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Friedenspreisträgerin: Wo Carolin Emcke sich zu Hause fühlt

Carolin Emcke hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Uns hat die Reporterin verraten, wo sie sich bei all ihren Reisen zu Hause fühlt. Ein Text aus unserem Archiv.

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Al DEIRA HOTEL, GAZA

Das Deira ist eines der schönsten Hotels, das ich kenne. Es hat nur den kleinen, nicht ganz unwesentlichen Haken, dass es im Gazastreifen liegt. Es befindet sich in Gaza-Stadt, am Meer, und mit seinen schönen naturfarbenen und klassischen Materialien aus Sandstein und Ton strahlt es inmitten all des Elends und der Gewalt um es herum eine ganz besondere Ruhe aus. Es ist ein zweigeschossiges Gebäude mit einer großen Terrasse raus zum Meer. Ich reise meist gemeinsam mit dem Fotografen Sebastian Bolesch, und wir versuchen immer, eines der Zimmer im ersten Stock zu bekommen, die etwas größer sind und zwei Tische haben, so dass wir beide gleichzeitig arbeiten können. Ich kann die Wellen schlagen hören vom Zimmer aus. Das Hotel ist wie eine Oase in dieser traurigen Stadt, es hat einen Generator, der es immer mit Elektrizität versorgt. Manche Tage verbringt man in Gaza nur in kalten Zimmern, in denen die Heizungen wegen der ständigen Stromausfälle nicht gehen, oder in zugigen Krankenhäusern, manchmal hört man nur dogmatisches Geschrei auf den Demonstrationen der radikal-islamistischen Hamas, oder man hört das leise Wimmern derer, die im Zirkel der Gewalt des Nahen Ostens zerrieben werden, das der Mütter oder das der Jugendlichen, die weder Fatah noch Hamas noch Israel mehr trauen, und dann ist dieses Hotel wie eine Schutzzone, ein Ort, so unwirklich wie versöhnlich in dieser unversöhnlichen Gegend. Im Deira finden oftmals auch große Feste statt, Geburtstage oder Hochzeiten. Seltene Gelegenheiten in Gaza, an denen öffentlich Musik gespielt werden darf. Hamas hat das ansonsten untersagt. Und so sind die Hochzeiten immer besonders ausgelassen und fröhlich, weil getanzt und gefeiert werden darf.

PHILHARMONIE

Das ist meiner Liebe zur klassischen Musik geschuldet. Ich mag ganz verschiedene Konzertsäle, sei es, weil sie eine besondere Geschichte oder eine besondere Akustik haben: wie das Teatro Colón in Buenos Aires oder die Carnegie Hall. Die Philharmonie in Berlin fällt mir natürlich ein wegen des wunderbaren Orchesters, und weil ich glücklich bin, sobald ich nur den Saal betrete und mich die Vorfreude aufs Konzert erfüllt. Manchmal, wenn ich Musik dort höre, trägt sie mich an andere Orte, weil sie mich erinnert an den Ort und die Zeit, da ich sie zuerst gehört habe. Bei der „Symphonie aus der Neuen Welt“ von Antonin Dvorak ist das zum Beispiel so: Das war die erste Schallplatte, die mein Bruder und ich von unseren Eltern stibitzt hatten. Wenn ich die Musik heute höre, sehe ich uns, wie wir auf dem Fußboden im Wohnzimmer liegen, vor uns der alte Dual-Plattenspieler und diese Vinylschallplatte, mit dem, wenn mich nicht alles täuscht, blauen Teldec-Logo, und wie mein Bruder zu der Musik Geschichten erfand. Er erzählte von Indianern und was sie erlebten, in der Dramaturgie passend zur Musik, und noch heute sehe ich seine Fantasien, wenn diese Musik erklingt.

Carolin Emcke, immer auf Reisen, hier im pakistanischen Kaschmir.
Carolin Emcke, immer auf Reisen, hier im pakistanischen Kaschmir.
© Sebastian Bolesch

FUSSBALL

Das ist ein ähnlich ortloses Zuhause wie die Musik. Ich glaube ohnehin nicht an Heimat als Ort, sondern als eine Ansammlung von Erinnerungen, von Geschichten, es sind Praktiken und Überzeugungen, die wir teilen, Leidenschaften und Objekte, die wir lieben. Ich mag Fußball, und ich liebe klassische Musik, und diese beiden Lieben lassen mich oft umgehend heimisch fühlen: in einem Konzertsaal, aber auch in einer vom Erdbeben zerstörten Straße in Port-au-Prince, wo sich Menschen um einen einzigen Schwarzweißfernseher scharen, um ein Championsleague-Spiel zu schauen, und sich niemand daran stört, dass ich die einzige Frau oder die einzige Weiße bin. Oder in Ramallah in einer Teeküche, in der nur Männer bei Minztee und Wasserpfeife sitzen und den Clásico Real Madrid gegen Barcelona schauen. Ich war auch schon mal im Irak, in Erbil, bei dem Qualifikationsspiel der U-21 Afghanistan gegen Irak. Eine absurde Vorstellung, dass die Jugendlichen aus diesen kriegsversehrten Ländern tatsächlich zusammenkommen und Fußball spielen. Und auf den ersten Blick scheint es auch absurd, dass da Zuschauer hinkommen, als gäbe es keine Terroranschläge, keine Gewalt und keine Armut im Irak. Aber da spielten sie tatsächlich, alle Ethnien zusammen in Teams, und alle freuten sich über diese Auszeit, diese Normalität. In Berlin schaue ich meistens im „Rizz“, einer Kneipe in Kreuzberg mit Kellnerinnen, die sensationell freundlich und souverän bleiben, selbst wenn das Lokal randvoll mit aufgebrachten, zittrigen, verzweifelten Fans ist. Als Borussia-Dortmund-Fan habe ich glücklicherweise selten Anlass zur Verzweiflung.

NEW YORK

Zu New York habe ich ein besonderes Verhältnis. Nicht nur, weil ich dort gelebt habe, sondern auch, weil ich per Zufall am 11. September in der Stadt war. Ich wollte eigentlich Urlaub machen und landete wenige Tage vor den Anschlägen auf das World Trade Center. Die Verbundenheit zu New York hat nicht nur mit den glücklichen Tagen und Nächten zu tun, die ich dort verbracht habe, mit den Freunden, die dort leben, sondern auch mit dem Schock und der Verstörung, die am 11. September sich in uns eingeschrieben haben. Noch heute, wenn ich in Downtown Manhattan, in den Straßenzügen, die damals abgesperrt waren, herumstromere, treffe ich Menschen, mit denen wir damals diese düsteren Tage verbracht haben: die Mitarbeiter aus der chinesischen Wäscherei von gegenüber, die Feuerwehrleute an der Wache um die Ecke, der türkische Lederwarenverkäufer. Auf dem Dach unserer Wohnung haben wir zwei Wochen nach den Anschlägen ein Fest veranstaltet, wir haben einfach alle eingeladen, die sonst vereinzelt und verwirrt in ihren Wohnungen saßen, weil es zwar nichts zu feiern gab, aber zu reden, wir wollten nicht allein sein. Das war ein schönes Fest. New York ist natürlich alles andere auch, es gibt lauter schöne Erinnerungen, fröhliches und beglückendes, aber 9/11 bleibt.

KREUZBERG

Das erste Mal bin ich 1987 nach Kreuzberg gezogen. An den Südstern. Damals lag der Bezirk noch am Ende der Berliner Welt, das Kreuzberg, in dem ich heute lebe, hat seine Lage scheinbar verändert. Weil die Stadt sich verändert, sich das Zentrum Berlins verschoben hat. Auf einmal liegt Kreuzberg zentraler. Das ist nicht der Grund, warum ich wieder hierhergezogen bin. Das hängt mit meinen vielen Reisen zusammen. Ich bin viel in armen und zerstörten Regionen der Welt unterwegs, in Haiti, Gaza oder dem Irak, die Lebenswirklichkeit in diesen Ländern unterscheidet sich dramatisch von der hier bei uns, und manchmal fallen mir die Wechsel schwer und ist es nicht leicht, aus dem einen Leben auf meinen Reisen in mein anderes Leben hier in Berlin zurückzuwechseln. Kreuzberg erleichtert mir dieses Zurückkehren, ich fühle mich dann weniger fremd, weil es viele Teile der Welt, in denen ich gerade war, im Kleinen abbildet: die vielen Sprachen, die Gerüche, diese Buntheit. Da ich oft in Ländern unterwegs bin, in denen Homosexuelle, also Menschen, die so lieben wie ich, bedroht oder eingesperrt werden, freue ich mich, wenn ich ins Roses an der Oranienstraße gehen darf, eine Bar, in der ich mich richtig fühle und ganz einfach sein darf – dieser winzige Ort mit der schrägen Deko und der herzerfrischenden Bedienung. Wunderbar.

GRÖSSENWAHN, FRANKFURT

Das ist eine legendäre Kneipe im Frankfurter Nordend. Ich habe in Frankfurt Philosophie studiert. Es ist eines dieser Lokale, in denen alles voll ist, wenn man ankommt, und dann die Kellner, auf absolut magische Weise, trotzdem noch einen Platz finden. Während meiner Studienzeit hatte einer der Kellner, ich glaube Hans-Peter war es, eine Wohltätigkeitsveranstaltung für HIV-Positive mitorganisiert. Den „Lauf gegen die Zeit“, es sollte Geld gesammelt werden, und im Größenwahn wurde unter den Stammgästen gefragt, wer bereit sei, eine bestimmte Strecke durch Frankfurt zu laufen und sich dafür Sponsoren zu suchen. Ich dachte, absolut größenwahnsinnig, na ja, wenn Hans-Peter das kann, kann ich das auch, und habe unterschrieben. Ich konnte joggen zwar nicht ausstehen, aber darüber hatte ich in dem Moment nicht so richtig nachgedacht. Dann kam der Lauf, es ging einmal durch die Innenstadt, und ich war so verflixt langsam, dass die Polizei schon die Straßensperren wegräumte, als ich endlich angekrochen kam. Die dachten, da käme keine Schnecke mehr.

FLUGHÄFEN

Ich fühle mich wohl an Flughäfen, abgesehen von den Sicherheitskontrollen und langen Schlangen. Aber sonst freue ich mich jedes Mal, wenn ich aufbreche, wenn ich losreise. Da ich sehr viel unterwegs bin, habe ich, wie vermutlich jeder Vielflieger, eigene Vorlieben und Abneigungen: Flughäfen mit langen Gängen und Hallen, die das schnelle Umsteigen erschweren, wie in Amsterdam oder London, meide ich, wenn möglich. Frankfurt oder Zürich mag ich dagegen sehr. In Zürich liebe ich vor allem diesen Shuttle, der den einen mit dem anderen Terminal verbindet und in dem einem ein kleiner Einspielfilm die Zeit vertreibt. In dem Film muht eine Kuh und Alpenglocken bimmeln – herrlich ironisch. Es gibt auch lustigerweise verschiedene Rituale an verschiedenen Flughäfen: In Tel Aviv brauche ich immer noch einen Dattelshake vor dem Abflug, in Berlin einen Chai und in Zürich ein Appenzeller Biber-Bärli. Ärgerlich an Flughäfen finde ich schlechte Leitsysteme. Ich habe eigentlich immer gehofft, ich würde mal als Vielflieger befragt werden, wenn neue Flughäfen mit neuen Leitsystemen ausgestattet werden. So als Testkarnickel, da würde ich mich sofort für bereitstellen.

Diesen Text schrieb Carolin Emcke 2013 für den Tagesspiegel am Sonntag. Redaktionelle Mitarbeit: Ulf Lippitz

Immer unterwegs. Carolin Emcke weiß, wo sie sich daheim fühlt.
Immer unterwegs. Carolin Emcke weiß, wo sie sich daheim fühlt.
© Andreas Labes

Carolin Emcke

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