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Rückenschmerzen: Betroffene legen sich zu häufig unters Messer

Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Beschwerden. Welche Arten von Rückenschmerzen gibt es? Wie entstehen sie? Und ist eine Operation notwendig?

Auch Chirurgen sind mittlerweile der Meinung, dass in Deutschland zu viel operiert wird. Ein Beispiel dafür sind Wirbelsäuleneingriffe, deren Zahl sich seit 2005 mehr als verdoppelt hat. Das errechnete das Wissenschaftliche Institut der AOK. Detaillierte Zahlen dazu veröffentlichte es im Krankenhaus-Report 2013 mit seinem Schwerpunkt „Mengendynamik – Mehr Menge, mehr Nutzen?“ Die Rückenoperationen dienen da nur als Beispiel für die Steigerung chirurgischer Eingriffe wie auch anderer aufwendiger Behandlungen, die oft nicht unbedingt erforderlich sind.

Prompt widersprach die Deutsche Krankenhausgesellschaft: Die vermehrten Klinikleistungen hätten zwei Gründe: Die zunehmende Zahl alter, kranker Menschen und den medizinischen Fortschritt. Chirurgen sehen als dritten Grund jedoch kommerzielle Motive. Die Chefärzte würden von den kaufmännischen Krankenhausleitungen unter Druck gesetzt, möglichst viel und möglichst teuer zu operieren. Seit Jahren kritisiert die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, Dachorganisation aller chirurgischen Fachvereinigungen, öffentlich die steigende Zahl von Operationen. Wenn die Chirurgen dies selber tun, muss man es wohl ernst nehmen.

Hohe Nachfrage: Operationen gegen Rückenschmerzen

Als Ort der (Be-)Handlung, die zum Teil nutzlos oder gar schädlich ist, nennen sie immer wieder Knie, Hüfte und Rücken an erster Stelle. Den Anstieg der Wirbelsäuleneingriffe untersucht eine Gruppe von Versorgungsforschern sehr sorgfältig und publizierte die Ergebnisse in einem ganzen Kapitel des Krankenhaus-Reports. Das demografische Argument entkräfteten sie mit dem üblichen rechnerischen Verfahren der Altersstandardisierung. Selbst bei Berücksichtigung der höheren Lebenserwartung wäre die Zunahme der Eingriffe enorm. Und der medizinische Fortschritt scheint nur bei ganz bestimmten Rückenleiden mit Recht zu häufigeren Operationen zu führen. Ein Beispiel ist die Einengung des Wirbelkanals durch knöcherne Neubildungen, die Spinalkanalstenose. Der schonende mikrochirurgische Eingriff, bei dem nur jene Knochenteilchen weggefräst werden, die einen Nerv bedrängen, hat sich weitgehend durchgesetzt. Weil die Engpass-Operation risikoärmer und erfolgreicher ist, wurde sie häufiger.

Nützliche neue Operationstechniken können aber nicht die großen regionalen Unterschiede der Häufigkeit von Rückenoperationen innerhalb Deutschlands erklären: Die Analyse solcher Unterschiede ist eine wichtige Methode der Versorgungsforschung. Man findet damit Hinweise auf eine mögliche Über-, Unter- oder Fehlversorgung von Patienten. Bei AOK-Mitgliedern schwankt die Rate der Rückeneingriffe zwischen den Bundesländern um das 2,1-Fache. In Bayern zum Beispiel fanden 501 pro 100 000 Einwohner statt, im benachbartem Baden-Württemberg nur 365.

Bestimmt hier das Angebot die Nachfrage? In Bayern gibt es besonders zahlreiche „Wirbelsäulenzentren“. Ein Anreiz auch für schmerzgeplagte Rückenleidende? Allgemein wird geraten, vor einer Operation, wo und wie auch immer, eine zweite Meinung einzuholen, und zwar bei einem Arzt, der kein finanzielles Interesse an dem Eingriff hat.

„Jede Operation ist auch ein erhebliches Gesundheitsrisiko für den Patienten“

Für die meisten Rückenschmerzgeplagten kommt ein Eingriff ohnehin nicht infrage, denn: „Bei der Mehrzahl aller Rückenschmerz-Patienten lässt sich weder eine umschriebene Krankheit noch ein krankhafter Prozess noch eine sichere anatomische Quelle als Ursache für den Schmerz finden; man spricht dann von nicht-spezifischen Rückenschmerzen. Ihr Anteil wird auf wenigstens 80 Prozent geschätzt.“ Das schreibt der Bevölkerungsmediziner Heiner Raspe vom Uniklinikum Schleswig-Holstein. Raspe hat ein Heft über Rückenschmerzen verfasst, das soeben in der vom Robert-Koch-Institut herausgegebenen Reihe „Gesundheitsberichterstattung“ erschienen ist.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über diese häufigsten Schmerzen meist der Lendenwirbelsäule („Kreuzschmerzen“) fasst Raspe etwa so zusammen: Fast jeder spürt sie irgendwann am eigenen Leibe, und oft sind sie stressbedingt, ähnlich wie Kopfschmerz. Chronisch werden sie vor allem durch Fehlbehandlung. Schonung ist schädlich (Risikofaktor Bett!). Übertriebene Diagnostik und Therapie – schon Röntgen und Spritzen gehören dazu – verstärken sogar eher das Krankheitsgefühl.

Dabei ist die Selbstheilungsquote hoch. Bei 75 bis 90 Prozent der Betroffenen verschwindet der Kreuzschmerz in wenigen Wochen, wenn sie ihren Alltag so normal wie möglich weiterleben, mit Beratung, Bewegung, Entspannung und ein paar Schmerztabletten. (Näheres in der Patientenversion der „Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz“ unter www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinie.de) Auch Bandscheibenvorfälle müssen keineswegs immer operiert werden.

„Jede Operation ist auch ein erhebliches Gesundheitsrisiko für den Patienten“, sagt Fritz Uwe Niethard, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie. Chirurgen wehren sich dagegen, Patienten einem solchen Risiko auszusetzen, wenn sie wahrscheinlich keinen Nutzen von dem Eingriff haben. Auch andere Fachgesellschaften und Ärztegremien kämpfen gegen falsche Anreize zu möglichst vielen kostspieligen technischen Untersuchungen und aufwendigen Therapien, die zwar der Klinik, vielleicht auch den Behandelnden, nicht aber den Behandelten nutzen und zudem das Gesundheitswesen gefährden.

Als Beispiel für solche falschen Anreize nannte Hans-Joachim Meyer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, vor der Presse die immer gängiger werdenden neuen Chefarztverträge. Dabei besteht die Vergütung zu einem großen Teil aus Boni für besonders zahlreiche und lukrative Eingriffe oder andere Leistungen. Masse statt Klasse?

Eingriffe ohne gute medizinische Begründung verstoßen nicht nur gegen das ärztliche Ethos und das Berufsrecht, wie die Chirurgen immer wieder hervorheben, sie sind auch strafbar. Die Rechtsabteilung der Ärztekammer Berlin bestätigt auf Anfrage: Eine Operation gelte auch dann als Körperverletzung, wenn der Patient zwar zugestimmt habe, aber kein medizinischer Grund gegeben sei.

Rosemarie Stein

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