Berlinale 2017: Retrospektive: Aliens haben bessere Lightshows
Ein knapper, aber hochklassiger Einblick ins Genre der Science Fiction. Die Retrospektive „Future Imperfect. Science. Fiction. Film“ erforscht fantastische Welten und Visionen.
Selten hat die Retrospektive ein derart weites Thema gehabt. „Future Imperfect. Science. Fiction. Film“ stellt mit 27 Filmen (plus zwei Kurzfilmen) ein Genre vor, das seit der vorletzten Jahrhundertwende tausende Produktionen hervorgebracht hat und dessen Spannweite von den legendären Trashfilmen eines Ed Wood bis hin zu „Avatar“ reicht, dem teuersten und erfolgreichsten Kinofilm überhaupt. Die Retrospektive zeigt Klassiker, Kultfilme, Raritäten und vergessene Perlen, wobei fast alle der „ernsten“ Science- Fiction zuzurechnen sind.
Zwei Themenkomplexe des utopischen Films stehen im Fokus: die Gesellschaft der Zukunft und die Begegnung mit dem außerirdischen Fremden. Beide Felder sind überwiegend pessimistisch besetzt, was generell für den Science-Fiction- Film gilt. Viele frühe Genrewerke hatten noch ein heiter-naives Zukunftsbild, das sich aber im Verlauf des 20. Jahrhunderts nach zwei Weltkriegen, systematischen Völkermorden und globaler Umweltzerstörung verdüsterte.
Ältester Film ist der dänische „Himmelskibet“ von 1918
So ist der älteste Film der Retro, der dänische „Himmelskibet“ (1918), ein von Jules Verne beeinflusstes Abenteuer, in dem Menschen zum Mars fliegen und in friedfertigen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung treten. Hans Werckmeisters „Algol. Tragödie der Macht“ (1920) bietet mit der protektionistischen Nutzung einer außerirdischen Energiequelle durch gierige Kapitalisten einen Plot von erstaunlicher Aktualität, hält aber rührend optimistische Lösungen parat. Aktuell wirkt auch „Der Tunnel“ (1933): In Kurt Behrendts letztem in Deutschland gedrehten Film – der Regisseur floh im Jahr der Fertigstellung in die USA – wird ein Transatlantiktunnel von der Wall Street finanziert und dann von denselben Bankern aus Spekulationsinteressen sabotiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die USA zur bedeutendsten Filmnation des Genres. Die ideologische Konfrontation der beiden Supermächte drückt auf die Stimmungslage des SF-Films der 50er. Vor allem die Alien-Invasion wird zum Topos. Byron Haskins „The War of the Worlds“ (1953) schildert mit spektakulärer Tricktechnik den Angriff tentakelbewehrter Außerirdischer, an deren technischer Überlegenheit alle Abwehrversuche scheitern. Perfider gehen die Aliens in Don Siegels Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ (1956) vor. Hier werden die Bewohner einer typischen US-Kleinstadt durch seelenlose Doubles ersetzt, eine gruselige Parabel auf die Paranoia der McCarthy-Ära.
Düstere Visionen, nah am Horrorfilm
Bald setzt sich im SF-Film westlicher Prägung die Ansicht durch, dass es keine Aliens braucht, um die Menschheit an den Abgrund zu bringen. In Stanley Kramers bedrückendem „On the Beach“ (1959) suchen die Überlebenden eines Atomkriegs mit einem U-Boot eine nicht verstrahlte Zuflucht. Die von totalitären Systemen drohenden Gefahren werden bereits 1956 in Michael Andersons „1984“-Verfilmung eindrücklich geschildert. Ästhetischer als die Big-Brother-Schwarz-Weiß-Welt ist die strahlend weiße Techno-Diktatur in George Lucas’ Debüt „THX 1138“ (1971) – ein rigider Thesenfilm, dessen Härte einen krassen Gegensatz zu seiner märchenhaften Star-Wars-Saga bildet.
Zu den düstersten SF-Filmen gehören jene, die zeitgenössische Phänomene in die nahe Zukunft projizieren. John Frankenheimers „Seconds“ (1966) erzählt von einer Organisation, die ihren Klienten eine Verjüngung verspricht. Zu spät merkt der von Rock Hudson gespielte Protagonist, dass er Nutznießer eines verbrecherischen Systems ist, das für die Geheimhaltung seines Geschäftsmodells über Leichen geht. Für die suggestive Kameraführung dieses nah am Horrorfilm operierenden Genreklassikers wurde James Wong Howe für den Oscar nominiert. Blanken Horror löst auch Richard Fleischers „Soylent Green“ aus, das schockierendste Beispiel der filmischen Öko- Apokalypsen der 70er. In einer von Überbevölkerung und Umweltzerstörung geprägten Zukunft werden die Unterprivilegierten umgebracht und an die Lebenden verfüttert.
Raumfahrer als Malocher
Steven Spielbergs „Close Encounters of the Third Kind“ (1977) ist einer der seltenen Filme, in denen Außerirdische mit freundlichen Absichten (und einer beeindruckenden Lightshow) auf der Erde landen. Umso feindseliger agierte das titelgebende Wesen in Ridley Scotts „Alien“ (1979). Die bedingungslose Aggressivität des schaurig-schönen Monstrums ist zu einem Motiv von ikonischer Strahlkraft geworden. Zum Genre-Meilenstein wurde „Alien“ auch, weil hier Raumfahrer nicht als Pioniere und Helden gezeigt werden, sondern als Malocher, die auf einem rostigen Erzfrachter interstellaren Dienst verrichten.
Die Erdung des SF-Films im Realismus setzt Scott bei „Blade Runner“ (1982) fort, der ein dystopisches L. A. der nahen Zukunft in unerhörtem Detailreichtum zeigt und die moralischen Implikationen erörtert, wenn künstliche Intelligenzen ein Lebensrecht einfordern. „Blade Runner“-Einflüsse finden sich auch bei Luc Bessons Pop-Abenteuer „Das fünfte Element“ (1997) und Kathryn Bigelows Cyber-Thriller „Strange Days“ (1995), während der jüngste Film der Retrospektive, Alex Proyas‘ „Dark City“ (1998), eine Schattenwelt hinter der vermeintlichen Wirklichkeit postuliert, ein Thema, das auch in der „Matrix“-Trilogie auftaucht.
Science-Fiction aus den Staaten des Warschauer Pakts
Eine im Westen wenig bekannte Parallelwelt bildet der Science-Fiction-Film aus den Staaten des Warschauer Pakts. Nach Retourkutschen auf den hölzernem Antikommunismus mancher US-Filme sucht man vergeblich. Stattdessen werden mit philosophischem Ernst und kontemplativem Erzähltempo eigene Zukunftsszenarien entworfen. So verhandelt Jindrich Polaks „Ikarie XB 1“ (CSSR 1963) die Belastungen interstellarer Langzeitflüge, ein Stoff, der in der polnisch- sowjetischen Produktion „Text pilota Pirxa“ (1979) um das virulente Thema kybernetischer Lebensformen erweitert wird. Auch für Endzeitvisionen gab es Platz, wie die düsteren „O-bi, o-ba: Koniec cywilizacji“ (Polen, 1985) von Piotr Szulkin und „Pisma mjortwowo tschloweka“ (1986) des Russen Konstantin Lopuschanski bildgewaltig belegen. Dass künstlerische Ambitionen an politische Tabus rühren konnten, erfuhr der polnische Regisseur Andrzej Vumawski. Die Dreharbeiten zu seinem monumentalen „Na srebrnym globie“ wurden 1978 wegen regimekritischer Tendenzen gestoppt, das Fragment des Films konnte erst zehn Jahre später gezeigt werden.
Die ostdeutsche SF-Produktion ist mit der Space Opera „Eolomea“ (1972) vertreten, die der BRD wird von Rainer Werner Fassbinder repräsentiert: Beim visionären Virtual-Reality-Drama „Welt am Draht“ (1973) führte er Regie, in Wolf Gremms futuristischer Krimi-Groteske „Kamikaze 1989“ hat er als Ermittler im Leopardenanzug seinen letzten Auftritt.
Doch wieso finden sich kein „E.T.“, keine Sternenkrieger, kein „Star Trek“ im Programm? Warum nichts von Kubrick, Lang oder Tarkowski? Weshalb keine Zeitreisen, Superhelden, Terminatoren? Andererseits: Auf keinen der gezeigten Filme würde man verzichten wollen. Die Retro bietet einen knappen, aber hochklassigen Einblick in eines der faszinierendsten Genres der Filmgeschichte.
Im Bertz + Fischer Verlag ist der Katalog zur Science-Fiction-Retrospektive erschienen.