Gesundheit: Stimulation für die Seele
Gesang vertieft die Atmung und entspannt den Körper. Der Verein „Singende Krankenhäuser“ will damit die Heilung fördern. Ein Besuch in Neukölln.
Fünf Schritte sind es noch bis zum ihrem Stuhl, Renate Lengnick muss sich erst einmal setzen. Das Atmen fällt ihr schwer heute zu Hause bleiben wollte sie trotzdem nicht. „Wenn ich gar nichts mehr mache, dann kann ich mich ja gleich zum Sterben hinlegen“, sagt die 75-Jährige, während sie ihre Jacke auszieht. Langsam kommt sie zur Ruhe, die Stimme wird tiefer und bekommt mehr Volumen. Die meisten Besucher, die an diesem Montagnachmittag kurz vor 15 Uhr in den kleinen Raum im Vivantes Klinikum Neukölln kommen, haben eine Krebserkrankung hinter sich. Renate Lengnick leidet an der schweren Lungenkrankheit COPD.
Trotzdem werden sie alle in den nächsten 60 Minuten fast pausenlos singen. Los geht es mit dem Eingangslied, bei dem die Leiterin Barbara Bader mit der Gitarre zwischen den Sängern hin- und herläuft. Und sie werden summen – zum Beispiel die Bus-Übung: „Stellt euch vor, der Bus ist voll, ihr müsst stehen und fahrt übers Kopfsteinpflaster“, sagt Barbara Bader. Die Gruppe stellt die Situation nach, mitten im offenen Raum. Ein „WOWOWOWOWOWOWOWO“ wabert durch das Zimmer, alle schütteln sich ordentlich durch, das macht die Stimme wach und bringt den Körper zum Klingen. Nach zwei, drei Minuten lassen sie die unsichtbaren Haltegriffe in der Luft wieder los und die Arme fallen zurück neben den Körper.
Weiter geht es im Sitzen. Ein klitzekleines Lied jeden Tag ändert das Leben, singen sie, „und es bleibt nichts, wie es war“. Den Begriff Lied ersetzen sie nacheinander durch Worte wie Kuss, Umarmung, Bewegung. So geht es sechs Minuten lang, bis die Gitarre allmählich langsamer wird und die letzte Strophe einleitet. Singen kann wie ein Rausch sein, die Gruppe gerät an diesem Nachmittag immer wieder in einen Strudel aus Texten und Melodien und will eigentlich überhaupt nicht mehr aufhören. Wem es dann doch zu viel wird, der setzt sich zurück auf seinen Stuhl und ruht sich aus. So wie Renate Lengnick, die jetzt kurz verschnaufen muss.
Singen kann die Zeit dehnen und den Körper entspannen. Auch im Leben von Barbara Bader hat es vieles verändert. Sie hat eigentlich schon immer viel Musik gemacht, nach der Schule dann aber doch Pharmazie studiert. Dass die Apotheke, in der sie beschäftigt ist, schließen muss, ist für sie ein „willkommener Anlass“ für eine Neuausrichtung: Zunächst lässt sie sich zum Gesundheitscoach ausbilden, dann macht sie beim Verein „Singende Krankenhäuser“ eine Weiterbildung zur Singleiterin, als erste Berliner Teilnehmerin überhaupt. Das Projekt kommt aus Süddeutschland,es baut auf dem Gedanken auf, dass Gesang gut für die Gesundheit ist und deshalb in Einrichtungen wie Krankenhäusern, Psychiatrien oder Rehakliniken gepflegt werden sollte. In Berlin gibt es noch nicht viele Kooperationspartner: Das St.Joseph Krankenhaus beteiligt sich, seit einem Jahr ist auch das Gemeinschaftshospiz Christophorus in Kladow dabei.
Auch Barbara Bader plant schon die nächste Gruppe, die sie bald am DRK-Klinikum Westend gründen möchte. Die Neuköllner Gruppe leitet sie seit anderthalb Jahren. Maike de Wit, die Chefärztin der Hämatologie und Onkologie, hat sie damals engagiert. De Wit ist auch Psychotherapeutin, sie hat in einer Fachzeitschrift von den „Singenden Krankenhäusern“ gelesen. Das Konzept leuchtete ihr sofort ein: „Ich selber bin in meinem früheren Krankenhaus immer dadurch aufgefallen, dass ich summend durch die Gänge gelaufen bin“, erzählt sie am Telefon. Die Singgruppe finanziert sie durch Vortragshonorare. Singen tue einfach gut, vor allem Menschen mit einer kranken Lunge konzentrierten sich plötzlich auf ihre Stimme und nicht mehr auf ihre Probleme mit der Atmung. Beim Singen sei es eher so, dass „es“ atmet, bringt Maike de Wit die Sache auf den Punkt.
Gesang aktiviert das Zwerchfell, vertieft die Atmung und weitet die Atemräume. Trotzdem waren viele Patienten am Anfang skeptisch. Inzwischen hat die Gruppe 15 feste Sänger. Aus gesundheitlichen Gründen können allerdings nicht alle jede Woche dabei sein. Als Waltraud Schadow 2012 zum ersten Mal zu Barbara Bader kam, war sie 20 Kilo schwerer und schob einen Rollator vor sich her. Heute macht sie jede Übung mit, singt alle Lieder von vorne bis hinten durch, besonders gerne die aus anderen Ländern: „Das ist herrlich.“ Und auch eine gute Vorbereitung auf die Weltreise, die sie nächstes Jahr machen will. Waltraud Schadow hatte Krebs und leidet auch unter COPD, doch sie fühlt sich gut – und belastbar. Nur eines hat sie bislang nicht geschafft: ihren Mann zum Mitsingen zu überreden. „Das möchte er nicht.“ Obwohl er sie jede Woche bringt und auch wieder abholt.
Barbara Bader würde natürlich nicht behaupten, dass es Waltraud Schadow heute nur deshalb so gut geht, weil sie regelmäßig in ihre Gruppe kommt.Aber es ist ein Baustein: „Sie hat sich Tätigkeiten gesucht, die die Seele stimulieren.“ Und dazu gehört eben auch der Gesang.
Rita Nikolow
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