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Erinnerung ans Sonnenbad: Heute muss Anna Lyndsey jedes Licht meiden.
© privat

Ein Leben ohne Licht: Verdammt zur Finsternis

Im Alter von 33 Jahren entwickelte die Engländerin Anna Lyndsey eine schwere Lichtallergie. Ihr Haus bedeutet Freiheit und Gefängnis zugleich.

Das einzige Gewand, auf das sie sich verlassen kann, ist ihr Haus. Nur wenn sein Dach sie bedeckt, seine Wände sie umhüllen, muss sie keine Schmerzen fürchten. Anna Lyndsey hat es mit ausladenden Hüten versucht, mit bodenlangen Röcken und UV-Schutzkleidung aus dicht gewebtem Nylon, zuletzt mit Umhängen aus dickem schwarzen Filz. All das jedoch hilft bestenfalls, den Zeitpunkt hinauszuzögern, an dem das Brennen beginnt. Nur zu Hause ist sie sicher, in ihrem 80er-Jahre-Backsteinbau im britischen Hampshire. Das heißt, sofern die Fenster verdunkelt sind.

„Aus einem Raum jede Spur von Licht zu verbannen, ist unglaublich schwierig“, sagt Anna Lyndsey. Erst hängt sie Verdunklungsvorhänge auf, dann bringt sie ein Rollo an, dichtet die Lücken an den Rändern mit Streifen von Aluminiumfolie ab. Doch das Licht kriecht an den Seiten herein, „windet sich durch den Spalt ganz oben, schlängelt sich durch ein übersehenes Löchlein wieder herein“. Millimeter für Millimeter klebt sie ab, stopft, versperrt. Erst wenn vollkommene Dunkelheit sie umgibt, ist sie zufrieden. Die Sonne, unser aller Lebenselixier, ist Anna Lyndseys größter Feind, seit Ärzte eine extreme Lichtallergie, Photosensibilität, bei ihr festgestellt haben.

"Als hielte jemand mir einen Flammenwerfer vors Gesicht"

Das ist jetzt genau zehn Jahre her. Bis dahin war das Leben, das sie führte, ausgesprochen normal: Lyndsey studierte Geschichte, war in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit eines Ministeriums beschäftigt, wohnte endlich in der hellen Wohnung in Wimbledon mit der gelb gestrichenen Küchenwand, die sie sich immer gewünscht hatte, so erzählt sie im Gespräch am Telefon. In ihrer Schattenwelt empfängt sie nur noch Vertraute.

33 Jahre alt ist sie, als sie merkt, dass das grelle Kunstlicht des Bildschirms, an dem sie arbeitet, ihr nicht gut tut. „Als hätte ich einen sehr heftigen Sonnenbrand“, beschreibt sie die ersten Symptome. Ein paar Monate lediglich dauert es, bis selbst normales Tageslicht ihr so zusetzt, als halte jemand ihr „einen Flammenwerfer vors Gesicht“.

Mit ihrem Freund ist sie da seit zwei Jahren zusammen. „Kann ich eine Zeit lang bei Dir wohnen?“, fragt sie ihn, als der Alltag allein nicht mehr zu meistern ist. Er erbittet sich Bedenkzeit. Dann überlässt er ihr sein Gästezimmer im ersten Stock, Fenster zur Straße – es wird „mein schwarzes Behältnis“. Vor sieben Jahren haben sie geheiratet.

Anna Lyndsey heißt eigentlich anders. Viele wissen von ihrer Krankheit, sagt sie, doch jetzt hat sie ein Buch geschrieben über ihr Dasein ohne Licht. „Ich will nicht, dass Gaffer vor meinem Haus auftauchen, um den Freak zu sehen.“ Fast ist sie mit dem Haus verwachsen, in all den Jahren: wie eine Schnecke, die nicht ohne ihr Gehäuse existieren kann.

An guten Tagen geht sie bei Dämmerung in den Garten

In Deutschland kennt man das Schicksal von Hannelore Kohl, die sich schließlich das Leben nahm, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, zu einem Leben in Finsternis verdammt zu sein, heißt es. Hartnäckig halten sich Gerüchte, sie sei eigentlich depressiv gewesen.

Auch Lyndsey sieht sich oft mit Skepsis konfrontiert. Die meisten Menschen haben noch nie von der Krankheit gehört. Nur wenige hundert weltweit, so die Schätzungen, reagieren auf Licht derart empfindlich. An Suizid hat auch sie manchmal gedacht. Was sie weitertreibe, sei die Liebe zu ihrem Mann – und die Hoffnung auf Besserung. Es gibt Tage, an denen sie bereits in der Dämmerung ihre Höhle verlässt, bloß von einer einfachen Jalousie abgeschirmt in der Küche ein Hähnchen zubereitet. Gelegentlich sogar, bevor die Sonne ganz versunken ist, durch den Garten geht, ohne Schmerzen zu spüren.

Mit einem Lichtmesser prüft sie, welche Lichtstärke sie aushält. Sie dokumentiert die Entwicklung in ihrem Tagebuch. Die Kurve geht auf und ab – erforscht ist das Phänomen wenig. Von A wie Akupunktur über Cortisonsalbe bis hin zu Hypnose hat sie etliche schulmedizinische wie auch alternative Behandlungsmethoden ausprobiert. „Die Ärzte haben mich aufgegeben“, sagt sie.

So hält ihr Mann die drei Türen zu den unverdunkelten Zimmern auf ihrer Etage seit zehn Jahren geschlossen. Sie duscht nur nachts. In ihrem dunklen Raum hat sich seit Jahren nichts verändert. „Alles muss am selben Platz bleiben, damit ich es wieder finde“, sagt sie. Ein bisschen lebt sie das Leben einer Blinden – der Unterschied ist: Wer blind ist, hat das Licht für immer verloren, nicht aber den Zugang zur Welt. Er kann Neues erkunden, Eindrücke sammeln. Wie auch die Schnecke beweglich bleibt, weil sie ihr Haus mit sich trägt. Lyndsey kann das nicht. Und trägt schwerer daran.

Musik meidet sie: Zu große Gefühle

Erinnerung ans Sonnenbad: Heute muss Anna Lyndsey jedes Licht meiden.
Erinnerung ans Sonnenbad. Heute muss Anna Lyndsey jedes Licht meiden.
© privat

„Das Wichtigste ist: Ich muss aufpassen, dass Geist und Körper nicht verkommen“, sagt sie. In ihrer Höhle spielt sie Gedankenspiele mit sich selbst. Sie bildet Wortketten, Fußball-Ballspiel-Spielplatz-Platzhirsch. Oder verwandelt ein Kind Buchstabe für Buchstabe über den Wind, die Wand, das Band und den Bann in einen Mann. Während sie Gymnastik macht, hört sie Hörbücher. Thriller, Detektivgeschichten, Schmachtfetzen. „Ich habe aufgehört, wählerisch zu sein.“ Musik meidet sie. Große Gefühle verkrafte sie nur in Phasen, in denen die Krankheit gnädig genug ist, dass sie ihr die Dämmerung schenkt.

Wenn sich ihre Haut nach langen Stunden des Abgeschiedenseins genug regeneriert hat, geht sie für den Abend ins Erdgeschoss hinunter. Tagsüber hält sie es dort, wo lediglich normale Vorhänge und Rollos Schutz bieten, nicht lange aus. Jede noch so geringe Restmenge Licht ist – Licht. Wenn sie im Wohnzimmer sitzt, saugt sie alle Bilder in sich auf. Die Farbe der Gardinen im Schummerlicht, die Details einer Blume. „Ich umgebe mich gerne mit schönen Dingen“, sagt sie.

Für ihre kleinen Wohnzimmerlampen hat sie lange die richtigen Schirme gesucht. Zwei hohe, schmale Zylinder von Laura Ashley sind es geworden. Richtig strahlen sieht Lyndsey sie nie.

Ihr Mann ist Fotograf – Licht ist sein Werkzeug

Der Heiratsantrag kam von ihrem Mann. Sie haben die Trauung zu Hause gefeiert, im Dunkeln. In guten wie in schlechten Zeiten: ein großes Versprechen, ein noch größeres, wenn man neben den schlechten nur weniger schlechte Zeiten kennt. „Ich bin der Grund, dass es zwei Schattenleben gibt, wo nur eines sein müsste“, sagt Lyndsey. Jeden Tag sei sie zerrissen zwischen Schuldgefühl und Dankbarkeit.

Ihr Mann ist Fotograf. Licht ist sein Werkzeug. Morgens geht er zur Arbeit, und wenn er heimkommt, serviert sie ihm, was sie in der Zwischenzeit zubereitet hat. Er füttert sie mit Geschichten.

Immer wieder muss er beruflich verreisen. Dann ziehen ihre Mutter oder ihr Bruder bei ihr ein. „Nur wenige Menschen sind gute Begleiter im Dunkeln“, sagt Lyndsey. Ein paar sehr alte Freunde, auch die Patentöchter ihres Mannes kommen ab und zu vorbei. Einst gehörte Kinderkriegen auch zu ihrem Lebensplan.

Zärtlichkeiten in vollkommener Finsternis

Im Herbst 2010 hat Anna Lyndsey angefangen, ihre Erfahrungen handschriftlich zu verarbeiten. Eine privat bezahlte Assistentin, die sie bei ihrer Korrespondenz unterstützt, hat die Notizen für sie abgetippt. Das Buch „Im Dunklen. Mein Leben ohne Licht“ ist in Deutschland gerade bei Goldmann erschienen. Nicht der Opferbericht, den man erwartet, sondern eine überraschend unpathetische, offene Schilderung dessen, was ihre Welt ausmacht. Anna Lyndsey schreibt, wie sie klingt: warm, wohlwollend, klar. Lebensbejahend. Und durchaus ironisch. Vom telefonischen Austausch mit anderen etwa, die photosensibel sind. Oder von den Schwierigkeiten, die es bereitet, wenn ihr Mann und sie in vollkommener Finsternis Liebe machen: „Einmal sind wir mit unseren Köpfen dermaßen zusammengestoßen, dass wir nur noch Sterne sahen.“

Der Wohnwagen ist ihr Schneckenhaus

Erinnerung ans Sonnenbad: Heute muss Anna Lyndsey jedes Licht meiden.
Erinnerung ans Sonnenbad. Heute muss Anna Lyndsey jedes Licht meiden.
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Sie schreibt auch von dem Entsetzen, mit dem sie am Ende eines Tages feststellt, dass mit dem Teppich unter ihren Fingern längst ein dichtes Netz ihrer eigenen Haare verwoben ist. „Ich verliere nicht mehr davon als andere“, sagt sie. „Doch ich halte mich fast ausschließlich in einem Raum auf. Ich bin ein Ungeheuer.“

Als sie das Buch begann, hoffte Lyndsey, sich endlich einer Lösung anzunähern. Mit einem neuen Medikament. Dann kam ein Rückschlag. Über drei Jahre sei es ihr kaum möglich gewesen, das Zimmer für mehr als wenige Minuten zu verlassen, erzählt sie am Telefon. Jetzt gibt es wieder neue Hoffnung: „Ich verlasse meinen Verschlag bereits eine Stunde vor Sonnenuntergang.“

Nachts träumt sie: von herrlichen Strandspaziergängen in der Sonne, mit nichts weiter als einem ärmellosen Leinenkleid am Körper. Ihre Tagträume sind schüchterner geworden. Ein Spaziergang am Meer in der Dämmerung, irgendwo, wo es keine Straßenlaternen gibt.

Damit sie dort sein kann, wenn es noch schön ist, haben sie sich den Wohnwagen gekauft. Sie haben Rollos angebracht, Verdunklungsvorhänge aufgehängt. Dreimal sind sie schon losgefahren. Es ist eng, es ist oft stickig, es ist sehr kompliziert. Aber es ist das Schneckenhaus auf dem Rücken, das ihr die Welt eröffnet.

Maris Hubschmid

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