Literaturnobelpreis für Munro: Alice Munro, die stille Virtuosin
Das Gewicht des einzelnen Satzes, des einzelnen Worts: Die kanadische Schriftstellerin Alice Munro ist mehr als nur eine Meisterin der kurzen Form. Sie galt lange als Favoritin für den Literaturnobelpreis, nun hat sie ihn endlich gewonnen.
Wer in ihr nur die Königin der zeitgenössischen Kurzgeschichte sehen wollte, müsste leugnen, wie sehr ihre Stories in den vergangenen 60 Jahren zu einem Universum zusammengewachsen sind. Durch Alice Munros bisher 14, sämtlich auf Deutsch vorliegenden Erzählsammlungen weht ein erstaunlich gleichmäßiger – und letztlich trauterer – Wind als durch die großen Entwürfe der nordamerikanischer Romanciers am anderen Ende der literarischen Skala. Wo in den Romanen von Thomas Pynchon oder Don DeLillo aber die Paranoia wohnt und das Allzumenschliche zur bloßen Fußnote anonymer Strukturen wird, steht bei ihr der Einzelne mit seiner ganzen stillen Verzweiflung im Mittelpunkt, von den Sechzigerjahren bis heute.
Wenn die Schwedische Akademie nun die 1931 in der kanadischen Provinz Ontario geborene Erzählerin mit dem Literaturnobelpreis auszeichnet, mag die Jury jenseits eines in der heimlichen Summe zum Epischen neigenden Schreibens vielleicht auch die Empathiefähigkeiten eines psychologischen Realismus ehren. Das Nobel-Komitee ehrt aber vor allem eine Künstlerin, deren Erzählungen kaum je länger als 30 Seiten sind und die sich auf das Gewicht, das Geheimnis und die Knappheit des einzelnen Satzes versteht: seinen leicht dahinfließenden Rhythmus, seine unbedingte Klarheit und ein Gespür für den Anschluss, nach dem er verlangt. Alice Munro hat einen Ton, der den Leser in seiner gewichtslosen Entschiedenheit sofort mitnimmt. Ja sie hat etwas, wovor viele zurückscheuen, einen Sound.
Alice Munro beweist, was Literatur auf engstem Raum vermag
Nach den barock wuchernden Prosaperioden des Chinesen Mo Yan und den Traum- und Halbschlafgespinsten des schwedischen Dichters Tomas Tranströmer ist dies eine Erinnerung daran, was erzählende Literatur auf engstem Raum vermag. Sie braucht vielleicht so etwas wie Geschichten, die bei Alice Munro allerdings nie im Vordergrund stehen. Auf jeden Fall aber braucht sie sprachliche Konzentration - und Anfänge, in denen schon mehr mitschwingt, als die nackten Wörter sagen.
„Jedenfalls weiß er, wie man die Frauen um den Finger wickelt', sagte Et zu Char“, beginnt die Titelerzählung von „Was ich dir schon immer sagen wollte“ („Something I’ve Been Meaning To Tell You“), Munros drittem Erzählungsband von 1974, der erst im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen ist. „Sie konnte nicht erkennen, ob Char bleicher wurde, als sie das hörte, denn Char war ohnehin so bleich, wie man nur sein konnte.“ Im englischen Original, das Heidi Zerning wie alle Werke Munros zuverlässig übersetzt hat, heißt das: „ ,Anyway he knows how to fascinate the women,’ said Et to Char. She could not tell if Char went paler, hearing this, because Char was pale in the first place as anybody could get.“ Das ist kein Unterschied ums Ganze, allenfalls um eine Nuance, aber dann doch über zwei Dutzend Zeichen kürzer – und im Deutschen eben manchmal um genau jene lästige Silbe länger, die Alice Munro zu sparen weiß.
Die jungen Mädchen, die sich aus ihren kleinen Städten auf dem Land in ein illusionäres Glück hineinsehnen, die früh beginnenden Einsamkeiten, besonders die paarweisen Einsamkeiten, sind ihre Spezialität geworden, und sie hat ihnen inzwischen auch die Vergeblichkeitsmusik der mittleren Jahre hinzugefügt.
Ihre Kindheit am Lake Huron ist bis heute der Stoff für ihre Erzählungen
An der schon bis zum Überdruss wiederholten Charakterisierung von Munro als unserem zeitgenössischen Tschechow, ein Etikett, das ihr John Updike, selbst ein Meisterprosaist auf der Satzebene, anheftete, kommt man indes nicht ganz vorbei. Es benennt gleichermaßen die bewundernswerten Möglichkeiten und die Grenzen ihrer durchweg von einem allwissenden Erzähler getragenen Prosa. Das individuelle Scheitern, das sie immer wieder beschwört, hat eine bittere Süße, in der etwas Tröstliches liegt, aber auch etwas Fatalistisches. Hier sind alle Madame Bovary, hier sind alle die Dame mit dem Hündchen. Diesen Maßstäben hält sie stand, anders als ihre größte deutsche Bewunderin, die Schriftstellerin Judith Hermann, ist sie über den Sound weit hinausgekommen.
Munros Vorbilder sind Katherin Ann Porter, Carson McCullers, Flannery O'Connor
Natürlich hat Alice Munro Anton Tschechow gelesen. Ihre Vorbilder aber sind andere. Der Zeitschrift „Paris Review“ erklärte sie einmal, dass sie mit einer tiefen Verehrung für die Literatur des amerikanischen Südens aufgewachsen sei,auch wenn sie mit William Faulkner nie etwas habe anfangen können. Ihre Heldinnen hießen Eudora Welty, Katherine Ann Porter und Carson McCullers. Frauen, sagte sie bei dieser Gelegenheit auch, könnten viel eher über das Ausgeflippte und Randständige schreiben. Auch von Flannery O’Connor und William Maxwell hat sie einiges gelernt.
Als ältestes von drei Kindern als Alice Laidlaw am Lake Huron geboren und auf einer Silberfuchsfarm in Wingham aufgewachsen, einer von Schotten und Iren geprägten bäuerlichen Gemeinde, hat sie die Gegend nie auf Dauer verlassen. Hier inhaliert sie die flüchtigen Stoffe, aus denen ihre Bücher bestehen – immer wieder unter Rückgriff auf die eigene Kindheit. Heute lebt sie nur rund 30 Kilometer von Wingham entfernt, im kleinen Städtchen Clinton. Und zwar allein, nachdem ihr zweiter Mann, der Geograf Gerald Fremlin im vergangenen April starb. Sie war seit 1976 mit ihm verheiratet.
Literarisch sorgfältig gefilterte und veredelte Spuren ihrer Herkunft aus Huron County finden sich vor allem in dem autobiografisch geprägten Band „Wozu wollen Sie das wissen?“ („The View from Castle Rock“, 2006 - auf Deutsch 2008 erschienen), der sich dann aber doch wieder nicht zu einem geschlossenen Memoir fügt, sondern zu elf lockeren Geschichten aus ihrer Familie.
Der Landstrich südwestlich von Toronto und östlich des Lake Huron wird künftig sicher noch kenntlicher als Munro-Country besucht werden. „Ich bin ganz berauscht von dieser besonderen Landschaft“, gestand sie dem Magazin der „New York Times“. Sie fühle sich zu Hause „inmitten der Ziegelhäuser, der einstürzenden Scheunen, der Trailer Parks, der vergangenheitsbeladenen Kirchen, Wal-Marts sowie der Autogeschäfte und Tankstellen von Canadian Tire. Ich spreche diese Sprache.“ Auch im Land von Ikea, Bauhaus und Primark, wo Alice Munro längst eine eingeschworene Gemeinde hat, wird man sie nun noch besser verstehen.