zum Hauptinhalt
Ein Anfang, der zu keinem Ende fand. Die Eingangsszene von Franz Kafkas „Prozess“.
© DLA-Marbach

Kafka in Berlin: Abschiedsgrüße an Fräulein Bürstner

„Der ganze Prozess“: Der Martin-Gropius-Bau zeigt das vollständige Manuskript von Franz Kafkas berühmtestem Roman.

Der Kontinent Kafka ist eine der besterforschten Textmassen dieser Erde. Über ihren Weiten kreisen die Aufklärungsdrohnen der Biografen, durch ihr sinistres Unterholz stapfen die Psychoanalytiker, und mit ihren sexuellen Ambivalenzen plagen sich die Genderexpertinnen. Es gibt wohl kein zweites Werk, das von Erklärungen und Kommentaren derart überwuchert wird, dass die wirklich hilfreichen Handreichungen zu seiner Eroberung fast aus dem Blick geraten.

Großtaten wie jüngst Reiner Stachs dreiteilige Kafka-Biografie leisten einen entscheidenden Beitrag zur Demystifikation eines Mannes, der zwangsläufig unter den Bedingungen seiner Zeit agierte. Sie mindern die literarische Fremdheit, die Kafka selbst aus den banalsten Aspekten seiner Existenz schöpfte, jedoch nur insoweit, als er, der Prager Jude mit juristischer Fron in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, eben nicht in einem kulturell luftleeren Raum lebte. In seiner Abgründigkeit wehrt sich der bis auf einige Leerstellen gründlich vermessene Kontinent gegen die dauerhafte Urbarmachung, eine moderne Kanalisation und das Aufstellen von hermeneutischen Windrädern.

Man kann deshalb nichts Besseres raten als „Zurück zu den Quellen“. Zurück zur geduldigen Aufmerksamkeit für Kafkas kleine Prosa, deren Ereignisreichtum einem Satz für Satz die Augen aufreißt, während ein Roman wie „Der Prozess“ auch eine gierigere Lektüre verträgt. Einem 15-Jährigen wird die Kinnlade dabei anders herabsinken als einem 50-Jährigen, aber wie viel Wissen sich im Hintergrund auch angesammelt haben mag: Kafka schaut einen so unnachsichtig undurchdringlich an wie am ersten Tag.

Messer im Herzen

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Das ist der berühmte erste Satz des im August 1914 begonnenen Romans, und dass ihm bald ein letztes Kapitel folgte, in dem zwei Herren auf den Bankprokuristen Josef K. zutreten, von denen einer ihn würgt und der andere ihm ein Messer ins Herz sticht und zweimal herumdreht, klingt nach einer Zielstrebigkeit des Schreibens, die Kafka in den zehn Quartheften, die er in hastiger Parallelität bis zum Januar des folgenden Jahres füllte, bevor er den Roman unvollendet beiseitelegte, weder besaß noch besitzen wollte.

Die Entstehung gleicht dem Schuldlabyrinth, in das sich Josef K. immer tiefer hineinbegibt: einerseits interessiert daran, seinen Fall schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen, andererseits so gutgläubig ungläubig gegenüber dem ihm entgegengebrachten Verdacht, dass er ihn gar nicht erst hartnäckig genug zerstreut. „Das Gericht will nichts von dir“, sagt ihm der Gefängniskaplan, der auch die legendäre Türhüter-Parabel erzählt. „Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“

Vor vier Jahren war das „Prozess“-Manuskript erstmals vollständig in einer Ausstellung des Literaturarchivs Marbach zu sehen: als wertvollstes Stück der nach Oxfords Bodleian Library größten Sammlung von Kafka-Handschriften. Was es nun in den Martin-Gropius-Bau nach Berlin bringt, eine Institution mit ganz anderen Aufgaben, ist offenbar vor allem ein Versprechern, das Hausherr Gereon Sievernich gegenüber Ulrich Raulff einhalten wollte, bevor er in Ruhestand geht. Dazu kommt der biografische Zufall, dass Kafka wenige Wochen vor der „Prozess“-Niederschrift unmittelbar nebenan, im heute nicht mehr existierenden Askanischen Hof, vor Felice Bauer die erste Auflösung seiner Verlobung mit ihr rechtfertigte, in Gegenwart von Felices Schwester Erna und der Freundin Grete Bloch.

Verlobung und Verhaftung

Eheuntüchtig. Der etwa 32-jährige Franz Kafka auf einem Passfoto 1915/16.
Eheuntüchtig. Der etwa 32-jährige Franz Kafka auf einem Passfoto 1915/16.
©  Archiv Klaus Wagenbach

Tatsächlich kann man in dieser Verteidigungs- und Anklageszene ein Schlüsselerlebnis sehen. „Die Verlobung“, schrieb Elias Canetti, „ist zur Verhaftung des ersten Kapitels geworden, das ,Gericht‘ findet sich als Exekution im letzten.“ Allerdings sperrte Kafka damit ein ganzes Universum auf, und es zählt schon zu den höheren Weihen eines unleugbaren Neurotikers, auf das Drama mit Felice Bauer in der hochkomischen Affäre mit dem initialengleichen Fräulein Bürstner anzuspielen, dem Josef K. in nächtlicher Leidenschaft einen Kuss auf die Halsschlagader presst. Unvergesslich auch Leni, die Pflegerin des Advokaten Huld, ausgestattet mit einem Häutchen zwischen Mittel- und Ringfinger und einem „bitteren, aufreizenden Geruch wie von Pfeffer“. Die Männer sind nicht weniger seltsam.

In der puristischen Art und Weise, wie das Konvolut unter stark gedämpftem Licht in eigens für die Berliner Ausstellung gebauten Vitrinen präsentiert wird, eignet es sich aber allenfalls zum mühsamen Lesen – und hilft auch keiner neuen philologischen Erkenntnis, wie sie Malcolm Pasley, der verstorbene Herausgeber der kritischen Kafka-Ausgabe, 1990 in einem „Marbacher Magazin“ zur ersten Teilausstellung des 1988 erworbenen Manuskripts im Literaturarchiv beschrieb, auf die Sprünge. Vielmehr dient sie der auratischen Präsentation eines Manuskripts, das in seiner kalligrafischen Anmutung mit den kräftigen Unterlängen und den leicht gefetteten T-Strichen den Charakter einer heiligen Schrift annimmt. Man soll sie gar nicht im Detail entziffern, sondern sich ehrfürchtig vor ihr verneigen. Dafür spielt es auch keine Rolle, dass sie hier der Anordnung von Max Brod folgt, der sie einmal vor Kafkas Verbrennungswunsch rettete – und einmal vor der Wehrmacht. In Marbach war einst Pasleys Fassung zu sehen.

Ob das der richtige, ob das überhaupt ein Zugang zu Kafka und seinem radikal diesseitigen Erzählen ist? Wenn es eine Literatur gibt, deren sich ganz im Nüchtern-Konkreten ereignende Unheimlichkeit nach einem Bilderverbot ruft, dann seine. Insofern ist es ein Sakrileg, dass in einem Nebenraum ausgerechnet die „Prozess“-Verfilmung von Orson Welles mit Anthony Perkins aus dem Jahr 1962 die Imaginationskraft einengt. Was als Dokument von Welles’ spätexpressionistischer Handschrift seinen Wert hat, ist als Illustration des Texts ein Unding – umso mehr, als an keiner anderen Stelle erklärt wird, worum es im „Prozess“ geht und was er uns noch soll. Als Buch liegt er nicht einmal aus. Dafür verbergen sich rund 50 zeitgenössische Übersetzungen aus aller Welt hinter Glas. Schüler sind hier verloren.

Der ganze Prozess ist nur der halbe

Im Übrigen ist der ganze „Prozess“, der hier versprochen wird, in Wahrheit nur der halbe. Von den 171 ausgelegten Blättern sieht man nur die Vorderseite. Man müsste die Besucher liegend unter den – nach unten derzeit nicht transparenten – Vitrinen hindurchrollen, um ihnen auch einen Eindruck von der anderen Seite zu verschaffen, oder die Ausstellung gleich in die Vertikale bringen.

Immerhin kann man in einer Ecke auf zwei großen Bildschirmen in der handschriftlichen Faksimile-Ausgabe des Stroemfeld-Verlages mit der typografischen Umschrift von Roland Reuß und Peter Staengle blättern. Für die zeitgeschichtlich-biografische Einbettung sorgt eine von Hans-Gerd Koch besorgte Fotoauswahl aus Klaus Wagenbachs Sammlung in einem Kabinett: überwiegend winzige Aufnahmen von Kafkas Familienangehörigen, Freunden und Freundinnen, versehen mit kurzen autobiografischen Zeugnissen. Sehr viel komfortabler – und umfangreicher – begegnet man ihnen in dem Prachtband „Bilder aus seinem Leben“ (Wagenbach).

Hilfestellung gibt auch die Neuauflage eines wie immer verschwenderisch schön gestalteten „Marbacher Magazins“ aus dem Jahr 2013. Es dient als Katalog und enthält Schlaglichter von Louis Begley, Wilhelm Genazino, Péter Esterházy, Lothar Müller, Reiner Stach und vielen anderen. Bei so viel Lektüre bleibt man aber am besten gleich zu Hause. Im Gropius-Bau wird auf Pseudo-Tuchfühlung ein Werk der Weltliteratur inszeniert, ohne dass man ihm einen Millimeter näherkommt.

Martin-Gropius-Bau, bis 28. August, Mi bis Mo 10–19 Uhr, Katalog 10 €.

Zur Startseite