Renate Künast über Maskenmangel und Ethik in der Textilbranche: „Wir müssten einen Plan haben, wie wir in Notfällen selbst produzieren“
Renate Künast kritisiert den „globalen Wanderzirkus“ der Textilindustrie. Sie fordert Engagement gegen Kinderarbeit und Umweltprobleme - und dass Deutschland in einem Krisenfall wie Corona unabhängiger von Asien wird.
Grünen-Politikerin Renate Künast ist für strikte Regeln in der Textilindustrie. Ihr Interesse für Mode hat sie in ihrer Zeit als Verbraucherministerin entwickelt. Seitdem hat sie sich viele Produktionsstätten in Asien angeschaut. Die Bundestagsabgeordnete ist sich sicher: So können wir mit unserem Turboleben nicht weitermachen.
Frau Künast, vor sieben Jahren stürzte die Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch ein und begrub mehr als 1000 Menschen unter sich. Hat sich die Modeindustrie seither verändert?
Seit dem Weggang der Textilindustrie aus Deutschland und Europa gibt es so etwas wie den globalen Wanderzirkus. Der hat sich dort niedergelassen, wo Löhne und Umweltbedingungen am niedrigsten sind, teilweise unterstützt von der Politik. Die von uns produzierten Industriegüter wurden dorthin verkauft, im Gegenzug hat man mitgeholfen, dass Jobs entstanden, für die man nur kurz angelernt wird. Das war zunächst schön für diese Länder, aber es bot kaum Entwicklungsmöglichkeit für die Menschen.
Was ist seit der Katastrophe von Rana Plaza konkret passiert?
Es ist viel versprochen wurden. Ich war wenige Wochen nach dem Einsturz der Fabrik dort, es war erschütternd. Seitdem war ich nicht nur in Bangladesch, sondern auch in Myanmar, Vietnam, China, Indonesien und Malaysia und habe mir Produktionsstätten angeschaut. Obwohl ich sicher immer die besseren gezeigt bekam, habe ich auch Kinderarbeit gesehen.
Was halten Sie vom Siegel Grüner Knopf von Entwicklungsminister Gerd Müller?
Der Grüne Knopf ist nur entstanden, weil Gerd Müller sich sagte, es muss in den mühseligen Ebenen des Textilbündnisses endlich etwas Sichtbares für die Kunden geben. Wenn man darauf guckt, sieht man jedoch Mängel.
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Greift der Grüne Knopf weit genug?
Nein. Wir müssen endlich für die gesamte Lieferkette die Menschenrechte international festschreiben, müssen Mindeststandards definieren. Es darf keine Sklavenarbeit und keine Kinderarbeit mehr geben. Wir brauchen überall Gewerkschaften und existenzsichernde Löhne, die entsprechend den jeweiligen Lebenshaltungskosten ein ordentliches Leben ohne Hunger ermöglichen. Da hat sich viel zu wenig getan.
Wie kommt das?
Weil man vor Jahrzehnten falsch angefangen hat. Der Wanderzirkus ist etabliert, es ist schwer, im Nachhinein grundlegend etwas zu verändern. Zudem gibt es in den betroffenen Ländern auch Abgeordnete, die ihr Geld in Textilfabriken haben und ihre Wertschöpfung erhalten wollen. Und Länder wie Südkorea oder Japan, die dort auch schon lange produzieren lassen, sind an Verbesserungen null interessiert.
Wie setzt man Mindeststandards durch?
Indem man sie definiert und Transparenz schafft. Wir brauchen eine europäische Transparenz-Richtlinie. Das ist im digitalen Zeitalter machbar, manche Firmen haben es schon. So kann man in der gesamten Lieferkette sehen, wo zu welchen Bedingungen produziert, welche Löhne gezahlt, welche Umweltstandards eingehalten wurden und wann die letzte Kontrolle war. Ich hätte mir gewünscht, dass das längst von Deutschland in der EU gefordert wird. Das ist das Dilemma an der Initiative von Herrn Müller, dass er etwas Freiwilliges in Deutschland auf den Weg bringt, aber mit der Koalitionsvereinbarung keine europäische Regelung einfordern darf.
Also muss erst einmal auf nationaler Ebene gehandelt werden?
Wir haben jetzt den Versuch einer nationalen Regelung eingebracht, ein nationales Lieferkettengesetz. Bei Produkten, die in Deutschland verkauft werden, muss dann für jede Produktions- und Transportstufe nachvollziehbar sein, wer was wo gemacht hat. Die Koalition wollte so was angeblich auch, aber Kanzleramt und Wirtschaftsminister Altmaier blockieren es systematisch.
Was muss sich sonst ändern?
Unser bisheriges gesellschaftliches Geschäftsmodell – kaufen und schnell wegwerfen – müssen wir hinterfragen. Unsere Turbolebensweise, mit der wir viel zu viele Ressourcen verbrauchen, andere Lebewesen verdrängen und jedes Problem in einem Wahnsinnstempo über den Globus verteilen, ist Raubbau. Das betrifft alle Lebensbereiche. Wir haben in diesem Jahr die dritte Trockenheit in Folge. Als ich im vergangenen Jahr mit dem Bauernverband redete, sagten sie: Hoffentlich wird das nicht wieder so schlimm. Da habe ich gesagt: Doch, das wird jetzt immer so. Wir müssen anders wirtschaften, um unsere Zukunft zu sichern.
Trotz allem Überfluss haben wir jetzt nicht genug Masken und Schutzkleidung.
Wie haben wir das eigentlich organisiert, dass wir in diesen Wahnsinn gekommen sind, medizinische Schutzkleidung fast ausschließlich weit weg in Asien und an nur einem Ort herstellen zu lassen? Dass es Pandemien und Unwetter geben kann, wissen wir doch. Wir müssten einen Plan haben, wie wir mindestens in Notfällen selbst produzieren können.
Wie sieht es seit der Coronakrise in den Produktionsländern aus?
Kurios, dass auch denen teilweise die Zulieferung aus China fehlte. Dann sind keine neuen Aufträge aus Europa vergeben worden, die fertigen werden von den europäischen Auftraggebern zum Teil nicht mehr abgenommen und bezahlt. Die Botschafterin von Myanmar sagte mir, dass dort zig Fabriken geschlossen wurden. In Bangladesch genauso. Das heißt, die Arbeiterinnen bekommen kein Geld – und die Menschen hatten vorher schon Hunger. Das Einzige, was diese Länder haben, sind niedrig qualifizierte Jobs für 100 000 Arbeiterinnen und Arbeiter in der Textilindustrie, die für Südkorea, die USA und Europa produzieren. Ich erwarte von den europäischen Textilfirmen jetzt, solidarisch zu sein und mit einem Fonds den Näherinnen über die nächsten Wochen und Monate zu helfen.
Was bedeutet das für Fast Fashion?
Ich hoffe, dass Fast Fashion von allen Seiten überdacht wird. Es ist unökologisch, so zu produzieren. Das heißt aber auch, dass gut und gepflegt auszusehen wieder anders definiert werden sollte.
Den Vorwurf, dass nachhaltige Mode nach Kartoffelsack aussieht, kennen die Grünen ja nur zu gut.
Das ist aber tief aus der Mottenkiste. Als ich in Jeans zu den Ruhrfestspielen in Recklinghausen ging, hat meine Mutter den ganzen Abend gebetet, dass keiner da ist, der mich kennt. Heute muss man, was die Mode angeht, nichts mehr aus Protest tun, in meiner Jugend war das ein Ausdruck gegen das System. Heute ist alles möglich und du machst dir selber eine Freude, dich schön anzuziehen.
Die Grünen werden oft als Verbotspartei dargestellt.
Ich sehe es andersherum: Die Strukturen, die wir uns selbst auferlegt haben, auch im Bereich Mode, machen es uns schwer, werteorientiert zu leben. Die Freiheit, jederzeit alles kaufen zu können, beschränkt in Wahrheit viele andere Freiheiten – zum Beispiel die, einfach sozialverantwortlich einzukaufen, saubere Luft zu atmen oder im öffentlichen Raum Platz zu haben, der derzeit von Privatautos zugestellt ist. Man ist geprägt von seinem Umfeld. Wir bräuchten vor der „Tagesschau“ Klima- und Umweltinformationen, keine Börsennachrichten.
Muss man also den Zwang zum Wachstum hinterfragen?
Wenn, dann muss das Richtige wachsen. Es braucht mehr Windräder und Solaranlagen, mehr nachhaltige Kleidung, es braucht ökologisches, regionales und möglichst saisonales Essen. Dieser Bereich muss größer, anderes weniger werden. Wir müssen uns neu strukturieren. Demut wäre da ein gutes Stichwort.
Demut passt ja als Begriff gut in unsere Zeit.
Wenn wir so expandieren, dass Erkrankungen, die sich normalerweise in den Wäldern beim Gürteltier fanden, am Ende überspringen und sich beim Menschen festsetzen, dann haben wir etwas falsch gemacht. Wir sollten demütig sagen: Wir müssen das, was unsere normale Lebensweise ist, neu definieren.
Was ist denn das neue Normal?
Es gibt für den Begriff zwei Verwendungen. Für manche heißt es: Wir laufen in 1,5 Meter Abstand herum und tragen Mundschutz. Aber das neue Normal betrifft eine größere Frage: Was soll grundsätzlich unser Alltag sein? Auch für den Fall, dass wir einen Impfstoff hätten und es kommt kein neuer Übersprung, könnten wir unseren Alltag anders definieren. Mit einer gewissen Demut und Umsicht. Das neue Normal ist nicht Raubbau – aber mehr soziale Nähe.