Nach dem Sturm aufs Kapitol: Wie der Neuanfang in den USA gelingen kann
In zwölf Tagen übernimmt Joe Biden das Weiße Haus. Er übernimmt ein Land, das gespalten ist, verunsichert, gezeichnet von Hass. Kann er die USA versöhnen?
Der Tag danach beginnt mit einem dieser fulminanten Washingtoner Sonnenaufgänge. Schaut man von Nordwesten der amerikanischen Hauptstadt runter in Richtung der Regierungsgebäude entlang der Mall, geht die Sonne direkt hinter dem Kapitol auf. Ein spektakulärer Anblick, ein neuer Tag.
Wenige Stunden ist es da erst her, dass sich nach der Schande vom 6. Januar, nach dem Sturm auf das Kapitol, auch das politische Washington wieder etwas aufgehellt hat. Um 3.32 Uhr Ortszeit liest Vizepräsident Mike Pence im Plenum des Repräsentantenhauses die Ergebnisse von Joe Bidens Sieg im Bundesstaat Vermont vor. Sie pushen den Demokraten über die erforderlichen 270 Wahlleutestimmen, der Kongress kann ihn nun als den nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten bestätigen – knapp 15 Stunden nach dem Beginn der gemeinsamen Sitzung von Repräsentantenhaus und Senat, die so brutal unterbrochen wurde.
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17 Minuten später veröffentlicht Donald Trumps Social-Media-Chef Dan Scavino auf Twitter eine Erklärung des abgewählten Präsidenten, in der dieser endlich zugesteht, die Macht am 20. Januar friedlich abzugeben. Trumps eigener Twitter-Account ist da noch gesperrt. Am Mittwoch hatte selbst dieses Unternehmen genug von seinen Lügen.
Joseph Robinette Bidens Ernennung zum 46. Präsidenten der USA in weniger als zwei Wochen steht damit nichts mehr im Weg. Zwar wird man erst im Rückblick mit Gewissheit sagen können, was die Zäsur vom 6. Januar 2021 für seinen Amtsantritt bedeutet hat. Aber eines steht schon mal fest: Was immer Trump geritten hat, seine Verschwörungstheorie von der gestohlenen Wahl so auf die Spitze zu treiben, dass sich seine Anhänger aufgerufen fühlten, das Kapitol zu stürmen – damit hat er letztlich nicht anderes erreicht, als sich selbst endgültig ins politische Abseits zu manövrieren.
Wer sich retten kann, sucht das weite
Kein Republikaner, der noch halbwegs vernünftig tickt, will am Mittwoch oder Donnerstag den randalierenden Mob im Herzen der amerikanischen Demokratie verteidigen, wie Trump es in seinen letzten Tweets noch getan hat. Immer mehr Stimmen werden auch in konservativen Kreisen laut, die über eine Amtsenthebung Trumps spekulieren. Gleichzeitig löst sich das Feld der letzten Trump-Loyalisten auf, immer mehr Mitarbeiter des Weißen Hauses reichen ihren Rücktritt ein, darunter der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater Matt Pottinger. Dessen Chef Robert O’Brien, bislang als enger Weggefährte Trumps bekannt, soll ebenfalls darüber nachdenken. Wer sich noch retten kann, sucht das Weite.
Späte Reue bei vielen Republikanern
Der Auftritt des bisherigen republikanischen Mehrheitsführers Mitch McConnell bei der gemeinsamen Sitzung im Kongress verdeutlicht, welch tektonische Verschiebung da gerade geschieht. McConnell ist so offensichtlich erschüttert über die Vorgänge inner- und außerhalb des Kapitols, dass seine Stimme zu brechen droht. Man muss dem Mann, der viel von dem ermöglicht hat, was Trump anrichtete, für seine späte Reue nicht applaudieren. Aber sein emotionaler Auftritt steht beispielhaft für den Kater, der vielen Republikanern nun bevorsteht.
Nun werden nicht alle Späteinsichtigen sofort zu Biden-Jüngern mutieren, und die viel zu vielen Hardcore-Trump-Anhänger werden weiter ungerührt dessen Dolchstoßlegende verbreiten. Aber der President-elect hat allen zumindest die Tür offengelassen, die zurück in den Kreis der zivilisierten Demokraten führt. In seiner Rede am Mittwochabend verurteilt Biden den Mob in scharfen Worten, aber er definiert die Randalierer als eine kleine Truppe von Extremisten und beschwört, das amerikanische Volk als Ganzes sei besser als der Teil, den die Welt an diesem Tag von ihm zu sehen bekam. Biden ist gewiss nicht der beste Redner, der jemals ins Weiße Haus einziehen wird. Aber er hat eine Botschaft, die eine Antwort auf die gigantische Herausforderung dieser Zeit geben könnte. Bei allen Schwierigkeiten, die nicht erst seit gestern auf ihn warten.
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Joe Biden ist angetreten, um das tief gespaltene Land wieder zusammenzuführen. Angesichts der schockierenden Bilder Zehntausender hasserfüllter und von Verschwörungstheorien überzeugter Trump-Anhänger muss man ihn um diese Aufgabe nicht beneiden. Aber er wusste, wofür er sich bewarb. Der heute 78-Jährige führte dieses Wissen gar als Grund an, warum er sich entschieden hatte, zum dritten Mal Anlauf aufs Weiße Haus zu nehmen: Er wolle, das sagt er ein ums andere Mal, um die Seele Amerikas kämpfen. Er könne nicht tatenlos zuzusehen, wie Donald Trump das Land weiter beschädigt, hatte er nach dem rechtsextremen Aufmarsch in Charlottesville seine Kandidatur begründet. Biden hat sich durchgesetzt, gegen viele deutlich jüngere, deutlich progressivere, deutlich redegewandtere Kandidaten.
Brücken zu bauen, wird schwierig
Viele dieser unterlegenen Bewerber holt er nun in seine Regierung, auch das macht Hoffnung. Joe Biden ist ein Mann, der inklusiv regieren will, der Menschen zusammenbringen und Brücken bauen will. Die zum anderen politischen Lager wird besonders aufwändig geplant werden müssen.
Donald Trump hätte den Unterschied zwischen sich und seinem designierten Nachfolger nicht deutlicher machen können als mit dem, wozu er seine Anhänger in letzter Konsequenz angestachelt hat. Wenn einer wie Trump, der über sich selbst sagt, dass er nicht verlieren kann, schon untergehen muss, dann will er in diesen Strudel wenigstens so viele wie möglich hineinziehen. Zwölf Tage lang kann der Republikaner noch Unheil anrichten, bevor Joe Biden am 20. Januar vor dem Kapitol seinen Amtseid ablegt – an der Westseite des ehrwürdigen Gebäudes steht dafür schon die Tribüne, genau hier hat der Trump-Mob am Mittwoch besonders ausdauernd getobt. Bidens Inauguration wird trotzdem wie geplant stattfinden.
Nancy Pelosi darf die Mehrheit weiter koordinieren
Der Mittwoch hat nicht nur das Ende der Ära Trump besiegelt, er hat Bidens Sieg vom 3. November auch perfekt gemacht. Denn mit den Erfolgen von Raphael Warnock und Jon Ossoff bei der Nachwahl in Georgia steht nun fest, dass die Demokraten die nächsten beiden Jahre auch die Mehrheit im Senat stellen werden, so knapp diese auch ist – sie kann durch die Stimme der designierten Vizepräsidentin Kamala Harris gesichert werden, auch wenn alle Republikaner geschlossen beieinander bleiben. Die Mehrheit im Repräsentantenhaus ist zwar empfindlich geschrumpft, aber sie steht, und Nancy Pelosi wird sie erstmal auch weiterhin organisieren.
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Biden kann nun ehrgeizig regieren, und viele in seiner Parteien erwarten, dass er dies mit dieser dreifachen Mehrheit auch wirklich tut, vor allem der linke Flügel. Dass er viele auch enttäuschen wird, ist indes schon jetzt klar. Biden ist ein Mann des Kompromisses, und Kompromisse sind eben nicht die Erfüllung maximaler Ansprüche. Um erfolgreich zu sein, muss er immer wieder versuchen, auch moderate Republikaner auf seine Seite zu ziehen. Die Chancen dafür sind mit diesem Mittwoch gestiegen. Gleichzeitig darf er die Progressiven in seiner eigenen Partei nicht verprellen. Eine Herkulesaufgabe.
Der 6. Januar war eine Warnung
Scheitert Biden, wird sich die ideologische Spaltung des Landes weiter verfestigen. Wer das will, kann es nicht gut mit seinem Land meinen. Der Mittwoch brachte eine Ahnung davon, was selbst in einer der ältesten Demokratien der Welt möglich sein könnte, wenn Hass auf politisch Andersdenkende grassiert und demokratische Institutionen systematisch sturmreif geredet werden. Der 6. Januar war eine Warnung, nicht nur für Amerika. Das zeigen die entsetzten Reaktionen weltweit. Hoffen muss man, dass die Bilder des geschändeten Kapitols so schnell nicht in Vergessenheit geraten.
Genug ist genug, so begründen einflussreiche Republikaner wie Senator Lindsey Graham, warum sie Trump nicht länger unterstützen. Nun muss Biden möglichst viele dieser Geläuterten für sich gewinnen, auch wenn das nicht jedem gefallen wird. Ein Neuanfang kann nur klappen, wenn er auch wirklich gewünscht ist.
Nicht nur Biden hat ein Problem
Sorgen machen da Umfragen, nach denen knapp die Hälfte der Republikaner die Angriffe auf das Kapitol unterstützen sollen. Auch, wenn man diese hohe Zahl anzweifelt, so bedeutet die Tendenz doch ein Riesenproblem. Das hat aber nicht nur Joe Biden, das haben auch die Republikaner, die Trumps Lügengebäude zu lange gestützt haben.
Sein ehemaliger, durchaus umstrittener und in Ungnade gefallener Nationaler Sicherheitsberater John Bolton hat da einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht: In landesweiten Konferenzen solle die Partei mit der Legende vom Wahlbetrug aufräumen. Wahrscheinlich ist so ein Schritt nicht. Aber er zeigt, dass ein Umdenken möglich ist.