Pink-Floyd-Gründer Roger Waters: „Wir müssen ganz viel Lärm machen“
Roger Waters’ Vater starb im Zweiten, der Großvater im Ersten Weltkrieg.Über seine Spurensuche, Englands Rolle als Pudel und was mit Pink Floyd wird
Roger Waters, 71, ist Gründungsmitglied der Rockband Pink Floyd. Seit 1985 verfolgt der Brite seine Solokarriere, berühmt wurde seine Inszenierung von "The Wall" 1990 auf dem Potsdamer Platz. 2010 ging er mit der Show erneut auf Tournee, die Dokumentation kommt im September in die Kinos
Herr Waters, Ihr Großvater starb 1916 und Ihr Vater 1944 – beide fielen als Soldaten in den Weltkriegen. Ist dieses Trauma der Familie ein Antrieb gewesen, sich gegen Krieg und Gewalt zu engagieren?
Ja, genauso ist es. Als mein Großvater starb, war mein Vater zwei Jahre alt, und als mein Vater starb, war ich ein Baby. Ich habe kürzlich in den USA in einem Rehabilitationsprogramm Musik gemacht, mit Soldaten, die im Irak und Afghanistan waren und dort sehr schwere Verletzungen erlitten haben. Als ich Gitarre mit diesen Männern spielte, wurde mir klar, dass sie keine Ahnung haben, wieso sie dort waren.
Was haben Sie den Männern gesagt?
Dass sie dort waren, weil Wahnsinnige wie Bush und Blair es so wollten. Wir wissen, dass es keinen anderen Grund zur Invasion in Irak gab, dass unsere Regierungen dafür überhaupt kein Mandat hatten. Dennoch haben sie die Männer dorthin geschickt. Diese Menschen sind die unschuldigen Opfer einer unverantwortlichen Politik. Das hat mich erschüttert. Und es hat mich motiviert, die Reise zu den Gräbern von Vater und Großvater zu einem Erzählstrang in meinem Film zu machen. In der Dokumentation über die Welttournee von „The Wall“ verwebe ich ja meine Familiengeschichte.
Sie werden bald 72 Jahre alt. Wieso haben Sie so lange damit gewartet, die Gräber Ihres Vaters und Großvaters zu besuchen?
Was soll ich sagen, ich war immer sehr beschäftigt. Die Frage hat mich aber über die Jahre immer wieder bewegt. Vor allem, nachdem vor 15 Jahren die Schwester meines Vaters das Grab meines Großvaters in der Nähe von Arras in Frankreich besucht hatte. Mein Vater hat kein Grab. Nur sein Name ist eingraviert auf einer Tafel des Commonwealth War Graves Commission Memorial bei Cassino in Italien. Seitdem sagte ich mir, ich muss dorthin fahren, und ich muss meine Kinder mitnehmen. Wie Sie im Film gesehen haben, standen sie dann auch neben mir am Grab. Aber ja, wieso hat es so lange gedauert?
Sie haben sich vor diesem Moment gefürchtet?
Das kann schon sein. Aber es ist eine Erinnerung, der man sich stellen muss. Ich bin erschrocken, als ich mich einmal im Gespräch plötzlich nicht mehr an den Namen meines Großvaters erinnern konnte: George Henry! Die Vergangenheit rückt weg von uns. Dieses Abschlachten an der Somme, bei der mein Großvater starb. Anzio, wo mein Vater bei der Verteidigung eines Brückenkopfes der britischen Armee gegen die Deutschen fiel. Es war eine der verlustreichsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs in Italien.
Die Deutschen sind verantwortlich für den Tod von Vater und Großvater. Haben Sie sie dafür gehasst?
Nein. Wissen Sie, meine Mutter war eine außergewöhnliche Frau. Sie war sehr links, ist 1938 der Kommunistischen Partei beigetreten und 1956 wegen Ungarn ausgetreten. Meine Mutter hat meinen Bruder und mich zu vielen politischen Veranstaltungen mitgenommen, auch weil es keine Babysitter gab. Also waren wir als Kinder bei Veranstaltungen der Britisch-Chinesischen-Freundschafts-Gesellschaft, solchen Sachen. Die fanden fast immer im „Friends Meeting House“ statt, dem Zentrum der Quäker in Cambridge, wo wir gewohnt haben. Ich habe niemals vergessen, wie sie zu mir sagte – obwohl sie Atheistin war: „Auch wenn ich nicht mit ihrem Glauben übereinstimme, musst du verstehen, dass diese Leute gute Menschen sind, und wir nicht andere Religionen oder andere Dinge dämonisieren dürfen.“ Obwohl meine Mutter ihren Ehemann im Krieg verloren hatte, bin ich nicht in einer Atmosphäre aufgewachsen, in der sie den Deutschen das vorwarf. Sie akzeptiert, dass es für politische Führer ziemlich einfach ist, die Leute irrezuleiten.
Ein Kriegsveteran sagt im Film zu Ihrem Engagement, Ihr Vater wäre stolz auf Sie. Ist es dieser Wunsch nach Anerkennung, der Sie antreibt?
Wahrscheinlich. Und es gibt da auch noch etwas anderes. Ich hatte als Kind regelmäßig einen Traum, dass ich jemanden umbringe. Bis ich schließlich erkannte, dass es mein Vater war, den ich glaubte da umzubringen. Als Kind ist man schnell dazu bereit, Verantwortung für eine schreckliche Tragödie wie diese auf sich zu nehmen, nur weil man annimmt, man müsse sie irgendwie selbst verursacht haben.
"Als junger Mann war ich rotzfrech"
Geliebt zu werden – wie wichtig ist das für einen Rockstar wie Sie?
Das ist nicht meine Motivation, auch wenn es vielleicht so aussieht. Als junger Mann war ich eher mürrisch und rotzfrech, ich kleidete mich ganz schwarz, rauchte dazu Zigaretten, weil es cool war und hatte diese Attitüde, „komm mir bloß nicht näher!“ Das hat sich über die Jahre vollkommen geändert. Diese Welttour war für mich ein bisschen wie ein Fest der Liebe. Wichtiger ist mir aber, dass „The Wall“ offenbar auch eine Generation erreicht und berührt, die 1979, als das Album erschien, noch nicht einmal geboren war. Das Durchschnittsalter der über vier Millionen Menschen, die zu den Shows auf unserer Welttour kamen, war 23 Jahre.
In „The Wall“ geht es um Unterdrückung und Diktatur. Als das Album 1979 erschien, war an das Ende des Kalten Krieges noch nicht zu denken – und auch nicht an eine Aufführung auf dem Todesstreifen an der Berliner Mauer.
Natürlich erinnere ich mich noch, wie wir da 1990 vor 300 000 Menschen aufgetreten sind. Dort, wo heute das neue Stadtzentrum mit dem Potsdamer Platz steht. Ich hatte das Gefühl, dass es wichtig war, mit „The Wall“ nach Berlin zu gehen. Ursprünglich hatte ich zusammen mit Leonard Cheshire und seiner Wohltätigkeitsorganisation „Memorial Fund for Disaster Relief“ einen Auftritt auf dem Roten Platz in Moskau vorgesehen. Wir hatten mit der Planung bereits begonnen. Und dann fiel im November 1989 die Mauer. Er rief mich an und sagte, „wir müssen nach Berlin – jetzt!“ Ich stimmte sofort zu. Also sind wir am nächsten Morgen nach Berlin geflogen. Im Zentrum, in diesem Niemandsland, sind wir an eine kleine Lücke in der Mauer getreten und haben auf die öde Brache geschaut, die einst der Potsdamer Platz war. Wir hatten uns übrigens auch das Maifeld am Berliner Olympiastadion angeschaut. Aber als wir durch diese Lücke guckten, meinte ich sofort, „wir müssen es hier machen, genau hier!“
Dass Sie in Berlin spielen konnten, war auch das Ergebnis der Politik von Gorbatschow.
Ich hatte das Glück, ihn vor ein paar Jahren zu treffen. Das war eindrucksvoll, und ich war überrascht über seinen sehr trockenen Humor. Ein britischer Staatssekretär hatte mir eine Geschichte über ihn erzählt. Danach soll Gorbatschow auf einer Zwischenlandung in London, als er auf den Weiterflug wartete, mit britischen Diplomaten zusammengetroffen sein. Dabei habe er über seine Begleiter die Diplomaten, die ganz nervös im Raum standen, fragen lassen: „Präsident Gorbatschow würde gerne wissen, ob die Weltgeschichte anders verlaufen wäre, wenn nicht US-Präsident John F. Kennedy, sondern der sowjetische Parteichef Chruschtschow ermordet worden wäre?“ Stille, lange Pause bei den Briten, sie drucksten verlegen herum.
Und?
Gorbatschow lässt seinen Dolmetscher sagen: „Präsident Gorbatschow denkt, dass es unwahrscheinlich gewesen wäre, dass Herr Onassis Frau Chruschtschow geheiratet hätte.“ Großartig.
Ja, aber ist die Geschichte auch wahr?
Nun hatte ich ja Gelegenheit, das zu überprüfen: Ich fragte also Gorbatschows ebenfalls anwesende Enkelin, er selbst spricht kein Englisch. Sie tuschelte eine Weile mit Gorbatschow, der mich mit steinernem Gesicht anschaute, bevor sie erklärte: „Mein Großvater sagt, die Geschichte ist vollkommen unwahr“ und fügte hinzu: „Aber mein Großvater mag die Geschichte sehr und bittet, sie möglichst oft zu erzählen.“ Und dann lachte er.
„The Wall“ handelt von einem Rockstar, der sich immer weiter isoliert. Haben Sie sich jemals so gefühlt, als wären Sie selber hinter einer Mauer?
Gegenwärtig, angesichts der Machenschaften der NSA, fühle ich mich machtlos gegenüber diesem undurchdringlichen Ungetüm. Nehmen Sie den britischen Staatsbürger Shaker Aamer, seit 14 Jahren ist er ohne Anschuldigung wegen irgendeines Verbrechens in Guantanamo inhaftiert. Das britische Unterhaus sandte kürzlich eine Delegation zu Gesprächen nach Washington. Senatoren wie Dianne Feinstein oder John McCain sagten zu, mit Obama über den Fall Aamer zu sprechen. Aber es kam keine einzige Reaktion. Das ist schockierend.
Sie sind enttäuscht von Barack Obama, der einst versprach, das Lager in Guantanamo zu schließen.
Ja. Ich bin enttäuscht von Obama, weil er solche Fälle weiter stillschweigend duldet. Das Gleiche gilt für die Attacken mit Kampfdrohnen gegen Menschen. Das ist doch wie in einem Albtraum, wenn diese Drohnen, von fernab gesteuert, Menschen ängstigen und töten. Diese sogenannten signature attacks mit Drohnen, nur, weil die Geheimdienste glauben, sie könnten irgendwann mal eine Bedrohung werden, die sind furchtbar.
"Plötzlich war es okay, Menschen zu foltern"
Vor 35 Jahren haben Sie geschrieben „Mother do you think they'll drop the bomb?“. Damals waren die Menschen in Sorge um einen Atomkrieg zwischen der USA und der Sowjetunion. Was sorgt Sie heute?
Wir erleben eine seltsame, geheime Welt, in der niemand verantwortlich ist und in der Wähler keine Rolle spielen. Unternehmen wie Apple und Google sind fähig, die privaten Daten von Milliarden Menschen zu sammeln, und die helfen ihnen noch dabei. Dann die Geheimdienste in den USA, in England oder Deutschland, die all diese Daten sammeln, ohne dass wir davon erfahren.
Sie leben in den USA. Zerstören die Skandale um die NSA oder Guantanamo den Anspruch der USA, Vorreiter für Freiheitsrechte zu sein?
Natürlich. Wir haben in den letzten 15 Jahren erlebt, wie es plötzlich okay war, Menschen zu foltern oder das Recht auf richterliche Haftprüfung aus dem Fenster zu werfen. Es wird uns erzählt, es sei unbedingt erforderlich, diese Dinge zu tun, damit wir sicher sind vor den anderen, den Muslimen, die dich umbringen werden, während du in deinem Bett liegst. Das alles ähnelt sehr der „Reds-under-the-beds“-Hysterie in den fünfziger Jahren, als die Kommunistenangst umging.
Sie fürchten den Verlust demokratischer Kontrolle.
Ja. Alles, was wir tun können, ist ganz viel Lärm darum zu machen, so viel wie möglich. Es ist unser Mangel an Informationen, der erschreckend und beängstigend ist. Aus diesem Grund sollten wir Chelsea Manning, Ed Snowden und Ray McGovern und all die anderen Whistleblower ehren oder Julian Assange und jeden, der beteiligt ist an diesem verzweifelten Kampf, uns, dem Volk, Informationen zu geben, damit wir Entscheidungen selbst treffen können.
Ist für Sie die Idee der europäischen Integration das wertvollste Vermächtnis der zwei Kriege, die dieser Kontinent erlebt hat?
Absolut. Ich bin ein großer Anhänger der europäischen Idee. Da haben wir seit dem Weltkrieg enorme Fortschritte gemacht. Es ist furchtbar, dass wir derzeit in verschiedenen Mitgliedsstaaten ein Anwachsen eines neuen Nationalismus erleben. In vielen Gesellschaften wird in Zeiten der Krise nach Sündenböcken gesucht, nach Gruppen und Minderheiten, an denen man seine Wut und die Ängste abarbeiten kann. Auch in Großbritannien haben wir diesen Unsinn von UKIP, der Partei für die Unabhängigkeit des Königreichs. Es gibt doch immer eine kleine Ecke, in der sie die Flammen des Nationalismus wieder anfachen wollen. Diese Leute deuten einfach mit den Fingern auf alle, die anders sind als sie. Das ist schon zum Fürchten.
Großbritannien entfernt sich von Europa. Wie bewerten Sie das geplante Referendum über einen englischen Ausstieg aus der EU?
Ich bin strikt gegen einen Austritt. Es wäre ein furchtbarer Schritt zurück für die europäische Idee und auch für England selbst. Das würde uns abschneiden von Europa und uns abtreiben lassen in Richtung des offenen Atlantiks. Das ist nicht gut. Wir würden erneut zu einem Pudel, der den großen Hunden hinterherläuft, in unserem Fall dann den USA.
Die Griechenland-Krise spitzt sich weiter zu, ein Grexit ist nicht mehr ausgeschlossen.
Ein Grexit wäre ein riesiges Desaster für ganz Europa. Es wäre unverantwortlich, wenn die europäischen Regierungen das nicht hinbekommen, dass Griechenland seine Verpflichtungen erfüllen kann. Einen Grexit kann niemand mit gesundem Menschenverstand wollen.
Suchen Sie den Kontakt mit Musikern, die sich politisch engagieren?
Ich höre keine jungen Bands und weiß deshalb auch nichts über ihr Engagement. Natürlich habe ich Kontakt zu ein paar Leuten aus meiner Generation, mit denen rede ich. Aber selbst bei jenen, die etwas ernsthaft vertreten, geht es in ihren Songs häufig zu vage zu, da wird mir nicht klar, was sie wirklich sagen wollen. Ich mag Neil Young, Leonard Cohen oder John Lennon. Ich mag es, wenn Songs sehr direkt und eindeutig sind, da musst du dich nicht hindurchtasten wie durch einen Nebel. Und trotzdem sind es poetisch schöne Songs.
Was kommt nach dem Film zu „The Wall“?
Ich arbeite schon an einem neuen Album mit neuen Songs, auch wenn ein paar ältere dabei sein werden. Ich habe seit 40 Jahren immer dasselbe Bild gemalt, da werde ich mich nicht dazu bringen, etwas vollkommen Neues zu malen. Ich bin auch schon dabei zu planen, wie eine Show aussehen könnte, aber nicht mehr eine für die großen Stadien wie bei „The Wall“, dafür werden Säle genügen.
Werden Sie dabei mit Nick Mason arbeiten, dem Drummer Ihrer früheren Band Pink Floyd, wie zuletzt zu hören war?
Das steht nicht an. Ich sehe ihn zwar regelmäßig, aber wir werden keine Musik mehr zusammen machen. Das ist endgültig vorbei, seitdem Rick Wright tot ist. Diesen Sommer gebe ich Mitte Juli ein Konzert auf dem Newport Folk Festival. Ich freue mich schon darauf. Als sie mich fragten, ob ich bei ihnen auftreten würde – das ist eine relativ kleine Sache mit 10 000 Menschen, – erinnerten sie mich daran, dass dort 1965 Bob Dylan bei seinem Auftritt als Verräter beschimpft und ausgebuht wurde, nur weil er auf einer elektrischen Gitarre spielte. Man fasst es nicht. 50 Jahre ist das schon her! Was für eine lange Zeit.
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