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Carla Reemtsma studiert in Münster Politik und Wirtschaft.
© privat

Fridays-For-Future-Aktivistin Carla Reemtsma: „Wir sind halt einen Tacken radikaler als die Grünen“

Klima-Aktivistin Carla Reemtsma spricht im Interview über Online-Demos, Verschwörungstheorien, die über sie kursieren und worüber sie mit ihrem Vater streitet.

CARLA REEMTSMA, 22, gründete Anfang vergangenen Jahres den Fridays-for-Future-Ableger in Münster und zählt mittlerweile zu den bekanntesten Gesichtern der Bewegung in Deutschland.
Geboren wurde Reemtsma in Berlin. Nach dem Abitur zog sie zum Studium der Politik und Wirtschaft nach Westfalen, wo wir sie für das Interview per Videocall in ihrem WG-Zimmer erreichen. Im Gespräch zeigt sie sich überlegt und freundlich. Danach müsse sie wieder an den Schreibtisch, erzählt sie. Derzeit feilt sie an der genauen Fragestellung ihrer Abschlussarbeit.

Frau Reemtsma, gerade ist Jonathan Franzens Buch „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ auf Deutsch erschienen. Darin schreibt der Schriftsteller: Der Kampf um den Klimawandel ist längst verloren. Ist es an der Zeit aufzugeben?
Ich glaube, man kann den Kampf gegen die Klimakrise nicht so einfach für gewonnen oder verloren erklären. Es ist ein gigantischer Unterschied, ob wir 1,5 oder zwei Grad Klimaerwärmung schaffen – oder ob es die drei bis fünf Grad werden, auf die wir gerade zusteuern. Deshalb ist es wichtig, das Thema hochzuhalten.

Frantzens Sorge ist: Wir verlieren Zeit, wenn wir nicht jetzt einplanen, dass es schlimmer kommt.
Diese Debatte wird in der Wissenschaft doch seit 20, 30 Jahren geführt. In der Öffentlichkeit ist das vielleicht nicht so präsent, ich finde sein Argument trotzdem gefährlich.

Wieso?
Weil dadurch das Gefühl entsteht, die Anstrengungen, die Klimakrise einzudämmen, seien sinnlos. Das ist ein bisschen wie mit den Debatten rund um die Lockerung der Coronaregeln: Wenn man weit genug ausholt, kann man allen alles erklären. Nur Überschriften lesen, das reicht nicht. Dann werden komplexe Themen verkürzt und verzerrt dargestellt, und man schafft nicht mal das, was man tatsächlich schaffen kann.

Corona hat den Klimawandel weitgehend aus den Nachrichten verdrängt. Tötet das Virus auch Fridays for Future?
Am Anfang hat das Virus alle aus der Bahn geworfen. In Bayern hatten wir im März zu den Kommunalwahlen Streiks geplant, die drei Tage vorher fast alle abgesagt wurden. Es herrschte riesengroße Unsicherheit. Was jetzt? Wir haben aber gezeigt, dass wir uns der Situation anpassen können: Es gibt viel Austausch, wir organisieren seit Wochen ein Webinar-Programm, es finden Abstandsdemos, Schilder- und Kreideaktionen statt, und am 24. April hatten wir einen großen Streik im Netz.

Großdemonstrationen auf der Straße sind wegen Corona derzeit nicht möglich.
Großdemonstrationen auf der Straße sind wegen Corona derzeit nicht möglich.
© Tsp

Das ist doch kein Ersatz für Proteste auf der Straße.
Reiner Online-Protest wird niemals ein vollwertiger Ersatz sein, ist aber in der aktuellen Situation eine wichtige Ergänzung. Diskussionen etwa um die Autoprämie, als wir innerhalb weniger Tage in allen Autostädten Proteste organisiert haben, zeigen, dass wir diese Online-Aktionen mit auf die Straße bringen und im Zusammenspiel politische Debatten beeinflussen können.

„Wir haben gerade den größten Protest mindestens seit der Wiedervereinigung auf die Straße gebracht“

Können Sie das denn? Gerade sind doch wieder im Handumdrehen Milliarden da, um die Wirtschaft zu stützen, die es für den Klimaschutz nicht gab.
Natürlich frustriert das. Wenn jetzt schon wieder eine Abwrackprämie im Gespräch ist, entsteht ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber Konzerninteressen. Aber Rückschläge gab es auch schon früher. Als wir im September 1,4 Millionen Menschen auf die Straße brachten und eine halbe Stunde später die Nachricht von dem Klimapäckchen aus dem Kanzleramt kam, da haben Leute geheult, weil sie dachten, das kann nicht wahr sein.

Wir haben gerade den größten Protest mindestens seit der Wiedervereinigung, wahrscheinlich überhaupt seit Demonstrationen in Deutschland dokumentiert werden, auf die Straße gebracht, und dann das … Ich glaube jedoch, die Bestätigung kommt nicht nur aus den politischen Erfolgen. Die Motivation ist ja der Kampf gegen diese Ungerechtigkeiten: Solange diese bestehen, werden wir weiter protestieren. Sonst hätten wir ja schon aufhören müssen nach dem Streik vor der Kohlekommission im Januar 2019. Da hatten wir in zwei Wochen 10.000 Leute mobilisiert, und die sagen: Kohleausstieg erst 2038.

Dann dürften Sie sich ja freuen, dass dank Corona derzeit der weltweite Flugverkehr quasi lahmliegt.
Ja, kurzfristig sinken die Emissionen. Weltweit werden in diesen Tagen circa 17 Prozent weniger Treibhausgase ausgestoßen. Wegen Corona kann Deutschland das Klimaziel 2020 einhalten. Das ist kein nachhaltiger Effekt. Wir haben ja nicht unser Verkehrssystem umgestellt, in erneuerbare Energien investiert, die Produktion weniger energieintensiv gemacht.

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Würden Sie die Lufthansa retten?
Die Frage ist: unter welchen Auflagen. In Frankreich wird Air France gerettet, aber gleichzeitig vorgeschrieben, wie Emissionen auszusehen haben, dass keine Dividenden und Managerboni gezahlt, Inlandsflüge in dem Zeitfenster XY, in dem die Bahn ausgebaut wird, gestrichen werden. Dann geht das. Zu sagen, ihr kriegt hier neun Milliarden ohne Bedingungen, ist unverantwortlich. Steuergelder, die in Dividenden fließen, sind eine Umverteilung von unten nach oben.

Vielleicht nutzt die Politik ja das halbe Jahr Corona-Puffer, um die Kurve noch zu kriegen?
Nein. Wir verschleppen mindestens in demselben Tempo Entscheidungen. Ganz viele Gesetzgebungsprozesse werden aufgeschoben. Und dann ist da der konservative Backlash – die Regierungsparteien gewinnen an Zustimmung, Klima wird als Bremsklotz behandelt. Das Argument spielt Krisen gegeneinander aus. Das ist verantwortungslos.

Wir stecken in einer katastrophalen Gesundheitskrise, die eine Wirtschaftskrise auslösen wird, die die Existenz vieler Menschen bedroht und soziale Ungerechtigkeit krass vergrößert. Wir protestieren weiter, um diese Krisen gemeinsam zu lösen.

„Man muss wegkommen von diesem Ideal des perfekten Menschen“

Haben Sie mal ausgerechnet, wie viel CO2 Ihre Netzdemos verursachen?
Nee. Das fällt in so eine verquere Konsumlogik zurück: Du bist auch schon mal Auto gefahren? Ihr nutzt alle Handys? Ihr seid nicht alle Veganer? Dann dürft ihr keine Aktivisten sein! Das verkennt die Dimension. Unsere Server sind alle grün gehostet, aber als Einzelkonsumenten sind wir ja trotzdem oft abhängig.

Ich kann als Mieterin nicht beeinflussen, wie meine Wohnung gedämmt ist. Wenn meine Oma am Zweiten Weihnachtsfeiertag eine Suppe mit Rindfleisch macht, und das ist das einzige Essen, dann mache ich keinen Aufstand. Ich kann das essen, bevor wir drei Stunden Familiendrama haben. Wenn ich im Urlaub mit fünf Leuten mal in einem Auto sitze, dann ist das kein Weltuntergang. Man muss wegkommen von diesem Ideal des perfekten Menschen, der noch nie in seinem Leben aus einer Plastikflasche getrunken hat.

Greta Thunberg dürfte nicht ganz unschuldig sein an diesem Ideal.
Am Anfang war Fridays for Future natürlich sehr geprägt von ihr. Es hat dann abgenommen, als immer mehr Menschen Streiks organisiert haben. Unter anderem für den internationalen Zusammenhalt ist sie aber weiter unglaublich wichtig, weil sie der Bewegung eine Stimme gibt. In Deutschland sind wir in einer total privilegierten Situation, hier haben alle Leute W-Lan, und wir können dauernd Calls organisieren. Aber in Russland darfst du nur Ein-Personen-Mahnwachen machen.

Greta Thunberg nimmt gerade ein Gap-Year.
Greta Thunberg nimmt gerade ein Gap-Year.
© pa-dpa

Man hört gerade wenig von Greta. Was macht sie?
Sie streikt jede Woche online. Eigentlich hat sie ja so ein Gap-Year genommen zwischen Grund- und weiterführender Schule, hätte Klimakonferenzen, das EU-Parlament besucht. Soweit ich weiß, plant Greta nach den Sommerferien wieder zur Schule zu gehen. Also, außer freitags …

Der Schulstreik lebt vom Regelbruch. Gab es die Überlegung, die Kontaktsperre zu ignorieren?
Nein, ziviler Ungehorsam ist schließlich kein Selbstzweck. Trotzdem wurde auch viel über die Verhältnismäßigkeit bestimmter Maßnahmen diskutiert: In Nordrhein-Westfalen war zwischenzeitlich das Versammlungsrecht mehr oder weniger ausgesetzt, während Schulen öffnen durften. Das war eine krasse, nicht epidemiologisch zu rechtfertigende Grundrechtseinschränkung, die wir auch öffentlich und juristisch thematisiert haben.

Wissen Sie noch, was Ihre erste Demo war?
Ich glaube, das war nach Fukushima die große Anti-Atom-Demo in Berlin. Da war ich 12 oder 13. Ich fand das spannend und habe meine Eltern mitgeschleppt. Das war crazy, unglaublich groß.

Ein politisches Erweckungserlebnis?
Themen wie Klima und Umwelt, Feminismus und gesellschaftliche Gleichberechtigung fand ich immer schon spannend. Ich war Klassensprecherin und Schulsprecherin, aber das ist eher ein gesellschaftliches Engagement. Mit politischem Engagement hat es erst zum Studienbeginn angefangen.

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Streiten Sie sich da mit Ihren Eltern?
Nee, die bestärken mich. Meine Oma ist total umweltpolitisch engagiert, da kam immer viel Zuspruch. Mit meinem Vater kann ich aber auch politisch streiten. Auf eine gute Art, dass beide da klüger aus der Diskussion rausgehen.

Worüber streiten Sie?
Wirtschaftspolitik, Gerechtigkeit. Über Feminismus kann man sich auch gut zanken, das ist tatsächlich auch ein bisschen eine Generationenfrage.

Millennials wie Ihnen wird vorgeworfen, sie argumentierten hypermoralisch, hätten viel zu hohe Ansprüche – auch an sich selbst.
Wir sind mit einer größeren Offenheit aufgewachsen. In den 1970er Jahren ging es darum, ob Frauen ohne Einverständnis des Mannes arbeiten dürfen. Heute eher um die Anerkennung von Sexualitäten neben Männlich und Weiblich. Das sind ganz andere Diskurse. Ich finde das nicht unbedingt moralischer.

Sie haben einen bekannten Nachnamen, den viele in Verbindung mit dem Hamburger Tabak-Unternehmen bringen. Erschwert das Ihr Engagement?
Auf Twitter ist das manchmal nervig, weil sich ein Großteil der Kommentare darauf bezieht, dass ich in meinem Leben sowieso noch nie gearbeitet oder eine Tabakplantage im Garten hätte. Darüber kann ich lachen. Das sind Verwandte x-ten Grades.

Amüsieren Sie auch die Verschwörungstheorien, die über Sie kursieren?
Es gibt ein irres 40-minütiges Video, das von der Illuminaten-Jugend berichtet: Weltverschwörung im Auftrag der elitären Blutlinie. Das ist witzig, weil ich da in direkter Linie mit George Soros und Bill Gates stehe, und wir Illuminaten die Weltherrschaft erringen wollen. Aber das weiß ich nicht, weil ich nur eine Marionette bin.

Protest während der Pandemie: Demonstranten legten am 24. April stellvertretend bemalte Schilder vor dem Reichstag in Berlin ab.
Protest während der Pandemie: Demonstranten legten am 24. April stellvertretend bemalte Schilder vor dem Reichstag in Berlin ab.
© imago images/IPON

Die Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer bekommt Personenschutz. Sie auch?
Nein, brauche ich nicht. Ich finde es erstaunlich, wie krass sich die Angriffe auf eine Person konzentrieren. Bei mir ist außer blöden Tweets noch nichts strafrechtlich Relevantes angekommen.

Dabei sind Sie ein prominentes Gesicht der Bewegung, sitzen regelmäßig in Talkshows. Wie war das, als Sie erstmals einem Politprofi gegenübertraten?
Komplett absurd. Das war relativ am Anfang von Fridays for Future, März 2019. Da gab es uns vielleicht aktiv seit drei Monaten. An einem Dienstag rief jemand an und fragte: Carla, kannst du am Donnerstag zu Maybrit Illner kommen. Im Zug habe ich noch schnell fünf Porträts über den CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak gelesen und mich gefragt: Was denkt der politisch? Und wer ist Stefan Aust? Als ich dann dasaß, war das wie in einem Film.

Überkommen Sie manchmal Zweifel, ob Sie die Rolle als Stimme Ihrer Generation überhaupt übernehmen wollen?
Das ist nicht die Rolle, in der ich mich sehe. Natürlich repräsentiere ich eher junge Leute, aber vor allem Fridays for Future und klimabewegte Menschen. Wir sprechen uns intern darüber ab. Was ist das Thema, was sind die Punkte, die wir setzen wollen? Damit man da eben nicht nur als Einzelperson steht, sondern seine Standpunkte mit einer Mehrheit im Rücken vertreten kann.

„Wir sind halt einen Tacken radikaler als die Grünen“

Gefällt Ihnen das Format Talkshow?
Ich finde das nicht so wirklich erhellend. Es ist ein Schaukampf, der im politischen Berlin offensichtlich immer noch relevant ist. In 90 Prozent der Talkshows ist von Anfang an klar, wer welche Position vertritt, und es geht dann vor allem darum, wer an dem Tag rhetorisch gut drauf ist. Eine wirkliche Debatte ist oft gar nicht möglich.

Wenn jemand zum zweiten oder dritten Mal eine Rückantwort geben will, muss die Moderation schon wieder die nächste Frage stellen, weil man nur 45 Minuten für fünf Leute hat inklusive Ansage und Einspieler. Ich habe das Gefühl, dass deshalb längere Formate und Podcasts immer mehr gefragt werden. Da gibt es mehr Raum, Themen zu erklären, Dinge auszuführen, oder auch mal zu streiten und dabei aufeinander einzugehen

Was motiviert Sie dann, trotzdem wieder eine Einladung anzunehmen?
Wenn wir nicht hingehen, wird wahrscheinlich ein Grünenpolitiker eingeladen. Da sagen wir: Dann doch lieber einer von uns. Im Zweifelsfall verschiebt sich damit der Diskurs ein bisschen. Wir sind halt einen Tacken radikaler als die Grünen.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

In welchem Punkt?
Klimaneutralität in Deutschland, Kohleausstieg, CO2-Preis, Kretschmann will sogar eine Autoprämie. Da ist es nicht so schwer, radikaler zu sein als die Grünen.

Frau Reemtsma, wann glauben Sie, können Sie das nächste Mal auf der Straße demonstrieren?
Wir haben in Münster schon mit 100 Leuten protestiert. Auf 300 Quadratmetern, alle auf so Kreuzchen. Massenveranstaltungen mit zehntausenden Leuten sind wahrscheinlich erst nächstes Jahr möglich. Die Bilder werden dieses Jahr sicherlich anders sein als letztes, aber auf den Straßen werden wir trotzdem sein.

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