Berlin entdeckt die Tajine: Wie man mit dem marokkanischen Schmortopf kocht
Die Tajine ist ein Wunderding aus der nordafrikanischen Küche. Man legt rein, was gerade so da ist, Deckel drauf, abwarten – fertig! Auch Berlin kommt nun auf den Trichter.
In der Luft liegt der Duft einer besonderen Melange, die im Gewürzregal zu Hause ist: Kumin, Ingwer, Safranfäden, süßes und scharfes Paprikapulver, frisch gemahlene Pfefferkörner. Salz und Petersilie werden nach Gefühl dazu geschüttet. Der Messbecher ist für meine Mutter überflüssig.
„In meinem Auge liegt die Waage“, heißt es im Arabischen – gerade beim Tajine, einem besonderen Schmortopf, regiert in Marokko das Bauchgefühl. Man vertraut der Erfahrung. Die Rezepte wurden schließlich bereits von der Oma weitergegeben.
Hiesige Fans des Schmortopfs haben da oft noch einiges nachzuholen. In Paris und Brüssel bekommt man in vielen Lokalen bereits eine gescheite Tajine serviert. Jetzt setzt sich dieser Standard auch langsam in Berlin durch.
Kochkurs im Bellwinkel
Wie der Topf mit dem spitzen Deckel funktioniert, kann man in Berlin beispielsweise im Bellwinkel in der Wilmersdorfer Güntzelstraße erleben. In ihrem Feinkostladen mit Mittagstisch servieren Carola Doering und Pia Koppelkamm ein Mal pro Woche Tajine, einen mit, einen ohne Fleisch.
Ihre Klassiker: Huhn mit Salzzitronen, Oliven und Zucchini oder Lamm mit Auberginen und Datteln. Als vegetarische Variante gibt es zum Beispiel einen Tajine mit Möhren, Kichererbsen, Mandeln und Honig. Im Bellwinkel bekommt man auch die essentiellen Zutaten wie eingelegte Zitronen, Gewürzmischung wie Ras-El-Hanout und kann im Kochkurs lernen, wie man damit umgeht.
Der Marokkaner rührt nicht
„Unten in den Topf legt man am besten ein Zwiebelbett, darauf schichtet man härteren Gemüse wie Kartoffeln und Möhren, darüber weiche wie zum Beispiel Zucchini“, sagt Doering. Umrühren darf man natürlich. Die Marokkaner aber verzichten gerne darauf.
Tajine – das arabische Wort bezeichnet den in seiner traditionellen Form aus gebranntem Lehm geformten Topf, den man matt, glasiert oder aufwendig verziert bekommt. Am besten kocht man damit auf offener Flamme, ein Gasherd erweist sich da als praktisch. Tajine, so heißen aber auch die Gerichte, die man damit kocht.
„Die Tajine funktioniert so, dass sich an der Innenseite des Deckels Kondenswasser bildet, das auf das Gargut tropft und somit den schonenderen Garprozess befördert“, erzählt Carola Doering. Die elementare Zutat ist also der Wasserdampf, der von dem spitz zulaufenden Deckel gleichmäßig auf das Gargut tropft. Je länger gegart wird, desto intensiver der Geschmack.
Bis zu fünf Stunden schmort das Gemüse
Was den marokkanischen mit dem verwandten Römertopf verbindet? Man braucht Geduld. „Im Tajine muss das Essen mindestens eine halbe, besser noch eine ganze Stunde auf kleiner Flamme schmoren“, sagt Carola Doering.
In Marokko geht es da deutlich gemächlicher zu. Bis zu fünf Stunden kann dort eine Tajine auf heißen Kohlen verbringen, erklärt meine Mama Latifa in ihrer Wohnung im marokkanischen Meknes. Zu dem Duft nach Ingwer und Safran mischt sich nun der etwas strenge Geruch von fermentierter Butter. Den Nachbarsjungen hat sie mit dem noch ungebackenen Brot zum öffentlichen Steinofen geschickt. So kann sie sich ganz auf die Tajine konzentrieren.
Keine Experimente in Meknes
In großen Städten wie Marrakesch, Fes oder Meknes gilt die Zubereitung einer Tajine als Kunst. Dort rümpft man die Nase angesichts der Experimente in Casablanca. Dort, wo die Tajine nicht zur kulinarischen Tradition gehört und erst mit der Landflucht in den Küchen Einzug hielt, lassen sich die Menschen inspirieren von französischen Kochbüchern. Oder sie gehen auswärts essen und holen sich Ideen bei professionellen Köchen.
Meine Mama Latifa hingegen schwört auf die schlichte Tradition. Crème fraîche, die Zweckentfremdung der Minze oder die Beleidigung des Couscous’, jedes Mal wenn man ihn kalt als Salat serviert – wenn sie von solchen Neuerungen hört, rollt sie nur mit den Augen.
Die Tajine hat Regeln
Auch für die Kochshows im marokkanischen Fernsehen, die versuchen, die kulinarische Kultur des Landes weiterzuentwickeln und mit anderen Küchen zu verbinden, hat die korpulente Frau in der Blümchenschürze nicht viel übrig. Dabei kocht sie selbst gerne mal eine Bolognese oder Spinat mit Kartoffeln und Rührei. „Die Tajine hat für mich aber bestimmte Regeln“, sagt die 60-Jährige.
Für meine Mutter gibt es logische Kombinationen aus den verschiedenen Zutaten: Frische Petersilie passt gut zu Ingwerpulver, die teuren Safranfäden ergänzen beim Huhn eine Prise Zimt, die man gut dosieren muss. Wobei es zwei Glaubensrichtungen in Marokko gibt, was deren Handhabung angeht: In den Bergen und im Süden geht’s rustikal zu, in den Städten feiner.
Warum der Untergang des Morgenlandes nicht zu befürchten ist
Viel ist gut, lautet die Devise auf dem Land, wo die Tajine auch herkommt, laut arabischen Überlieferungen aus den Amazigh-Dörfern im Atlas-Gebirge. Und so schmeißen die Dorfbewohner noch heute das Gemüse der Saison in ihren Lehmgefäßen zusammen und lassen es, aus Kostengründen oft ohne Fleisch, vor sich hin schmoren.
Fürs Auge kommt auf dem Land noch eine gehörige Portion chemischer Safran dazu. Die Lebensmittelfarbe aus dem Labor macht den wichtigen Sud, den man mit viel Brot auftunkt, appetitlich gelb oder orange. Das Resultat: eine farbenfrohe Kreation aus verschiedenen Gemüsesorten, frischer Petersilie und sehr viel Zeit. Denn in Marokko ist nichts mit knackig. Wenn das Gemüse nicht durch ist, weigern sich die Kinder zu essen. „Wir kochen so lange, bis die Vitamine raus sind – und es besser schmeckt“, sagt meine Mama und lacht.
Neues Wort: gemüsieren
Die alten Rezepte kombinieren geschickt verschiedene Geschmacksrichtungen: süß trifft auf salzig, salzig auf sauer, leicht bitter wiederum auf süß. Neben den zuckrigen Pflaumen mit dem salzigen Rindfleisch gibt es auch Variationen mit getrockneten Aprikosen, gebrannte oder frittierte Mandeln kann man neben Sesamkernen als Dekoration und Abrundung einsetzen.
Die marokkanische Hausfrau hat irgendwann das Verb „gemüsieren“ erfunden: Rind, Lamm oder Huhn wird zusammen mit einem Gemüse zubereitet. Die fleischlastigen Klassiker werden allerdings nur an besonderen Tagen serviert.
Arme Leute bevorzugen die Kartoffel als sättigende Hauptzutat, die ist billig und macht satt. Oder man konzentriert sich auf Karotten (mit Oliven und Huhn in der Vollversion) oder Zucchini. Als Delikatessen zählen Quitte (mit Honig und Rindfleisch) oder Okraschoten (mit Tomate und Lammfleisch). Wer es mal selbst versuchen will, findet gute Anregungen in Ghillie Basans Buch „Vegetarische Tajines und Couscous“, das auch zahlreiche Vor- und Süßspeisen der marokkanischen Küche vorstellt.
Berliner Tajine
In Berlin kann man die würzigen Schmorgerichte mittlerweile in verschiedenen Restaurants probieren, von denen eins, in der Konstanzer Straße, sogar Tajine heißt. Wer etwas mehr Geld ausgeben möchte, geht ins Restaurant Kasbah in der Gipsstraße in Mitte, dort gibt es ebenfalls gute marokkanische Weine. Viele Reben in Marokko sind alt, die Weine vollmundig und kräftig, das passt gut zu den Fleischgerichten aus der Tajine. Günstig, aber eher nur marokkanisch angehaucht ist das Rissani am Spreewaldplatz in Kreuzberg.
Beim libanesisch inspirierten Maiden Mother & Crone in der Potsdamer Straße wird alles in der Tajine serviert, wenn auch nicht alles immer darin gekocht wird. Doch das ist, wenn man so will, durchaus authentisch. Zeit kostet schließlich Geld und deswegen wurde nicht nur in den Haushalten, sondern auch in den Restaurants nach der Kolonialisierung Marokkos durch die Franzosen vielerorts ein Wundertopf aus Stahl eingeführt: Der Schnellkochtopf sorgt mit erhöhtem Luftdruck dafür, dass die Zutaten schneller garen.
Feiertags dauert sie länger
Fünf Stunden werden so locker mal auf 15 bis 20 Minuten eingedampft. Die Tajine dient dann an Werktagen häufiger nur noch als Teller, in dem man das fertige Essen präsentiert. Ist ja auch viel schöner.
Der Untergang des Morgenlandes oder zumindest dessen Kochkultur ist dennoch nicht zu befürchten. An Feiertagen und an den Wochenenden lebt in Marokko die besondere, zeitaufwendigere Zubereitungsweise weiter. Und das nicht nur bei meiner Mutter.
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