zum Hauptinhalt
Wiebke Siska demonstriert die Folgen des Schüttelns an einer Puppe.
© D. Spiekermann-Klaas

Präventionsprojekt der Charité in Berlin: Frust über Schreibabys ist erlaubt, Schütteln nicht

Rund 50 Mal pro Jahr passiert es in Berlin und Umgebung: Ein Elternteil schüttelt ein Baby so sehr, dass es hinterher behindert ist. Jedes fünfte dieser Kinder stirbt daran. Ein Präventionsprojekt an der Charité zeigt Erfolge. Nun soll es ausgeweitet werden.

Das Neugeborene im roten Frotteestrampler ist entspannt. Es liegt auf der Brust der Mutter, die unablässig den winzigen Rücken streichelt. Eine Situation voller Harmonie – ganz so wie sie sich jede werdende Mutter ausmalt. Doch eigentlich geht es gerade um jene anderen Mutter-Kind-Momente: Jene, die so gar nicht harmonisch und schön sind.

„Sie kennen das ja, Sie haben ja schon drei Kinder. So richtig viel kann man nicht machen, wenn Babys nicht aufhören wollen zu schreien“, sagt die Neonatologin Andrea Loui, die der jungen Mutter in einem Zimmer des Virchow-Klinikums der Charité, wo die Mutter entbunden hat, gegenüber sitzt. Die Mutter nickt. Die Ärztin spricht darüber, dass es normal sei, wenn Mütter sich dann hilflos fühlten und aufgeregt seien. „Das kann sich aufschaukeln. Ehe man sich zu sehr aufregt, sollte man das Kind ganz ruhig in sein Bettchen legen und sich Hilfe holen.“ Wichtig sei es, Entspannungsphasen einzuplanen – und wenn es mit dem stundenlangen Schreien nicht besser werde, eine Schreibaby-Ambulanz zu kontaktieren.

Jetzt sitzt Ärztin Loui schon eine ganze Weile bei Mutter und Baby und hat noch immer nicht direkt ausgesprochen, worum es eigentlich gerade geht: um das Schütteltrauma. Es ist ein Aufklärungsgespräch, das mit jeder Frau geführt wird, die in einer der Kliniken der Charité entbindet. Meist findet das Gespräch bei einer der obligatorischen Untersuchungen nach der Geburt statt. Fast 5000 Babys pro Jahr werden hier geboren.

Die Ärztin reicht der Mutter des Babys im roten Strampler einen Flyer mit Informationen und hilfreichen Telefonnummern. Dann kommt sie auf den Kern der Sache: „Was darf man auf keinen Fall machen? Sie wissen es sicher von ihren anderen Kindern. Man darf das Baby auf keinen Fall schütteln. Das wäre ganz schlecht fürs Gehirn, weil da auch Nerven verlaufen. Das kann zu schweren Schäden führen.“ Die Mutter sagt nicht viel dazu, sie hat auch keine Fragen. „Ich kannte das alles schon“, sagt sie später achselzuckend. „Aber schaden kann so was nie.“ Nein, angegriffen fühle sie sich nicht, dass die Idee im Raum steht, sie könne ihr Kind schütteln. „Ist ja bloß Aufklärung.“ Ihren Namen und den ihres Kindes möchte sie in diesem Zusammenhang aber auf keinen Fall in der Zeitung lesen.

Jedes fünfte geschüttelte Kind stirbt daran

„Es ist wichtig, dass die Eltern aus dem Beratungsgespräch mitnehmen: Sie haben die Erlaubnis, solche negativen Gefühle ihrem Kind gegenüber zu haben, es gibt dann Unterstützungsmöglichkeiten – aber man darf nicht schütteln“, sagt hinterher die Sozialpädagogin Wiebke Siska vom Sozialdienst und der Kinderschutzgruppe der Charité. Seit etwa vier Jahren gebe es die Gespräche. „Und seitdem wurde kein Kind, das an der Charité geboren wurde, mit einem Verdacht auf Schütteltrauma an der Charité eingeliefert.“ Andere Kinder aber schon, fünf waren es in der Charité im vergangenen Jahr.

Deshalb sind die Aufklärungsgespräche zwar ein Erfolg – aber einer, der noch nicht ausreicht. „Das Schütteltrauma ist noch immer eine der häufigsten Todesursachen bei Säuglingen“, sagt Siska. Jedes fünfte geschüttelte Kind stirbt daran, nur zehn Prozent werden wieder gesund. „Etwa 200 Fälle gibt es in Deutschland jedes Jahr – und eine Dunkelziffer.“ Siska ist deshalb gerade dabei, eine Präventionskampagne zu organisieren, die über die Charité hinausreicht. Dazu soll ein Aufklärungsfilm entstehen, der dann auf den Bildschirmen in Berliner U-Bahnen gezeigt wird. Er soll auch anderen Krankenhäusern zur Verfügung gestellt werden.

Auf Wiebke Siskas Schoß sitzt eine lebensgroße Babypuppe, die etwas gruselig wirkt: Ihr Kopf ist transparent, dahinter sieht man ein Gehirn. „Schütteln Sie die mal“, sagt die Sozialpädagogin und reicht sie vorsichtig herüber. Siska hat einen Knopf an der Puppe gedrückt, die jetzt tatsächlich schreit. Überwindet man sich und schüttelt – mittelmäßig stark und gar nicht so lange – verstummt sie. „Ein Baby wäre jetzt bewusstlos“, sagt Siska. Im transparenten Puppenschädel leuchten an mehreren Stellen rote Lämpchen auf – vor allem im Stirn- und im Nackenbereich. Dort wäre das Gehirn irreparabel geschädigt worden. Vorn ist das Sehzentrum. Die Schäden an den Nervenzellen dort führen oft zur Erblindung. Hinten ist das Atemzentrum: Reißen dort die Nervenverbindungen, stirbt das Kind.

Wird ein Säugling geschüttelt, dessen Nacken- und Halsmuskulatur den schweren Kopf noch nicht richtig halten kann, schlackert der Kopf unkontrolliert hin und her – und mit ihm das Gehirn, das im Gehirnwasser schwimmt. Die Blutgefäße, die zwischen Hirnhaut und Gehirn verlaufen und Sauerstoff und Zucker transportieren, reißen. Das Hirn wird nicht mehr versorgt. Wird das Kind nicht ganz so stark geschüttelt, reißen nur kleinere Blutgefäße. Dann sind die Symptome Unruhe, Schläfrigkeit und Erbrechen. Sind größere Blutgefäße geschädigt und die Hirnblutung damit stärker, wird das Kind bewusstlos.

Die meisten Täter sind neue Lebensgefährten der Mutter. Vor allem die Männer sind nur schwer zu erreichen

Wiebke Siska demonstriert die Folgen des Schüttelns an einer Puppe.
Wiebke Siska demonstriert die Folgen des Schüttelns an einer Puppe.
© D. Spiekermann-Klaas

Wenn ein Kind mit Verdacht auf ein Schütteltrauma in ein Krankenhaus in Berlin oder Umgebung eingeliefert wird, informieren die Ärzte Saskia Etzold, Rechtsmedizinerin an der Charité. Wie Wiebke Siska gehört sie zur Kinderschutzgruppe. Sie wird immer dann gerufen, wenn generell ein Verdacht auf Kindesmisshandlung vorliegt.

Während es sich bei älteren Kindern um unterschiedliche Verletzungen handele, gehe es bei Säuglingen unter einem Jahr tatsächlich meist um ein Schütteltrauma, wenn sie hinzugezogen wird. „Ich berate dann die Kollegen, welche Zusatzuntersuchungen notwendig sind, um einen eindeutigen Befund zu bekommen. Und wenn die Polizei eingeschaltet wird, schreibe ich ein Gutachten fürs Gericht.“ Insgesamt seien es wohl rund 50 Babys pro Jahr, die in Berlin und Umland mit Verdacht auf ein Schütteltrauma in ein Krankenhaus kämen. Oft leugnen die Eltern, dass sie das Kind geschüttelt haben.

Saskia Etzold untersucht dann das Baby, um herauszufinden, was in seinem Gehirn passiert ist: „Ein Schütteltrauma können sie anhand der Trias erkennen: Ein Anhaltspunkt sind Blutungen zwischen harter und weicher Hirnhaut, die man auf der Magnetresonanztomografie (MRT) und der Computertomografie (CT) sieht“, erklärt die Rechtsmedizinerin. „Der zweite Anhaltspunkt ist der Befund des Augenarztes: Wenn es Einblutungen im Augenhintergrund gibt. Diese kann man nicht von außen sehen, dazu muss der Augenhintergrund gespiegelt werden.“ Der dritte Indikator seien die neurologischen Auffälligkeiten: Wenn Kinder schlecht trinken, Krampfanfälle haben, schläfrig sind – oder im Koma liegen und beatmet werden müssen. „Meistens ist der Befund eindeutig.“

So war es auch bei jenem Kind, das die Mutter allein mit dem Vater gelassen hatte, um zum Arzt zu gehen. Als sie auf dem Rückweg war, bekam sie einen panischen Anruf vom Vater: Das Kind würde nicht mehr richtig atmen. Sie rief von ihrem Handy aus den Rettungswagen. Als sie zu Hause ankam, waren die Sanitäter schon dort, das Kind wurde beatmet. Im Krankenhaus zeigte sich dann im Ultraschall, dass es eine Blutung zwischen harter und weicher Hirnhaut hatte. Und Rippenbrüche. „Die sieht man häufig in diesem Zusammenhang, weil die Kinder so fest gepackt werden“, sagt Etzold. Die Polizei kam in die Klinik, um die Mutter zu befragen. „Da wurde die Mutter zum ersten Mal damit konfrontiert, dass das Kind geschüttelt worden war. Sie fiel aus allen Wolken.“

Das Baby überlebte, ist seitdem entwicklungsverzögert. 90 Prozent der Überlebenden leben mit einer Behinderung weiter: Lernstörungen, Blindheit, Taubheit, schwere Bewegungsstörungen, schwere geistige Behinderung und sogar Wachkoma sind die Folgen. Auch die Folgen für die Familie sind furchtbar: In diesem Fall wurde der Vater zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt, die Mutter hatte ihn unmittelbar nach der Tat verlassen und er ist seitdem erwerbslos. Die meisten Täter seien neue Lebensgefährten der Mütter, sagt Saskia Etzold. An zweiter Stelle stünden die Väter, an dritter die Mütter. „Die Väter erreichen wir noch nicht immer“, sagt Sozialpädagogin Siska.

Oft geschehe ein Schütteltrauma in kleineren Familien mit wenig sozialer Unterstützung. „Das zieht sich durch alle sozialen Schichten.“ Ein Fragebogen zu den persönlichen und familiären Umständen, den alle Frauen, die in der Charité entbinden, ausfüllen, zeige oft, in welchen Familien das Wohl des Kindes gefährdet sein könnte – auch in anderer Hinsicht. Solchen Familien hilft Siska besonders. Wenn eine Mutter etwa depressiv oder drogenabhängig oder der Vater Alkoholiker ist, übernimmt sie das Beratungsgespräch und erarbeitet mit der Familie spezielle Unterstützungsmöglichkeiten. „Gerade in der Situation nach der  Geburt nehmen die meisten Familien Hilfe an“, sagt Siska. „Denn alle Eltern wollen gute Eltern sein.“

Infos und Hilfe finden sich etwa bei der Hotline Kinderschutz (24 Stunden Beratung und Soforthilfe): Tel. 030-610066 oder unter www.trostreich.de oder der Projektseite der Charité zur Schütteltrauma-Prävention.

Zur Startseite