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Zünftig: Dialekte machen unsere kalte Welt ein bisschen wärmer.
© Getty Images/iStockphoto

Zwischen Schwund und Renaissance: Warum Dialekte nicht aussterben

„Dit is mir schnurzpiepe“ – so einen Spruch hört man kaum noch in Berlin. Dialekte verschwinden dennoch nicht, aktuell verändert sich aber ihr Konzept.

Es muss eine Zeit gegeben haben, da man auf dem Ku’damm nicht zu Zara ging, sondern ins „Deutsche Reisebüro“. Männer trugen Hut, Frauen Föhnwelle und Berliner sagten „dit is mir schnurzpiepe“, wenn ihnen etwas schnurzpiepe war.

Wer das nicht glaubt oder später geboren ist, der konnte sich jüngst in einem Video davon überzeugen. Der RBB hatte es in seinem Archiv gefunden und bei Facebook gepostet, es zeigt eine Umfrage aus dem Jahr 1972 – vom Ku’damm. Darin stellt der Reporter Passanten eine Frage. Sie lautet: „Hat Sie schon mal etwas frustriert?“

„Ja“, sagt der erste zum Fragesteller: „Sie!“ Der zweite: „Frustriert war ick noch nie jewesen, weil ick nich sowat mache.“ Ein Kerl im karierten Sakko: „Nee, ick habe Hunger.“ Eine Frau: „Wat is’n diit?“ Mann mit Hut: „Det is doch so’n Kreeditsystem.“ Ein Polizist: „Dit fängt schon beim Uffstehn an. Wenn Se jerne weiterschlafen wollen aber et jeht nich.“

Könnte es sein, das denkt man, während im Video ein Herr auf das „janze beschissne Dasein“ schimpft, dass ein Video, gedreht heute, 47 Jahre später, wieder auf dem Ku’damm, dass so ein zweites Video überhaupt nicht so liebenswert geraten würde? Weil ja alle gleich daherreden würden, in gespreiztem Hochdeutsch? Weil allen klar wäre, was frustriert bedeutet? Weil Berliner Schnauze keine Sprache meint, sondern eine Lebenseinstellung? Könnte es vielleicht sein, dass das Hochdeutsche alles platt gewalzt hat?

Die Dialekte leiden schon lange

Dass es die deutschen Dialekte schwer haben, das ist, wie man heute sagen würde, common knowledge, weeß jeda. Die Entwicklung ist nicht neu, schon 1988 sagte Gerhard Polt dem Magazin „Tempo“: „Ein Münchner Kind ist heute praktisch vom Dialekt entsorgt.“ Und wenn man in den Archiven kramt, findet man schon in den 30er-Jahren Bedenkenträger. Die Dialekte leiden also schon lange. Wann sie tot sind?

Vielleicht gar nicht so bald, zumindest wenn man den anderen glaubt. Jenen, die eine Renaissance des Dialekts versprechen und Anzeichen dafür überall entdecken. Nachrichtensprecher lassen plötzlich Sprachfärbungen zu, im „Tatort“ sächseln und schwäbeln immerhin die Sekretärinnen, und sowohl Heimatkrimis als auch Landlustmagazine sind schon lang der Renner.

Wer jetzt recht hat?

Ein Anruf beim Sprachwissenschaftler Sebastian Kürschner. Der erforscht die deutschen Dialekte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Kürschner ist in Freiburg geboren, aber mit vier Jahren nach Niedersachsen gezogen, er spricht akkurates Standarddeutsch.

„Dass die Zahl der Dialektsprecher schrumpft, ist schwer von der Hand zu weisen“, sagt er. Zwar beherrschten 60 Prozent der Deutschen bis heute einen Dialekt. „Seit der Nachkriegszeit ist die Nutzung aber stark zurückgegangen.“ Während in Ostdeutschland 1991 noch 41 Prozent der Menschen „fast immer“ Dialekt sprachen, sank der Anteil der aktiven Sprecher bis 2008 auf 33 Prozent – und dürfte bis heute weiter gesunken sein.

Im Westen verkleinerte sich die Zahl im selben Zeitraum von 28 auf 24 Prozent. Für Rheinland-Pfalz fand eine Studie heraus, dass neun Prozent des dialektalen Wortschatzes pro Generation verloren gingen.

Ein Schwarzer, der Platt spricht, wird zum Star

Mütter, Medien, Mobilität seien schuld, sagen Sprachforscher. Erstere, weil sie ihren Kindern Mundart vorenthielten (Väter übrigens auch). Zweitere, weil sie die Standardsprache noch ins letzte Loch verbreiteten. Und Letztere, weil sie zu Austausch führt und die stets der Feind des Status Quo ist. Ja mei, sagte Polt im „Tempo“-Interview, er sei „überzeugt, die Römer wären auch beleidigt, dass hier nimmer lateinisch g’redt wird.“

Vielleicht gibt eine Anekdote aus Ostfriesland Aufschluss. Dort lebt Keno Veith, ein Lohner, so nennen sie dort die Arbeiter in der Landwirtschaft. Neulich blieb Veith stecken, bei der Maisernte grub sich sein Trecker in den Klei. Er sprang von seiner Maschine und begutachtete den Schlamassel (süddeutsch übrigens: das Schlamassel).

Und weil ihm beim Begutachten, wie er später sagen würde, langweilig wurde, kramte er sein Handy aus der Tasche und nahm eine Videobotschaft auf. „Mooooin“, sagte Veith in die Kamera. „Nu mööt wi luern luern luern, bit en kummt un uns ruttrecken deit.“ Er müsse also warten, warten, warten, bis einer komme und ihn rausziehe. Dann lud Veith das Video bei YouTube hoch.

Innerhalb weniger Tage wurde er zum Star. Zehntausende klickten seinen Clip, Jan Böhmermann empfahl ihn, Zeitungen schickten Reporter, „Bauer sucht Frau“ wollte ihn fürs Fernsehen verpflichten. Keno Veith sagte ab, was seiner Beliebtheit nicht schadete: 200.000 Klicks hat das Filmchen bis heute gesammelt, und er hat dutzende weitere gedreht. Immer op Platt.

Veith glaubt, der Erfolg des Videos liege an seinem Äußeren. Seine Haut ist schwarz, sein Vater stammt aus Kamerun. „Ich bin waschechter Ostfriese, nur in anderer Verpackung“, sagt er.

Könnte der Dialekt zurückkehren?

Die meisten Dialektsprecher kommen laut einer Studie aus dem deutschen Süden.
Die meisten Dialektsprecher kommen laut einer Studie aus dem deutschen Süden.
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Vielleicht hat er recht. Ein Schwarzer, der Platt spricht, ist ungewöhnlich. Vielleicht kann man aus dem Erfolg von Veiths Video aber noch etwas Zweites ableiten: Es gibt da draußen im Land einen großen Hunger auf Dialekt. Weil er echt ist. Weil ihm der Zauber eines besseren Frühers innewohnt. Und weil er klare Zuordnung ermöglicht, in einer Welt, die immer unordentlicher zu werden scheint. Buy local, speak local.

„Jangk mer us de Föß“, sagt ein Kölner, und klingt das nicht präziser, als wenn ein Hannoveraner sagt, man solle ihm aus dem Weg gehen? Sogar das starke Wort Popel kann der Kölner toppen: Mömmes. Der Wiener nennt Käseknacker Eitrige, der Schweizer Mopeds Töffli, und dass mancher Berliner es noch drauf hat, beweist jeder Abend in der Eckkneipe: Da gibt’s zu Pullabrause und Qualmtüte womöglich ’n Schnäpperken. Oft lässt der Dialekt sogar Rückschlüsse auf das Wesen des Sprechenden zu. Der Franke, pardon, der Frange, zu Missmut neigend, fragt am Marktstand: „Gell, zwa Broudwärschd hobd ihr ned do?“

„Dialekt ist mobile Heimat“, sagt Winfried Kretschmann, der baden-württembergische Ministerpräsident, der 2018 eine Initiative zur Förderung des Schwäbischen in Schulen startete. Sein bayerischer Amtskollege Markus Söder macht mit und sagt: „Sie alle wissen, dass Dialekt intelligenter macht, das sieht man an der bayerischen Staatsregierung jeden Tag.“ Was Gerhard Polt über derlei Sprachprotz denkt, ist leider nicht bekannt.

Könnte der Dialekt also zurückkehren, weil er unsere kalte Welt ein bisschen wärmer macht? So einfach ist es auch wieder nicht. Davon kann Patricia Kühfuss erzählen. Sie ist Fotografin, 30 Jahre alt – und Schwäbin. Kühfuss ist ein besonderer Fall: Sie studierte in Hamburg, und weil sie es nicht anders konnte, sprach sie in Seminaren und Vorlesungen Schwäbisch. Kein besonders breites Schwäbisch, aber doch so, dass jeder erkannte, wo sie herkommt.

„Meine Kommilitonen“, sagt Kühfuss, „haben mich ausgelacht.“ Sie begann zu zweifeln. Dass es Studien gibt, die belegen, dass Dialektsprecher weniger intellektuell scheinen, davon hatte sie gehört. Sie kannte gar eine Südtirolerin, die in Deutschland meistens schwieg. Weil sie das Gefühl hatte, die Sprache ihrer neuen Heimat nicht zu beherrschen.

Schwäbisch, Bairisch und Sächsisch polarisieren

Kühfuss’ Geschichte ist beides – Regel und Ausnahme. Das zeigt die größte Studie zum Thema Dialekt, erhoben 2008 vom Institut für deutsche Sprache. Zuerst zur Regel: Die meisten Dialektsprecher kommen aus dem deutschen Süden, hier geben 59 Prozent der Befragten an, ihren Dialekt „immer“ oder „oft“ anzuwenden. Im Norden – wo es ohnehin weniger Dialektsprecher gibt – sind es nur 15 Prozent. Besonders Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind laut Studie Notstandsgebiete.

Auch dass Kühfuss für ihren Dialekt ausgelacht wurde, passt zur Erhebung. Schwäbisch, Bairisch und Sächsisch polarisieren. Je weiter weg man sich von der Heimat befindet, desto unsympathischer bewerten andere den Dialekt. Krassestes Beispiel: Ostdeutsche finden Sächsisch viel sympathischer als Westdeutsche, die Witze über die zu Goethes Zeiten edelste deutsche Mundart machen. Das einzige Bundesland, in dem Gorgonzola und Gurkensalat gleich heißen? Eben.

Die Ausnahme ist Patricia Kühfuss, weil sie irgendwann beschloss, sich vom Lachen der Kommilitonen nicht mehr einschüchtern zu lassen. Sie war für ein Semester nach Norwegen gezogen, wo es vollkommen normal ist, dass Menschen auch an der Universität Mundart sprechen. „Ich habe da begriffen, dass man kein minderwertiger Mensch ist, wenn man im Hörsaal Dialekt spricht“, sagt Kühfuss.

Unreiner Dialekt und unreine Standardsprache

Der klassische Fall wäre wohl ein anderer. Nehmen wir eine Frau aus Hessen. In ihrer Kindheit hört sie Sätze wie „Hald de Sabbel“, wenn sie zu laut schreit, spricht selbst aber in Wortwahl und Grammatik nicht mehr so ausgeprägt wie ihre Großeltern. In der Schule wechselt sie zu einem gefärbten Standarddeutsch, das wirkt professioneller, zum Studium in München oder Berlin legt sie den Dialekt ganz ab.

Fährt sie heute zu ihren Eltern, freut sie sich in der Regionalbahn schon über die Schaffneransagen. Sie weiß: Jetzt ist es Zeit, die Mundart wieder auszupacken.

„Die Dialekte sterben nicht, eher ändert sich das Konzept“, sagt auch Sprachforscher Kürschner. „Wir wenden sie an, wenn es situativ passt.“ Zwei Pfeile im Köcher. Zwischen Schwund und Renaissance sieht er keinen Widerspruch.

Zwar verschwinde – im Norden schneller als im Süden – der tiefe Dialekt, der sich von Dorf zu Dorf unterscheide. An seine Stelle trete dafür eine Art Regiolekt. „Man wird in Deutschland noch lange hören können, woher jemand kommt“, sagt Kürschner. Gleichzeitig verliere auch die Standardsprache an Perfektion, lasse regionale Schnörkel zu. Unreiner Dialekt und unreine Standardsprache – Heimathype und das Bedürfnis, verstanden zu werden, existieren parallel.

Mit Letzterem hat Patricia Kühfuss nur noch manchmal ein Problem. Sie lebt inzwischen in Hannover, ihre Freunde haben sich an ihr Schwäbisch gewöhnt, auch schwere Begriffe verstehen sie im Kontext. Das Wörtchen „oleidig“ zum Beispiel. „Wenn ich von der Welt angepisst bin, aus einem Grund, den ich nicht erklären kann“, sagt Kühfuss. Unpräziser übersetzt: frustriert. Das würde heute wirklich jeder verstehen.

Marius Buhl

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