Auge: Augen geradeaus
Das rechte Auge von Ben ist immer ein wenig nach innen gerichtet. Das ist nicht nur ein kosmetischer Makel: SCHIELEN kann unbehandelt zu ernsthaften Sehbehinderungen führen.
Ben ist kaum zu halten. Der Dreijährige mit den kurzen braunen Haaren und dem blauen Pullover tobt durch das Wartezimmer. Stapelt Bauklötze zu einem Turm übereinander. Lässt den Turm wieder einstürzen. Klettert auf Stühle. Springt wieder hinunter. Schaltet das Licht an. Und wieder aus.
Alles kein Problem. Es ist Montagnachmittag, das heißt: Kindersprechstunde in der Augenarzt-Praxis von Klaus Rüther in Berlin-Mitte. Erst als Ben an seine ovale Brille fasst, um die großen vor seine Augen geklebten Prismen abzupulen, greift seine Mutter ein. »Ben, Finger weg!«, sagt Martina Lorenz bestimmt und drückt die speziell geschliffenen Glaskörper wieder am Brillengestell fest. »Ich weiß, die stören«, sagt sie, ganz mild diesmal. »Aber das musst du jetzt noch kurz aushalten.« Schließlich geht es um die Frage, ob der Junge noch dreidimensional sehen kann.
Ben schielt. Sein rechtes Auge ist ein Stückchen verrutscht, es schaut nach innen und unten, zum Nasenrücken hin. Vor etwas mehr als einem Jahr machte eine Erzieherin aus der Kita Martina Lorenz darauf aufmerksam. »Ich bin aus allen Wolken gefallen«, sagt die 32-Jährige und schüttelt den Kopf. Kurz danach machte sie für Ben den ersten Termin beim Augenarzt.
Die menschlichen Augen sind so angelegt, dass sie sich parallel zueinander auf der gleichen Achse bewegen, dadurch in dieselbe Richtung schauen. Durch den Abstand zwischen den Augen entstehen leicht unterschiedliche Seheindrücke, die das Gehirn dann zu einem dreidimensionalen Bild zusammensetzt. Dies gelingt allerdings nicht immer. »Wenn die Fusionskraft des Gehirns nicht ausreicht, um die beiden Seheindrücke zu verschmelzen, liegt ein Strabismus vor, also ein Schielen«, sagt Klaus Rüther, der sich als Augenarzt unter anderem auf Schielerkrankungen - die sogenannte Strabologie - spezialisiert hat. Dieser Strabismus könne entweder eines oder abwechselnd beide Augen betreffen und sei prinzipiell in alle Richtungen möglich, sagt Rüther: nach oben und unten, nach innen und außen sowie diagonal. Am häufigsten im Kindesalter sei jedoch ein einseitiges Schielen nach innen, so wie auch Ben es hat.
Bei Säuglingen kommt Schielen relativ häufig vor. »Kinder müssen erst lernen, Dinge mit den Augen zu fixieren«, sagt Rüther. Bis etwa zum dritten Lebensmonat sei eine solche Augenfehlstellung daher nicht besorgniserregend. Genauso wenig wie ein verborgenes Schielen, eine sogenannte Heterophorie. Diese tritt bei rund 70 Prozent der Menschen auf und führt dazu, dass die Betroffenen in bestimmten Situationen schielen und doppelt sehen - etwa, wenn sie übermüdet oder betrunken sind.
Bei rund vier Millionen Menschen besteht die Augenfehlstellung jedoch dauerhaft, schätzt die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG), die Fachgesellschaft für Augenheilkunde. Dann sollte sie dringend von einem Augenarzt abgeklärt werden. Denn unbehandelt kann ein Strabismus zu einer ernsthaften Sehbehinderung führen - bei Kindern etwa dazu, dass sie das beidäugige Sehen verlieren.
Beim sogenannten Lähmungsschielen, das plötzlich und in jedem Lebensalter auftreten kann, fallen durch eine Verletzung oder eine Entzündung einer oder mehrere Augenmuskeln aus, sodass sich das betroffene Auge nicht mehr normal bewegen kann. »Wenn die Sichtachsen beider Augen zu stark voneinander abweichen, kann das Gehirn die visuellen Reize nicht mehr in Deckung bringen«, sagt Augenarzt Rüther. »Die Folge davon sind Doppelbilder, die nicht nur verwirrend sind, sondern auch Schwindel und Übelkeit hervorrufen können.«
Auch bei dem typisch kindlichen Strabismus, den Mediziner Begleitschielen nennen und das zum Teil genetisch bedingt ist, würden eigentlich solche Doppelbilder entstehen. Denn hier bewegen sich die Augen zwar synchron miteinander, tun dies jedoch auf unterschiedlichen Achsen. Da das Gehirn Doppelbilder jedoch vermeiden will, schaltet es ein schielendes Auge im Kindesalter einfach ab. »Dadurch kann sich die Sehleistung dieses Auge nicht entwickeln«, sagt Rüther. Die Folge: Die Sehschärfe des betroffenen Auges nimmt ab, sie verkümmert - obwohl das Auge eigentlich organisch gesund ist. Amblyopie nennen Ärzte diese Sehschwäche eines intakten Auges, die sich laut DOG ohne Behandlung bei den meisten schielenden Kindern entwickelt.
So weit ist es bei Ben bisher noch nicht gekommen: Der Junge sieht noch mit beiden Augen sehr gut. Das hat Barbara Hinz in einer ersten Untersuchung an diesem Montagnachmittag festgestellt. Sowohl mit dem linken als auch mit dem schielenden rechten Auge konnte er alle Formen in dem Klappbuch erkennen, das sie ihm aus drei Metern Entfernung zeigte. Sogar die ganz kleinen. Hinz ist Orthoptistin, eine augenheilkundliche Fachkraft, die unter anderem auf Schielerkrankungen spezialisiert ist, diese diagnostiziert und misst. Sie arbeitet in der Praxis von Klaus Rüther. Und sie war es auch, die Ben die störenden großen Prismen auf die Brille geklebt hat, die er so gerne wieder loswerden möchte.
Das war vor etwa einer halben Stunde. Jetzt bittet sie den kleinen Wirbelwind und seine Mutter wieder zurück ins Untersuchungszimmer. Zur zweiten Messung, bei der es um sein räumliches Sehvermögen geht. An der linken Wand des rechteckigen Raumes befindet sich ein quadratisches graues Brett mit zahlreichen schwarzen Markierungen und diagonalen Linien. Das ist eine Tangentenskala, mit deren Hilfe Hinz die Schielwinkel in verschiedenen Blickrichtungen standardisiert vermessen kann.
Bei Ben kommt diese Skala jedoch nicht zum Einsatz, er ist noch zu klein. Deshalb sitzt der Junge mit dem Rücken zum Fenster auf dem Schoß seiner Mutter. Hinz zeigt ihm ein Kinderbuch mit Zeichnungen, die auf den ersten Blick ganz normal erscheinen. Zumindest für einen Betrachter, der keine großen Prismen vor seinen Brillengläsern trägt.
»Ben, zieh doch bitte mal an den Flügeln von dieser großen Fliege hier«, sagt Hinz und deutet auf ein Bild. Ben sträubt sich, windet sich auf dem Schoß seiner Mutter hin und her, will nicht an dem Flügel ziehen. Oder kann er ihn nicht sehen? »Ben mag keine Fliegen«, sagt seine Mutter entschuldigend. »Er hat Angst vor ihnen.« Dann überwindet sich der Junge aber doch: Er bewegt die Hand nach vorn, in Richtung des Buches - und stoppt sie einige Zentimeter über der Zeichnung. Dort bewegt er seine Finger so, als würde er an etwas zupfen. Durch die Prismen an seiner Brille ist die Fliege für ihn dreidimensional aus dem Buch heraus geflogen, schwebt etwas in der Luft. Ben kann also noch räumlich sehen.
Diese Fähigkeit zu erhalten oder zumindest rudimentär wiederherzustellen, ist das Hauptziel einer Schielbehandlung. »Es geht dabei nicht darum, einen kosmetischen Makel zu beheben«, sagt Bens Augenarzt Klaus Rüther. Auch wenn dieser Makel natürlich nicht von der Hand zu weisen ist, genauso wenig wie die psychischen Belastungen, die er häufig mit sich bringt. Weil die meisten Menschen nicht wissen, wie sie einen schielenden Gegenüber anschauen, welches Auge sie fixieren sollen.
Subjektiv betrachtet könne ein Mensch zwar recht gut ohne räumliches Sehvermögen leben. So merke ein schielendes Kind wahrscheinlich gar nicht, dass es nicht dreidimensional sehen kann. »Objektiv betrachtet hat es jedoch einen Nachteil gegenüber anderen Menschen«, sagt Rüther. Zum Beispiel bei der späteren Berufswahl: Pilot, Augenarzt oder auch Chirurg kann nur werden, wer räumlich sehen kann.
Um einen Strabismus zu behandeln, haben Ärzte drei Möglichkeiten: eine Brille zu verordnen, die Okklusionstherapie, bei der das nicht-schielende Auge abgeklebt wird, um das schielende zu trainieren, und eine Operation. Bei Ben hat Klaus Rüther die beiden ersten Möglichkeiten kombiniert: Der Junge trägt eine Brille, die seine Weitsichtigkeit korrigiert und auf deren linkem Brillenglas eine durchsichtige Prismenfolie klebt. Diese behindert zum einen leicht die Sicht des linken Auges, wodurch das rechte, schielende Auge trainiert wird. Das ist allerdings nur ein positiver Nebeneffekt. »Vor allem dienen die Prismen in der Folie dazu, das Licht umzulenken und dadurch die beiden Sichtachsen wieder zusammenzubringen«, sagt Rüther. So soll das beidäugige Sehen erhalten werden.
Ben kommt mit dieser Folie gut zurecht, sie stört ihn nicht. Dennoch ist sie keine Dauerlösung. »Die Folie ist nur eine Krücke«, sagt der Augenarzt. »Schließlich beeinträchtigt sie das Sehen eines gesunden Auges.« Deshalb sei bei Ben auch die dritte Behandlungsmöglichkeit notwendig: die Operation. Sie soll noch 2015 stattfinden. Bei dieser Operation manipulieren die Ärzte allerdings nicht das Auge selbst, sondern lediglich die Augenmuskeln. Dazu schneiden sie seitlich in die Bindehaut - die durchsichtige Haut über dem Weiß der Augen - und verkürzen beziehungsweise verlängern die Muskeln so, dass das schielende Auge beim Geradeausschauen auch wirklich wieder geradeaus schaut - so, als würden sie es an Zügeln zurechtziehen.
Die OP ist mittlerweile ein Routineeingriff. Dennoch kann es natürlich zu Komplikationen kommen. »Das größte Risiko ist, dass das eigentlich gesunde Auge erblindet«, sagt Augenarzt Rüther. Dies komme aber nur sehr selten vor. Nach der Operation sei das Auge jedoch etwa drei Wochen lang gerötet und schmerze. Zudem kann es passieren, dass im Laufe des Lebens weitere Operationen notwendig werden, weil das Auge erneut zu schielen beginnt.
Martina Lorenz hofft, dass ihrem Ben das erspart bleibt. »Überhaupt bin ich recht aufgeregt, wenn ich an die OP und die Zeit danach denke«, sagt sie, wieder zurück im Wartezimmer der Praxis. »Aber das ist wahrscheinlich normal.« Und Ben? Ben ist schon wieder ein bisschen langweilig geworden.
Er hat sich den Bauklötzen, den Stühlen und dem Lichtschalter zugewandt. Tobt wieder durchs Wartezimmer. Ein echter Wirbelwind eben. Ob nun mit Prismen an der Brille oder ohne.
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