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Schööön! Bambusräder sind leicht wie Aluminium und echte Unikate.
© promo/BBB

Fahrradtrend: Was taugen Bambusräder?

Sechs Millionen Autos verpesten Pekings Luft. Ein Kollektiv belebt die vergessene Radkultur jetzt wieder. Der Bambus rollt!

Es sind Augenblicke wie dieser, da weiß Claudio Rebuzzi: Alles richtig gemacht. Alle Mühen, all der Aufwand, das ganze Risiko, der Umzug aus Südafrika nach Peking waren es wert. Später Nachmittag, es klopft an der Tür. Rebuzzi, 29 Jahre, Mitinhaber der wohl außergewöhnlichsten Fahrradwerkstatt Pekings, springt auf und begrüßt den Besucher. Kelvin He, Student, möchte sein Rad abholen: ein Bambusrad. Den Rahmen hat Kelvin He vor zwei Wochen selbst gebaut. Inzwischen hat Rebuzzi für seinen Kunden die Räder, den Sattel, den Lenker montiert. Zeit für die Probefahrt.

Kelvin He steigt auf, tritt in die Pedale, verschwindet im Gewirr der Pekinger Hutongs, wie die traditionell bebauten Gassen heißen. „Schööön!“, ruft er, als er von seiner Jungfernfahrt zurück ist. Seliges Grinsen. Nur die Bremsen: irgendwie komisch. Rebuzzi, akkurat gestutzter Vollbart, Kapuzenpulli und Wollmütze, sitzt selbst auf. Kurzer Check, alles klar. Ruckeln sich ein, die Bremsen, sagt er mit Kennerblick. Brauchen immer ein bisschen.

Ungebremst jedenfalls ist Kelvin Hes Begeisterung. „Heutzutage kauft man ja alles“, sagt er. „Das Einzige, was die Leute selbst zusammenbauen, sind Ikea-Regale.“ Er streicht stolz über sein Gefährt. „Das hier habe ich ganz allein gemacht. Fühlt sich großartig an, es in den Händen zu halten.“

Der wichtigste Rohstoff der Wundervelos wächst in der Provinz Zhejiang

Ikea simuliert Individualität. Am Ende gleichen sich die Wohnzimmer der Welt wie einst in China die grauen Mao-Anzüge für die Massen. Ein Bambusrad dagegen: Mehr Unikat geht kaum. Kein Rad ist wie das andere. Nicht in der Form. Nicht in der Farbe. Nicht im Gewicht.

Eineinhalb bis zwei Kilogramm wiegt ein solcher Rahmen aus Bambusrohren, zehn bis elf Kilogramm das komplette Fahrzeug. „So leicht wie Aluminium“, sagt Rebuzzi über das Material. „Und was die Dämpfung angeht, können es unsere Räder locker mit Stahl aufnehmen.“

Der wichtigste Rohstoff dieser Wundervelos wächst in der Provinz Zhejiang, südlich von Schanghai. Phyllostachys reticulata. Großer Holz-Bambus. Lässt sich leicht verarbeiten, ohne Spezialmaschinen. Ein durchschnittlicher Werkzeugkasten ist alles, was man braucht.

Und ein bisschen Platz. Kaum länger als eine Autogarage ist die Werkstatt von „Bamboo Bicycles Beijing“ und auch nicht viel breiter. Um sich darin bewegen zu können, hat Claudio Rebuzzi morgens als Erstes die schon fertig montierten Fahrräder rausgeschafft, in die Gasse. Endlich Raum, um sich ein wenig hin und her zu bewegen! Um das Rad, vielleicht nicht neu zu erfinden, das wäre etwas überdreht, aber es wiederzubeleben.

Junge Chinesen haben nur zwei Wünsche: eine Wohnung und ein Auto

Denn das Fahrrad ist eine aussterbende Spezies in Peking, jener Metropole, die einst als Radhauptstadt der Welt bekannt war. Vor 30 Jahren glichen ihre Straßen einem breiten, endlosen Fluss aus Radlern. Heute steht die Stadt im Stau. Stoßstange an Stoßstange, rund sechs Millionen Autos. Vergangenes Jahr hat mal jemand die Zeit gestoppt: Auf dem Westabschnitt der Zweiten Ringstraße, einer der Hauptverkehrsadern, standen sie acht Stunden lang still. Jeden Tag.

Es spricht wenig dafür, sich hier ein Auto zuzulegen. „Doch junge chinesische Männer haben zwei Wünsche“, erklärt Rebuzzi, „eine eigene Wohnung und ein eigenes Auto.“ Sonst sinken ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt. „Ohne Wohnung und ohne Auto keine Frau. So ist das in China nun mal.“

Bamboo Bicycles Beijing, kurz BBB, ist ein kleiner Gegenentwurf zu den großen Gestaltungskräften, die Peking zu dem gemacht haben, was es heute ist – und die das Rad auf den Randstreifen der Geschichte abgeschoben haben. Es waren jene Überreste, die ausrangierten Drahtesel, die in den Gassen standen, verlassen, verstaubt, verendet, die das Projekt BBB zum Leben erweckten. David Chin-Fei Wang, ein chinesischstämmiger Amerikaner, der seit einigen Jahren in Peking lebt, sammelte sie ein und setzte sie neu zusammen, zu fahrtüchtigen Bikes.

Einmal, als Wang ein Alu-Gerippe mit besonders dickem Radgestänge aufsammelte, drängte sich ihm ein Vergleich auf: Wie ähnlich diese Rohre doch dem Bambus vor dem benachbarten Tempel sahen! Man könnte doch einfach ein Fahrrad aus Bambus bauen!

Bald darauf strampelte Wang auf seinem ersten gebastelten Bambusrad durch Peking. Er wollte, was er ersonnen hatte, mit möglichst vielen teilen, und ihm kam die Idee, Bambusrad-Workshops anzubieten. Wang suchte und fand Mitstreiter. Am 12. April 2014 stellte die Gruppe ihre BBB-Idee auf einer Crowdfunding- Plattform vor. Keine drei Wochen später war die selbstgesetzte Hürde genommen: 112 Unterstützer hatten 15 000 US-Dollar gespendet, für die Ausstattung einer Werkstatt und das Material der ersten 25 Bambusgefährte.

Ein Statement gegen Konsumismus und Auto-Protzerei

Autoverzicht macht glücklich. Diese Frau hat bei Bamboo Bicycles Beijing ihr Rad teilweise selbst zusammengebaut.
Autoverzicht macht glücklich. Diese Frau hat bei Bamboo Bicycles Beijing ihr Rad teilweise selbst zusammengebaut.
© Promo/BBB

In der Werkstatt steht direkt neben der Eingangstür ein blauer Plastikbottich, aus dem Bambusrohre ragen. Werkbänke flankieren beide Längswände, darüber Halterungen, an denen werdende Rahmen hängen. Ganz hinten: eine blaue Werkzeugwand und Kartons mit Reifen, Felgen, Schläuchen. Rebuzzi greift der Reihe nach in alle Kartons. Er setzt sich auf einen kleinen Hocker, beginnt die Schläuche zu füllen, erst per Mund, dann per Handpumpe. Maximal sieben Bar. An einer Werkbank arbeitet Rebuzzis Kollege Luo Mingning, 24, den sie alle nur Mowgli nennen, seit er die Haare mal schulterlang hatte wie die Hauptfigur in Disneys Zeichentrickfilm. Mowgli imprägniert einen Bambusrahmen mit Holzöl, deshalb trägt er eine jener Atemschutzmasken, die in Peking an Smogtagen inzwischen zum Straßenbild gehören. Minutenlang kein Wort. Es ist einer dieser Momente, in denen Claudio Rebuzzi und Mowgli ganz bei sich sind.

2800 Yuan, um die 400 Euro, kostet ein komplett ausgestattetes Bambusrad. Nicht billig – und genau deshalb hat es Potenzial als Statussymbol. Bei manchen Workshop-Teilnehmern mag dieses Motiv keine Rolle spielen. Meist jedoch verstehen die Bastler das Rad als Statement für umweltfreundliche Mobilität und gegen Konsumismus und PKW-Protzerei.

Bevor Mowgli zu BBB kam, studierte er Meeresbiologie. „War interessant“, sagt er. „Aber nicht sooo interessant.“ Zu theoretisch. Eine Uni-Laufbahn? Unvorstellbar. Nach seinem Abschluss jobbte er, länger als ein, zwei Monate hielt er es nirgends aus. „Es gibt so viele langweilige Jobs da draußen.“ Eines Tages stand er in einem Fahrradladen. Fragte spontan, ob er mal ein paar Tage mitarbeiten könne. Er durfte. Von zehn Uhr früh bis zehn Uhr spät reparierte er Drahtesel. „Die Tage waren lang und die Bezahlung mies“, sagt Mowgli. „Es war wunderbar.“

Mehr als 250 Räder hat die Manufaktur bisher ausgeliefert

Ein Monat verging, noch einer, ein halbes Jahr. Mowgli dachte zum ersten Mal: Das ist ein Job, mit dem es sich leben lässt. Er hätte es wohl noch viele weitere Monate in dem Fahrradladen ausgehalten, hätte nicht 2014 David Chin-Fei Wang den Laden betreten, der Hilfe brauchte. Beim Bambusradbauen. Und ihn zu sich holte.

Mehr als 250 Räder hat die Manufaktur bisher ausgeliefert, es fanden mehr als 50 Workshops in Peking statt, dazu Partnerprojekte in Schanghai, Hongkong und Guangzhou. In Laos. In den USA. Die Pekinger Workshop-Teilnehmer sind, „fifty-fifty“, schätzt Rebuzzi, Einheimische und „laowai“ – Ausländer wie er selbst. 2014 war Rebuzzi seiner Freundin nach Peking gefolgt. Er schrieb damals für ein Fahrradmagazin. Als er von BBB hörte, verabredete er sich mit David Chin-Fei Wang. Klang nach einer guten Geschichte für sein Magazin. Der Artikel erschien nie. Statt über BBB zu schreiben, wurde Rebuzzi Teil des Teams.

„Mowgli!“, ruft Rebuzzi nun. „Haben wir genügend Ketten?“

„Ja.“ Die Antwort kommt schnell.

Zu schnell, findet Rebuzzi. „Bist du sicher? Schwarze und weiße?“

„Ja.“ Diesmal kommt die Antwort noch schneller.

„Haben wir auch Ersatzketten?“

Keine Antwort. Rebuzzi geht zum Regal. Zieht eine grüne Plastikkiste heraus. Zählt durch. Keine einzige Reservekette. „Na, dann ...“ Er seufzt. In zwei Tagen steht ein wichtiger Workshop an, 25 Mitarbeiter einer IT-Firma. Fünf Fünfergruppen, jede baut gemeinsam ein Rad. Zusammensetzen schweißt zusammen.

Die alten Pekinger waren skeptisch: "Was ist in den Rohren?"

Wird ein ziemliches Gewusel. Die BBB-Garage ist dafür zu klein. Also weichen sie in ein Hotel aus. Trotzdem, der Ablauf ist derselbe wie immer: Bambusrohre auswählen, je nach Körpergewicht. Zusägen, je nach Körpergröße. So lange, bis alle Sachen für einen Rahmen beisammen sind: Oberrohr, Unterrohr, Sitzrohr. Plus, aus dünneren Bambusstangen, je zwei Ketten- und Sitzstreben. Sind die sieben Bambusrohre auf Länge gebracht, stecken die Radbauer sie erst ineinander, dann in die speziell angefertigten Zubehörteile: Steuerrohr, Tretlager, Radaufhängung. Die Verbindungsstellen werden mit Karbonfasern fixiert. Mit Epoxidharz verleimt und Tape bandagiert.

In den Workshops werden meist nur die Rahmen der Räder gebaut. Alle zusätzlichen Teile, Gabel, Lenkstange, Räder, bringen die BBB-Profis in den folgenden Tagen an. Allein. In Ruhe.

„Wenn die Leute zum ersten Mal ein Bambusrad sehen“, sagt Rebuzzi, „können sie gar nicht fassen, dass es tatsächlich nur aus Bambus ist.“ So zerbrechlich wirkt es. Auch die Nachbarn aus dem Hutong waren anfangs skeptisch, besonders die Alten, die Peking noch als Fahrradstadt kennen. „Was ist in den Rohren?“, fragten sie. „Nix!“, antwortete Rebuzzi. „Gar nix!“

Zwei Tage braucht man, bis ein Bambusrohrrahmen fertiggestellt ist. Allein das Schleifen und Schmirgeln des Leims kann zehn Stunden dauern, sagt Claudio Rebuzzi. „Aber hey, es geht auch problemlos länger.“ Er macht eine Pause. Blickt sich um, zeigt auf einen Rahmen, bei dem die geleimten Stellen so glatt sind wie ein Babypopo. „30 Stunden“, raunt er schließlich. „Habe Hanffaser statt Karbonfaser genommen. Hübsch, aber ein elendes Gefummel. Würd’ ich keinem Workshop-Teilnehmer zumuten. Das war nur für mich.“ Rebuzzi greift nach dem Rahmen, reicht ihn herüber, ganz sachte. „Ich liebe dieses Rad“, sagt er. Wieder eine Pause. 30 Stunden hat er es geschliffen. „Ich hasse es.“

Markus Wanzeck

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