Streit um türkischen Ilisu-Damm: Wenn eine Jahrtausende alte Stadt im Stausee versinkt
Die Türkei will im Südosten des Landes den Tigris aufstauen und damit die Wirtschaft ankurbeln. Nicht nur uralte Kulturstätten bleiben auf der Strecke.
Es könnte den Anfang vom Ende der Jahrtausende alten Stadt Hasankeyf am Tigris im Südosten der Türkei markieren. Der Tigris soll am gigantischen Ilisu-Staudamm flussabwärts von Hasankeyf aufgestaut werden: In weniger als einem Jahr könnte Hasankeyf in einem Stausee von mehr als 300 Quadratkilometer Fläche versinken. Eine Protestbewegung will mit Kundgebungen innerhalb und außerhalb der Türkei versuchen, das Projekt doch noch zu stoppen. Die Chancen dafür stehen allerdings schlecht.
Der Ilisu-Damm rund 30 Kilometer nördlich der Grenze zu Syrien ist Teil eines ehrgeizigen Plans zum Bau von insgesamt 22 Staudämmen, mit denen die Türkei im armen Südostanatolien die biblischen Flüsse Euphrat und Tigris aufstauen will. Mit dem Strom aus Wasserkraftwerken und dem aufgestauten Wasser – allein der Ilisu-Stausee soll mehr als zehn Milliarden Kubikmeter fassen – will Ankara die Wirtschaft im Kurdengebiet ankurbeln. Staudammgegner kritisieren die Zwangsumsiedlungen von zehntausenden Menschen und die Zerstörung von uralten Kulturgütern wie in Hasankeyf, das zusammen mit knapp 200 Dörfern und 300 archäologischen Fundstellen geflutet werden soll.
Erst vor kurzem hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Entschlossenheit seiner Regierung unterstrichen, das Prestigeprojekt trotz aller Proteste durchzuziehen. Mehr als vier Milliarden Kilowatt Strom im Jahr werde das Wasserkraftwerk in Ilisu liefern, sagte Erdogan. Die Kosten bezifferte der Präsident mit rund 1,3 Milliarden Euro.
Das Geld muss die Türkei alleine aufbringen, seit vor fast genau zehn Jahren europäische Partner aus dem Projekt ausgestiegen sind. Die Regierungen in Berlin, Bern und Wien zogen im Juli 2009 ihre Kreditbürgschaften mit der Begründung zurück, die Türkei unternehme nicht genug für den Schutz von Kulturgütern, Menschen und Umwelt im Flutungsgebiet.
Auch im Irak ist man wegen des Staudamms in Sorge
Hasankeyf wurde zum Symbol dieser Vorwürfe an die Türkei. Die uralte Stadt, die Assyrer, Römer, Seldschuken und andere Herrscher kommen und gehen sah und eine Handelsstation an der Seidenstraße war, wird im Stausee untergehen. Sollte es im kommenden Winter viel Schnee geben und die Auffüllung des Sees schnell vorangehen, könnte es schon im nächsten Frühjahr so weit sein, sagt Ercan Ayboga von der „Initiative zur Rettung von Hasankeyf“. Die türkische Regierung verweist darauf, dass wichtige Kulturdenkmäler aus dem Einzugsgebiet des Stausees gerettet worden sind. So versetzten Experten unter anderem ein 1600 Tonnen schweres und mehr als 600 Jahre altes Badeshaus. Für die Menschen, die in Hasankeyf und in anderen Orten ihre Häuser verlieren, sind neue Ortschaften gebaut worden. Jetzt sollen die ersten Bewohner von Hasankeyf in das höher gelegene „Neu-Hasankeyf“ umziehen.
Nicht nur Aktivisten, die sich wegen der Vertreibung der Menschen, der Vernichtung des Kulturerbes und der Zerstörung von Biotopen im Tigris-Tal sorgen, haben Bedenken gegen das Projekt. Der türkische Nachbar Irak, der auf das Wasser aus dem Tigris angewiesen ist, befürchtet, dass er in der Auffüll-Phase des Ilisu-Stausees buchstäblich auf dem Trockenen sitzen wird.
Es gab international Proteste gegen das Projekt – vergeblich
Nach Protesten aus Bagdad hatte die Türkei vor einem Jahr die damals bereits begonnene Auffüllung des Stausees wieder gestoppt. Wenig später sagte Ankara den Irakern eine Mindest-Durchflussmenge zu, doch das Problem bleibt auf der Tagesordnung. Erst vor zwei Wochen sprach der irakische Ministerpräsident Adel Abdul-Mahdi bei einem Besuch in Ankara mit Erdogan über das Thema Wasser.
Kurz vor Beginn der Aufstau-Phase am Staudamm wollen die Ilisu-Gegner innerhalb und außerhalb der Türkei mit Protestaktionen versuchen, neuen Druck auf die türkische Regierung zu machen. Veranstaltungen waren in Berlin, Hamburg, Frankfurt, München, Karlsruhe, Hannover, Nürnberg sowie Wien und Graz geplant. Auch in London, Paris und Rom wird demonstriert. In zwölf irakischen Städten und im kurdisch beherrschten Nordosten Syriens wollen die Menschen ebenfalls auf die Straße gehen.
In der Türkei sind Aktionen in Hasankeyf selbst sowie in Istanbul und anderen Städten vorgesehen. Außerdem sollen namhafte türkische Künstler und andere Prominente für eine öffentliche Kampagne gegen den Staudamm gewonnen werden.
„Erstmal das Projekt stoppen“ sei das Ziel der Aktionen, sagte Aktivist Ayboga . Anschließend könnte dann mit der türkischen Regierung über die „sozio-ökonomische Entwicklung in der Region“ diskutiert werden, um einen Konsens zu finden. Dass sich Erdogan darauf einlässt, ist allerdings unwahrscheinlich.