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Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro
© dpa-bildfunk

Die Literaturnobelpreisträgerin über sich: Alice Munro hat ihr letztes Buch geschrieben

"Liebes Leben", der bisher persönlichste Erzählungenband der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro. Sie sagt, es sei ihr letzter.

Es ist ein Bekenntnis, ein autobiografisches zumal, mit dem Alice Munro die Titelgeschichte ihres Erzählbandes „Liebes Leben“ beschließt; das Bekenntnis einer lebenslangen Schuld und wie man damit weiterlebt, weil Vergebung nicht vorgesehen ist. Als ihre Mutter im Sterben lag, war die kanadische Schriftstellerin nicht an ihrer Seite. Auch der Beerdigung blieb sie fern. Es sei ihr aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen – und weil sie ihre Kinder nirgendwo unterbringen konnte. „Wir sagen von manchen Dingen“, so lautet Munros allerletzter Satz, „dass sie unverzeihlich sind oder dass wir sie uns nie verzeihen werden. Aber wir tun es – wir tun es immerfort.“

Dieses Buch, so hat es die 1931 in Wingham, Ontario geborene Munro bei dessen Veröffentlichung 2012 in den USA angekündigt, sei ihr definitiv letztes. Als ihr dieses Jahr im Oktober der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, bestätigte sie diese Ankündigung. Und obwohl man diesbezüglich lieber Vorsicht walten lässt, deutet im Fall von Munro alles darauf, dass sie es ernst meint. Die letzten vier der 14 Geschichten von „Liebes Leben“, übertitelt mit „Finale“, sind autobiografisch. Oder, wie Munro es in einer Art Vorwort ausdrückt, „vom Gefühl her autobiografisch, auch wenn manchmal nicht alles den Tatsachen entspricht. Ich glaube, sie sind die ersten und letzten – und die persönlichsten – Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe.“

Munro erzählt ausführlich, wie sie aufwächst

Im Vergleich zu ihrem Erzählungenband „The View from Castle Rock“, der einer autobiografischen Familiengeschichte bisher am nächsten kam, erinnert sich Munro in „Finale“ literarisch ungeschützter. Vor allem an Szenen aus ihrer Kindheit: wie sie einem toten, von ihr bewunderten Hausmädchen noch einmal ins Antlitz schauen muss und dabei eine paranormale Erfahrung macht. Wie sie eine Zeit lang der nächtliche Drang überkommt, ihre fünf Jahre jüngere Schwester umzubringen. Um sich zu beruhigen, läuft sie dann immer aus dem Haus und wird eines Tages von ihrem Vater abgefangen. Der erklärt ihr:„Menschen haben manchmal solche Gedanken.“ Wie sie mit ihrer Mutter bei einem Tanzabend ist und diesen sofort wieder verlassen muss, weil auch eine Prostituierte unter den Gästen ist.

Und schließlich erzählt sie in „Liebes Leben“ etwas ausführlicher, wie sie aufwächst und wie ambivalent ihr Verhältnis zu ihren Eltern ist. Zum Vater, der mit dem Züchten von Silberfüchsen und Nerzen in den späten vierziger Jahren kein Glück hat und ihr des öfteren eine Tracht Prügel mit dem Gürtel verabreicht („Das war zu jener Zeit keine unübliche Bestrafung“). Und zur Mutter, einer Lehrerin, die sich aus sehr kleinen Verhältnissen hochgekämpft hat und in ihren mittleren vierziger Jahren an Parkinson erkrankt.

Das Erstaunliche an diesen Erinnerungen ist, dass sie sich so gut in dieses Buch, wenn nicht überhaupt in das Werk von Munro einfügen. Dass sie es vermögen, nicht ihre gesamte Biografie, aber doch sehr viel Wesentliches daraus abzubilden. „Dies ist keine Geschichte, nur das Leben“, bemerkt Munro einmal, da sie glaubt, Überflüssiges zu erzählen. Doch ist es ja gerade das Leben, von dem ihre Geschichten erzählen: das oft nicht spektakuläre Leben, das im Nachhinein für die in der Regel weiblichen Helden einzelne, spektakuläre, erkenntnisreiche Wegmarken aufweist

So wie für die junge Lehrerin aus der Geschichte „Amundsen“. Diese unterrichtet in einer abgelegenen Gegend in einem Sanatorium tuberkulosekranke Kinder und verliebt sich in den zuständigen Arzt, das erste Mal überhaupt, sie wird entjungfert. Heimlich wollen sie heiraten, doch als es soweit ist, „kann“ er nicht mehr, er setzt sie wieder in einen Zug in ihre Heimatstadt. Oder wie bei dem alten Ehepaar in „Dolly“, das den gemeinsamen Selbstmord plant, aber plötzlich durch den Besuch einer Kosmetikvertreterin namens Gwen aufgestört und auf allerfrüheste Eifersüchteleien zurückgeworfen wird. Gwen entpuppt sich als eine weit zurückliegende Affäre von Franklin, dem Mann der Ich-Erzählerin, die sich daraufhin wie ein junges Mädchen benimmt und für eine Nacht aus dem Haus flieht. Und hatte sie sich zuvor nicht noch Sorgen gemacht? Darüber, „dass in unserem Leben nichts mehr passieren würde."

Der Kunst der Aussparung bedient sich Munro nur selten

Immer wieder gibt es in diesen so überaus souverän und kunstvoll arrangierten Geschichten Sätze, die nachhallen, die das Geschehen noch einmal auf den Punkt bringen: „An Liebe ändert sich nie etwas“ lautet es am Schluss der Erzählung über die junge Lehrerin, die viel später den Mann, der sie dann doch nicht heiraten wollte, noch einmal flüchtig wiedertrifft. Doch ist die Liebe in Munros Geschichten nicht gerade beständig. Viele der Frauen, um die es hier geht und die sich häufig rückblickend erinnern, versuchen, wie so oft bei Munro, den engen Verhältnissen der kanadischen Provinz zu entfliehen. Da ist die Schriftstellerin, die ihren Mann betrügt; oder da ist ein nicht besonders hübsches Mädchen, Leah, das in einer Kleinstadt sich erst mit dem Sohn des Pfarrers und dann dem Pfarrer selbst einlässt und am Ende noch den Jahre lang seine todkranke Frau pflegenden Polizisten verwirrt, weil er ihren Namen vergessen hatte: „Er stieg eine gerade Treppe hoch. Leah. Eine Erleichterung über alle Maßen, sich an sie zu erinnern.“

Auffallend an „Liebes Leben“ ist, dass sich Munro der Kunst der Aussparung nur selten bedient, sie sich hier durchaus beredt zeigt – und doch ist die Atmosphäre stets eine befremdliche, leicht unheilschwangere. Die kanadische Autorin hält sich mit Empathie zurück, bei den Ich-Erzählern sowieso, und die Verhältnisse der Figuren zueinander sind höchst komplex. Zum Beispiel meint man in „Kies“, schon früh nicht nur alles über die Ich-Erzählerin zu wissen, die mit der Schuld zu kämpfen hat, nicht rechtzeitig Hilfe geholt zu haben, als ihre ältere Schwester sich einen Jux erlauben wollte und im Winter in eine Kiesgrube sprang und ertrank. Auch über die ältere Schwester erfährt man eine Menge sowie über die Mutter, die ihren Mann, den Vater ihrer Töchter, verließ, um mit einem Schauspieler eine aufregendere Beziehung zu führen.

Häufig ist der zeithistorische und gesellschaftliche Hintergrund gut erkennbar oder gar Thema. Mal sind es die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre, der Zweite Weltkrieg, dann die sexuelle Revolution der sechziger und siebziger Jahre mitsamt dem anschließenden Psychotherapie- und Psychoanalyse-Boom.

Als Munro von ihren Mordphantasien berichtet und von dem schönen, schlichten Satz ihres Vaters beruhigt wird, wirft sie einen Blick in die Gegenwart„Wenn das heute passiert wäre, hätte er für mich vielleicht einen Termin bei einem Psychiater gemacht. (Ich glaube, das hätte ich wohl für ein Kind getan, eine Generation und ein Einkommen später.)“ Ob man ihr das glauben soll? Ihr, die das Mädchen, das sie einst war, so genau kennt und zu analysieren weiß? Die Skepsis bezüglich solcher Therapien findet sich bei einigen Figuren und Erzählerinnen, am stärksten in „Kies“, wo es heißt: „All dieses Ausweiden, das heutzutage in Familien betrieben wird, halte ich für einen Fehler.“ Der Wahrheit über den Menschen, um es pathetisch auszudrücken, womöglich der Wahrheit über sich selbst – der kommt man in den Geschichten von Alice Munro mindestens so nahe wie in Psychotherapiesitzungen.

Alice Munro: Liebes Leben. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 368 Seiten, 21, 99 €.

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