Brief eines Reisenden: Warum ich an Vietnam verzweifle
Das Versprechen: einsame Palmenstrände und Exotik. Die Realität: Lärm, Geschäftemacher, gierige Kommunisten. Ein flehender Appell an ein eigentlich traumhaftes Land.
Liebes Vietnam,
in der ersten Strophe Deiner Nationalhymne heißt es: „Der große Sieg führt über die feindlichen Toten. Ein unermüdlicher Kampf für das Volk. Zügig zum Schlachtfeld. Vorrücken, zusammen vorrücken! Möge unser junges Vietnam alles überstehen.“ In fremden Ohren mag das martialisch klingen, doch die Zeilen zeugen von einer jahrhundertelangen Erfahrung damit, von fremden Mächten beherrscht zu werden. Generationen von Vietnamesen haben darunter gelitten.
Seit einigen Jahren kommen sie wieder. Die Chinesen, Franzosen, die Amerikaner und die Japaner. Zehn Millionen jährlich. Nicht als Besatzer, sondern als Touristen. Angelockt von den Kalkfelsen der Halong-Bucht, den Pagoden der alten Kaiserstadt Hue und dem besten Streetfood der Welt. Reisebüros propagieren ein Idyll aus Sandstränden und dem satten Grün der Reisterrassen.
Wer jedoch in Ho-Chi-Minh-Stadt das Flughafenterminal verlässt, den beschleicht eine Ahnung davon, dass der anstehende Urlaub wohl kaum im Zeichen einer intensiven Naturerfahrung stehen wird. Stattdessen verlangst Du, Vietnam, von der ersten Minute an maximale Aufmerksamkeit. Der ununterbrochene Fluss von Motorrollern, das umtriebige Geschäftsgebaren der Straßenverkäufer und der ohrenbetäubende Lärm verstummen nur für einen kurzen Augenblick in der Nacht.
Im Schatten der Konzerntürme und Bankzentralen
Bereits in den frühen Morgenstunden wird man wieder unfreiwilliger Zeuge Deiner rasanten Verwandlung. Presslufthammer, Säge und Bohrer reißen eine ganze Nation aus dem Schlaf. Baukräne sind die Symbole des Fortschritts, die Missionare des neuen Glaubens sind mit Bauhelmen und Arbeitshandschuhen ausgestattet. „Überall, wohin man schaut, wird aufgebaut. Da ein Haus mit sieben Stock, dort ein ganzer Häuserblock“, sangen einst die sozialistischen Brüder und Schwestern der DDR. Und hier und heute, so der Eindruck, wird dieses Versprechen endlich eingelöst.
Die Kommunistische Partei hält die vietnamesische Politik zwar weiterhin fest im Griff, ihre rot-gelben Fahnen mit Hammer und Sichel dominieren das Straßenbild von Ho-Chi-Minh-Stadt. Doch längst wehen sie im Schatten der Konzerntürme und Bankzentralen. Heute ist das ehemalige Saigon das wichtigste Handels- und Wirtschaftszentrum des Landes. Das Gespenst des Kommunismus geht hier schon lange nicht mehr um. Seine Austreibung begann 1986 mit der angestoßenen wirtschaftspolitischen Erneuerung, genannt Doi moi.
Für die neureichen Bewohner gilt: Vincom statt Vietcong. Das ist der Name des populärsten Einkaufszentrums der Stadt. Ein trister Palast aus Glas und Beton. Polierter Marmor. Französische Patisserie. Hugo Boss, Ralph Lauren, Gucci. Ein Vietnamese mit durchschnittlichem Einkommen müsste hier ein Monatsgehalt für ein Paar Schuhe ausgeben. Trotz der offensichtlichen Bigotterie lächelt Ho Chi Minh auf der gegenüberliegenden Straßenseite milde von einem Propagandaplakat.
Und selbst das Poster mit dem Konterfei des Revolutionsführers wird von einem Mobilfunkunternehmen gesponsert.
Reisende werden wie wandelnde Geldautomaten behandelt
Seit den 90ern erzielst Du regelmäßig jährliche Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent. Bis 2020 willst Du den Rang einer Industrienation erreichen. Doch die marktwirtschaftlichen Reformen brachten keine politische Liberalisierung mit sich. Im Gegenteil. Im Demokratieindex des Magazins „The Economist“ lagst Du zuletzt auf Rang 131 von 167.
Der Tanz zwischen den Systemwidersprüchen scheint vielerorts das Schlechteste aus beiden Welten hervorzubringen. Wer über Jahrzehnte lang im Sozialismus gegängelt wurde, sucht jetzt das schnelle Geld. Und der Tourismus ist ein Tummelplatz für skrupellose Geschäftemacherei.
Vielerorts werden Reisende wie wandelnde Geldautomaten behandelt. Jeder Versuch einer Begegnung mit Einheimischen schlägt nach kürzester Zeit in ein Verkaufsgespräch um. Touristenführer erzwingen Trinkgelder, Taxifahrer nehmen absichtlich Umwege, um den Preis in die Höhe zu treiben. Unabhängige Informationen für Reisende? Gibt es nicht.
Ethnische Minderheiten wie die Hmong sind die größten Verlierer
Liebes Vietnam, vielleicht sind diese Zeilen ungerecht, das Urteil zu pauschal, die Eindrücke zu selektiv. Aber warum berichten so viele Touristen von ähnlichen Erlebnissen? Eine durch die EU finanzierte Studie von 2014 ergab, dass nur sechs Prozent aller Vietnam-Reisenden erneut Urlaub im Land machen würden. Als Hauptgründe führten die Befragten an: den gefährlichen Straßenverkehr, die schwach ausgebaute Infrastruktur und die Geschäftemacherei in der Tourismusbranche.
Du musstest in Deiner Geschichte viel erdulden. Eine fast hundert Jahre währende Zeit des französischen Kolonialismus, die japanische Besatzung der Tenno-Faschisten und schließlich die Teilung des Landes, die im Vietnamkrieg mündete. Nach den Jahrhunderten, in denen Du zwischen Weltmächten zerrieben wurdest, ist es vielleicht anmaßend, aus der Sicht eines verbitterten Touristen über Dich zu nörgeln.
Schließlich hast Du auch einiges geschafft. Noch Ende der 90er Jahre lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Heute liegt dieser Wert im einstelligen Bereich.
Doch wenn vor dem Busfenster die Skyline Deiner strahlenden Metropolen den Hütten der ländlichen Bevölkerung weicht, wird deutlich: Außerhalb der Großstädte profitiert kaum jemand von den Versprechungen des kosmopolitischen Lebens. Das gilt insbesondere für ethnische Minderheiten wie die Hmong. Sie leben nahe der chinesischen Grenze im Norden Vietnams, Reisende kommen mit ihnen vor allem in der Provinz Lao Cai in Berührung. Hier liegt das kleine Städtchen Sapa, das sich an die steilen Berghänge fügt. Einst als Bergstation der französischen Kolonialmacht erbaut, war der Ort lange nur ein paar Backpackern ein Begriff. Doch wer heute hierherkommt, erlebt all die Widersprüche eines Landes in komprimierter Form.
Die Bergführerinnen werden jetzt nicht mehr gebraucht
Sobald die Schiebetüren der Minibusse am Morgen die ersten übermüdeten Touristen auf die Straßen Sapas entlassen, setzt ein Stakkato aus dutzenden Kehlen ein: „Where you from? You want shopping?“ Die Hmong-Frauen werden jeden Touristen für die Zeit des Aufenthalts begleiten. Längst preisen sie nicht mehr ihre traditionellen Stoffe an, es sind Ramschartikel „Made in China“.
Seit Jahrhunderten leben die Hmong am Fuße des imposanten Fansipan. Er ist mit 3143 Metern die höchste Erhebung Vietnams und seine Bezwingung galt einst als Krönung einer Reise rund um Sapa. Für die Besteigung brauchte man eine regionale Bergführerin aus den umliegenden Dörfern – fast immer waren es Frauen, die den Job machten – , gute Ausrüstung und drei Tage. Heute braucht man nur noch 25 Dollar und 15 Minuten. Die längste dreikabelige Seilbahn der Welt schaufelt 2000 Personen pro Stunde hinauf. In großer Höhe schweben die Touristen über die Köpfe jener Bergführerinnen hinweg, die jetzt nicht mehr gebraucht werden.
Vielleicht ist es bloß die Vermessenheit eines Westeuropäers, die Zerstörung von Traumstränden als drängendstes Problem zu betrachten. Vielleicht ist es auch ein Überbleibsel der kolonialen Sehnsucht nach exotischen Verheißungen. Doch von außen scheint es, als würden die Verantwortlichen bis heute nicht begreifen, welchen Stellenwert Deine einzigartige Umwelt für einen nachhaltigen Tourismus hat.
Man sieht den Sand vor lauter Plastikmüll nicht mehr
Bestes Beispiel dafür ist Phu Quoc. Die Insel vor der südöstlichen Küste hat sich wegen ihrer Badestrände vom Geheimtipp zu einem Hauptreiseziel in Vietnam entwickelt. Geht es nach den ausländischen Investoren, sollen ab 2020 zwei Millionen Touristen jährlich auf die Insel verfrachtet werden, die kleiner ist als Berlin. Auf Phu Quoc ist zu beobachten, was der geistige Vater der Nation, Karl Marx, einst als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnete: die Landnahme des Gemeineigentums durch private Hand. Wo noch keine Bulldozer über den Strand rollen, künden Bautafeln von der nahenden Transformation in ein Luxusresort. Die Küstenstreifen werden aufgerissen, kilometerlange Schneisen durch den Urwald geschlagen und der Meerblick mit Bettenburgen verbaut. Und wo die Resorts aufhören, sieht man den Sand vor lauter Plastikmüll nicht mehr. Im Süden der Insel ragen gigantische Betonstreben in den Himmel. Die bis zu 160 Meter hohen Stützen zeugen davon, dass auch hier bald Gondeln schweben werden. Im Norden der Insel wurde ein Safaripark mit Giraffen aus Afrika errichtet. An Orten wie diesem lässt sich erahnen, dass Phu Quoc schon in wenigen Jahren eine Art vietnamesischer Ballermann sein wird. Du sehnst den Massentourismus nicht herbei, du erzwingst ihn geradezu.
Das verlorene Inseljuwel im Golf von Thailand, die verbaute Berglandschaft von Sapa – sie sollten eine Warnung sein, davor, wie sich der noch junge Tourismus gegen Mensch und Natur richtet. Noch, liebes Vietnam, hast Du die Chance, einen Weg der Nachhaltigkeit einzuschlagen und Dein reiches kulturelles und natürliches Erbe zu bewahren. In Deiner Hymne gibt es schließlich noch eine zweite Strophe. Darin heißt es: „Mit vereinten Kräften wird für ein neues Zeitalter gekämpft.“ Möge das junge Vietnam auch dies überstehen.
Ein Dir zugeneigter Reisender, der sich gerne zu den sechs Prozent derer zählen würde, die wiederkommen.
Reisetipps für Vietnam
Hinkommen
Am günstigsten und schnellsten sind die Flugverbindungen ab Frankfurt. Vietnam Airlines fliegt via Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt in etwa 15 Stunden. Hin- und Rückflug ab knapp 600 Euro (vietnamairlines.com).
Unterkommen
Wer Ruhe und Abgeschiedenheit sucht und trotzdem nicht auf eindrucksvolle Natur und Ausflugsziele verzichten möchte, der sollte sich in der Gegend rund um Ninh Binh umschauen. Am besten kommt man in einer der Ecolodges unter, zum Beispiel in der Ninh Binh Ecolodge. Doppelzimmer ab 25 Euro pro Nacht (ecolodgeninhbinh.com).
Rumkommen
In ganz eigenem Tempo lässt sich die Gegend mit einem Moped erkunden. Zu den Höhepunkten zählt der Cuc-Phuong-Nationalpark. (highlights-in-vietnam.de/ninh-binh)