Erderwämung: Willkommen im Gasthaus zum Klimanotstand
Land in Sicht: Wie ein brandenburgischer See im Kleinen die große Geschichte vom menschengemachten Klimawandel erzählt. Eine Kolumne.
Brandenburgs Landeshauptstadt hat für sich gerade den „Klimanotstand“ erklärt. In Berlin übergab eine Volksinitiative am Dienstag im Abgeordnetenhaus rund 43 500 Unterschriften von Menschen, die das auch für Berlin wollen. In den USA haben ihren „climate emergency“ schon 18 Städte gemeldet, darunter New York und San Francisco, in Südamerika versteht sich ganz Argentinien als Klimanotstandsgebiet.
Konstanz hatte Anfang Mai als erste deutsche Kommune mit diesem Aus- und Hilferuf begonnen, weil unter anderem der Wasserspiegel des Bodensees während der beiden Trockenjahre 2018/19 erheblich gesunken ist. Bisher sind knapp 50 Gemeinden in Deutschland dem Konstanzer Beispiel gefolgt, unter ihnen auch die einstige Bundeshauptstadt Bonn.
Ein Schauspieler mit Namen Jonathan Berlin hat derweil eine Petition beim Bundestag eingereicht, um den Klimanotstand für die ganze Republik auszurufen. Bei einigen Aktivisten läuft da wohl auch ein Hype. Als sei das neue K-Wort irgendwie cool. Als würde die Erklärung allein schon ein erstes Rettungszeichen bedeuten.
Reine Notleidenschaft oder gar ein Nachholbedürfnis in Sachen Klima-Alarm kann man Hans Joachim Schellnhuber dagegen als Letztem vorwerfen. Der 69-jährige Wissenschaftler war bis vor einem Jahr Direktor des von ihm gegründeten und weltweit renommierten Potsdamer Instituts für Klimaforschung. Nun lässt Schellnhuber das kleine Brandenburg vor den Wahlen wissen, dass er als parteiloser Experte bereit sei, einer künftigen Landesregierung als Berater, ja notfalls sogar als Minister zu dienen. Schellnhuber ist wie viele Weltgrößen gewiss kein völlig uneitler Mensch. Allerdings auch keiner, der um Schlagzeilen, Aufträge oder gar Ämter buhlen muss. Insofern ist die kleine Meldung aus Potsdam eine ziemliche Sensation. Offenbar will da einer ein Zeichen setzen.
Für die AfD, die nach den Umfragen alle Chancen hat, in Brandenburg demnächst stärkste Partei zu werden (wenngleich ohne erkennbar willige Koalitionspartner), ist das alles nur Humbug. Nach der Potsdamer Notstandserklärung war aus der AfD die Frage zu hören, wo hier überhaupt etwas vom Klimawandel zu sehen sei. So, als wollten die Alarmisten uns nur den zweiten schönen Sommer in Folge vermiesen.
Ähnlich denken oder räsonieren auch manche Nicht-AfD-Wähler. Bis sie vielleicht mal in den Süden der blühenden Landeshauptstadt Potsdam gefahren sind. Dort, am auch bei kundigen Berlinern beliebten Neuseddiner See, gibt es im Örtchen Kähnsdorf eine Gastwirtschaft mit großer Seeterrasse und einem weitläufigen Garten hin zum eigenen Bootssteg. Der Platz ist eine Idylle, kein Wunder, dass das Dorfgasthaus auch eine Lieblingskneipe von Manfred Krug war. Von der Terrasse, auf der man den 2016 verstorbenen Schauspieler sommers gerne sitzen sah, hat man auch dieser Tage einen traumhaften Ausblick.
Wir waren kürzlich wieder da, zum ersten Mal seit zwei Jahren – doch auf den zweiten Blick ziemlich überrascht. Noch 2017 nämlich lag das Seeufer direkt am Grundstück, und ein Holzsteg führte ins Wasser. Jetzt aber ragt der lange Steg einfach in die Luft. Der frühere schmale Sandstrand ist zu einer hellgrauen weiten Schlickfläche geworden, auf der ein halbes Dutzend blaue Holzboote im Trockenen sitzen. Auch ein großes metallenes Touristentretboot liegt noch am Rand und rostet dahin. Der im Sonnenuntergang dahinter lächelnde See hat sich seit unserem letzten Besuch um etwa 30 Meter zurückgezogen.
Das Ganze ergibt eine fast surreale Szenerie, ja, es wirkt wie eine leicht morbide und dabei nicht unpittoreske Filmkulisse. Traum und Alptraum, Fellini oder Antonioni in Brandenburg. An beiden Seiten dazu ein neuer Schilfdschungel, der die verlandeten Stege und Bootshäuschen der benachbarten einstigen Seeanlieger überwuchert.
Nachfragen ergeben, dass alles im Dürresommer 2018 begann. Zwar hatte es zuvor schon Probleme mit dem Grundwasser gegeben, weil ein hinter dem gegenüberliegenden Ufer betriebener, bald nach der Wende angelegter Golfplatz offenbar vertragsgemäß ein paar hunderttausend Liter Seewasser im Jahr entnehmen darf.
Bis zum letzten Jahr ging das noch irgendwie gut. Jetzt freilich herrscht hier, vor den Toren von Potsdam und Berlin: der blanke Wahnsinn.
Oder anders gesagt: Der Neuseddiner See erzählt im Kleinen die große Geschichte eines in mehrerlei Hinsicht menschengemachten Klimawandels – und seiner hier unübersehbaren Folgen.