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Absorbiert täglich die Schadstoffmenge von 20 Autos: Simon Armitages auf einem Spezialstoff gedrucktes Gedicht zum Lob der Luft.
© University of Sheffield/YouTube

Smog und Zensur in China: Airpocalypse Now

Jedes Jahr sterben in China aufgrund der Luftverschmutzung rund 1,2 Millionen Menschen vor der Zeit. In ihrem Film "Under the Dome" hat die Starmoderatorin Chai Jing darauf aufmerksam gemacht - und bekam einen Maulkorb verpasst.

Die Luft, die Luft, könnte man mit dem wundervollen englischen Lyriker Simon Armitage schwärmen, „mein erstes Wort, jedermanns erstes Wort war Luft.“ Ein Wort vor der Sprache, vor allen Sprachen. Eine Substanz, die dem Atem des gesprochenen Worts zugrunde liegt und es überhaupt erst zum anderen trägt. „Ich schreibe zum Lob der Luft", beginnt sein Gedicht „In Praise of Air“. „Sechs oder fünf war ich / als ein Zauberer meine verkrampfte Faust öffnete / und ich in meiner Hand das Ganze des Himmels hielt. / Ich habe ihn seither mit mir herumgetragen.“ Das Ganze ist aber nicht nur ein Gedicht. So, wie es auf einer Fläche von 200 Quadratmetern an einer Fassade der University of Sheffield hängt, wo Armitage als Professor of Poetry lehrt, absorbiert es Tag für Tag den Schadstoffausstoß von 20 Autos. „In Praise of Air“ (www.catalyticpoetry.org), gedruckt auf einen speziell beschichteten Stoff, ist das erste „katalytische Gedicht“ der Welt – und eine Demonstration dessen, was Menschen bewirken würden, die katalytische Kleidung tragen.

China könnte viele solcher katalytischen Gedichte brauchen. Denn die Luftverschmutzung verursacht der Global Burden of Disease Study der Weltgesundheitsorganisation zufolge jährlich rund 1,2 Millionen vorzeitige Todesfälle. Die aus gutem volkswirtschaftlichen Grund um die Folgen besorgte Regierung weiß das so gut wie jeder an seinem Leben interessierte Bürger – auch ohne den morgendlichen Routineblick auf die von der US-Botschaft via Netz (aqicn.org), Twitter und App veröffentlichten Feinstaubmessungen von PM2.5 und anderen Partikeln in den großen Städten. Man sieht und riecht und schmeckt das Unheil nämlich schon, selbst wenn es mitunter die gefährliche Schönheit vieler toxischer Phänomene annimmt.

Stadt im Smog. Peking am 15. März 2015.
Stadt im Smog. Peking am 15. März 2015.
© AFP

„Under the Dome“, die anderthalbstündige, von der chinesischen Starmoderatorin Chai Jing aus eigener Tasche finanzierte Dokumentation über das nationale Smogdesaster, war deshalb auf allen Ebenen, bis hinauf zum gratulierenden Umweltminister, zunächst ein Erfolg. Schon am ersten Tag wurde es auf den einschlägigen Plattformen 155 Millionen Mal geklickt. Bis der Regierung die zivile Gegenmacht suspekt wurde, sie das Video aus Youku und anderen Kanälen verbannte und der Regisseurin einen Maulkorb verpasste. Ein Fall von Zensur, der sich durch nichts entschuldigen lässt, aber angesichts der Tatsache, dass das Problem nun einmal in jeder Hinsicht in der Welt ist, auch etwas Lächerliches hat. Zwar hat man in China zu vielen offiziell vom Great Firewall blockierten Diensten wie Google und Facebook nur mittels einer VPN-Software Zugang, die den Einwahlort verschleiert, auf dem ebenfalls gesperrten YouTube-Kanal aber ist der Film nach wie vor zu sehen, wovon viele Chinesen trotz verstärkter Versuche, auch die VPNs zu stören, Gebrauch machen.

Einen subtilen Eindruck vom Kräftefeld der chinesischen Zensur auf dem Gebiet von Zeitungen und ausländischen Büchern gibt im „New Yorker“ vom 9. März Peter Hessler. In „Travels with My Censor“ erzählt er, inzwischen Korrespondent in Kairo, von einer Buchtour durchs Land, die er mit seinem Dauerschatten Zhang Jiren, einem 37-jährigen Lektor bei Shanghai Translation, unternahm.

Obwohl Jiren kein Zensor im eigentlichen Sinne ist, gehört es doch zu seinen Aufgaben, Hesslers aus dem Englischen übersetzte Chinabücher – „Über Land“ gibt es im Berlin Verlag auch auf Deutsch – gesellschaftlich konform aufzubereiten. Was geht und was nicht, welche oft nur winzigen Kompromisse nötig sind – das ist hier als Kulturgeschichte von Tabus nachzulesen, in denen sich auch der politische Aufbruch der letzten Jahre spiegelt. Hesslers größte Leistung (und sein Anspruch) besteht allerdings darin, einem intelligenten Menschen Gesicht und Stimme zu geben, der in westlichen Zusammenhängen sonst nur als Mitläufer durchgehen würde.Zur ergänzenden Lektüre empfohlen: das ebenso differenzierte, moralisch aber weitaus unversöhnlichere Meinungsstück „China’s Censored World“, das Hesslers „New Yorker“-Kollege Evan Osnos im Mai 2014 in der „New York Times“ veröffentlichte: Gerade das Marginale, argumentiert er, sei manchmal das Zentrale.

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