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Anna Meier muss sich mit Schirm und Gesichtsschleier schützen.
© Martin Donath

Seltene Erkankungen: Leben im Schatten

Vier Millionen Deutsche leiden an seltenen Erkrankungen. Eine Betroffene haben wir gesprochen. Sie darf sich nicht zu lange der Sonne aussetzen.

Wenn Anna Meier (Name geändert) morgens aufwacht und die Sonne sieht, gerät sie in Panik: Wird sie den Tag überstehen? Oder muss sie alle Termine absagen und zu Hause bleiben? Denn auf Sonnenlicht reagiert sie mit Schmerzen. Die 30-Jährige leidet an Erythropoetischer Protoporphyrie (EEP). In Berlin und Brandenburg sind davon nur rund 50 Menschen betroffen. Doch sie gehören zur riesigen Gruppe von schätzungsweise vier Millionen Deutschen, die mit einer von 8000 seltenen Erkrankungen leben müssen.

EPP führt dazu, dass Sonnenstrahlung im Blut von Anna Meier Oxidationen auslöst, die sie als Explosionen empfindet. Nach wenigen Sekunden fühlt sie ein schmerzhaftes Kribbeln, nach fünf Minuten eine Verbrennung, als würde sie die Hand in eine Flamme halten. Dann sucht sie panisch den nächsten Schatten. Meier erträgt maximal zehn Minuten Sonne am Tag. Doch auf ihrem Arbeitsweg muss sie täglich eine Stunde in der Sonne verbringen. Um die Schmerzen auszuhalten, trägt sie auch mitten im Sommer Lederhandschuhe, Hut, Sonnenschirm und Gesichtsschleier. Sie wird dann von Passanten angestarrt und hört Sprüche wie „So heiß ist es doch gar nicht“ oder „Jetzt ist der Islam schon bis hierher vorgedrungen“. Deswegen kostet es sie Überwindung, überhaupt das Haus zu verlassen.

Wer eine seltene Erkrankung hat, lebt im Schatten. 80 Prozent der Fälle sind genetisch bedingt, auch bei Anna Meier, aber anders als bei Hannelore Kohl, deren Lichtunverträglichkeit vermutlich als Nebenreaktion auf Medikamente erworben war. Für die meisten Betroffenen existieren weder Heilung noch Therapie, keine Medikamente, wenig Informationen, wenig Experten und lange Wege bis zur Diagnose. „Das Schlüsselproblem ist, dass sich für Pharmaunternehmen die Erforschung seltener Erkrankungen nicht lohnt“, sagt Rania von der Ropp, Sprecherin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (Achse). Anna Meier weiß erst seit fünf Jahren, dass sie an EPP leidet. Vorher wurde bei ihr eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Das ist typisch, erklärt von der Ropp: „Ärzte nehmen häufig eine psychosomatische Ursache an, weil sie nicht alle seltenen Erkrankungen kennen.“ Deshalb rät sie Ärzten, im Zweifel an einen Selbsthilfeverein zu verweisen.

Rajan Somasundaram, Experte für Lebererkrankungen an der Charité, meint selbstkritisch: „Wir Ärzte müssen bei der Diagnosesuche öfter an seltene Erkrankungen denken und auf Selbsthilfegruppen hören.“ Er behandelt fünf Patienten mit EPP, auch Anna Meier lässt sich bei ihm regelmäßig auf eine mögliche Lebererkrankung untersuchen. Fünf Prozent aller EPP-Patienten entwickeln eine Leberzirrhose. Mit Medikamenten kann Somasundaram ihnen nicht helfen. Das einzige Medikament, das nützen könnte, ist das Hormonpräparat Afamelanotide mit dem Handelsnamen Scenesse, das die Hautbräunung anregt. Anna Meier könnte damit 30 Minuten länger am Tag in der Sonne bleiben.

Doch Scenesse bedarf einer kritischen Prüfung, erklärt Somasundaram. „Es stimuliert die Pigmentzellen, die bei einer Entartung zu schwarzem Hautkrebs führen können“. Das Medikament ist in Deutschland nicht zugelassen, deswegen übernehmen Krankenkassen nicht die Kosten. Eine Dosis (Wirkdauer: zwei Monate) kostet 6750 Euro. Am 25. September will der Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittelagentur entscheiden, ob Scenesse in der EU zugelassen wird. Von der Ropp kritisiert, dass bei seltenen Erkrankungen Krankenkassen oft keine Kosten für Medikamente oder Fahrkosten zu Experten übernehmen, weil viele von ihnen noch nicht im Leistungskatalog aufgenommen sind. Sie rät Betroffenen, hartnäckig zu sein und nach einer Ablehnung die Kostenerstattung erneut zu beantragen.

Neben körperlichen Schmerzen leidet Anna Meier unter sozialer Isolation. Sie kann sich nicht einfach ins Café setzen. „Selbst gute Freunde glauben mir nicht, dass ich krank bin.“ Denn EPP ist unsichtbar, die Schmerzen sind nicht auf ihrer Haut zu sehen. Viele Betroffene isolieren sich selbst, sagt von der Ropp, „weil sie in ihrem Umfeld auf Unverständnis stoßen. Sie müssen sich ständig erklären und werden für Simulanten gehalten, weil ihre Erkrankung nicht im Katalog der Krankenkassen steht oder sie noch keine zutreffende Diagnose haben.“

Die meisten Betroffenen empfänden die Diagnose als Befreiung, so von der Ropp: Endlich ist die quälende Ungewissheit weg. Das Umfeld reagiert mit mehr Verständnis. Auch Anna Meier hat die Diagnose EPP neues Selbstbewusstsein gegeben. Seitdem traut sie sich – wenn die Schmerzen überhandnehmen – zu sagen, dass sie in ein Gebäude gehen will.

Am 25. September feiert die Achse ihr 10-jähriges Bestehen in der Kulturbrauerei. Informationen: www.achse-online.de Am 25. September feiert die Achse ihr 10-jähriges Bestehen in der Kulturbrauerei. Informationen: www.achse-online.de

Martin Donath

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