlich anderen Kontext entstanden, ließe sich dieser Titel problemlos borgen, um ihm dem Gesamtwerk der Künstlerin voranzustellen. Denn wozu sie einlädt, ist die Begegnung mit dem Endlosen – mitunter in diesem selbst.

Was von ihren Werken stets aufs Neue erfahrbar gemacht wird, ist ein Hier, das als Ortsbestimmung noch der bekannten Welt zufällt, die durch diese Vermittlungsarbeit gleichwohl bereits zu einem „Anderswo“ geworden ist. Yayoi Kusama ist hier. Ganz hier, für immer – so lange „immer“ währt.

Vojin Saša Vukadinovic

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