Unterwegs im Ahrntal: Urlaub für Asthmatiker in Südtirol
Die Idee stammt aus dem Ruhrgebiet: Asthmatiker und Gestresste finden in stillgelegten Bergwerken Linderung. In Südtirol kriegen sie noch Gipfel und Knödel dazu. Dreimal tief durchatmen, bitte!
ERSTE STATION: UNTER TAGE
Draußen hat es 30 Grad, doch Willi findet, ein zweiter Fleecepullover muss her. Und eine zweite Wolldecke. Wirklich? Ja, wirklich. Jetzt noch den Schutzhelm aufsetzen und das Regencape drüberwerfen. Mächtig viele Vorkehrungen, um das Natürlichste der Welt zu tun: atmen. Richtig atmen.
Im Südtiroler Ahrntal geht das besser als irgendwo sonst. 80 Dreitausender umschließen nahezu unberührte Landschaft. Die soll gesund sein. Prettau, wo der 80-jährige Willi mit Decken hantiert, ist ein Luftkurort. Einer der Gründe dafür liegt tief in der Erde.
1000 Meter hinein in den St. Ignaz-Stollen rattert die Grubenbahn, auf der Willi unterm Deckenberg sitzt. Wasser rinnt von der Grotte, manchmal löst sich ein Steinchen. Willi kennt die Strecke gut. Nach 15 Minuten haben er und die anderen Eingemummelten den Eingang erreicht. Noch bis 1971 zerstörten die Knappen sich hier mit Kupferabbau ihre Lungen, heute sollen welche genesen.
Atmen ist alles
Zum Beispiel Willis. Sein Leben lang hat er in einer Textilfabrik gearbeitet. Die Wollflusen, sagt er, hätten sich wie Staub auf seine Lunge gelegt. Seit er jeden Morgen für zwei Stunden in den Stollen einfährt, brauche er kein Cortison mehr. Er könne die Treppen bis zu seiner Wohnung mühelos hinaufsteigen. Im Winter, obwohl der Stollen da geschlossen hat, sei er praktisch nicht mehr erkältet. Dafür reist er von April bis November täglich 50 Minuten mit dem Bus aus Bruneck an. Atmen ist alles.
Eine Physiotherapeutin leitet die Keuchenden in Thermojacken jetzt zu ein paar Übungen an. Eine Hand auf die Brust, die andere auf den Bauch, dehnen, strecken, Wechselatmung. Wir Menschen, erklärt sie auf Deutsch und Italienisch, hätten verlernt, richtig zu atmen. Nur Kinder könnten es noch, da blähe sich der Bauch beim Luftholen voll, beim Auspusten ziehe er sich nach innen. Willi hechelt mit.
Dann soll sich jeder auf die Ruhephase vorbereiten. Willi macht es vor. Den Sessel mit einer Isomatte auskleiden, Wolldecke darüber werfen, Handschuhe an und sich in eine weitere Decke hüllen. Mit dem Hebel den Körper waagerecht legen, lesen. In der „Gala“ steht etwas über Prinz Harrys Hochzeit, im Stollen prusten die Atemlosen in Taschentücher. 8,5 Grad Celsius, 97 Prozent Luftfeuchtigkeit. Willi hatte Recht mit den Fleecepullovern.
Zwei Jungs gegenüber, chronische Asthmatiker, spielen Karten. Von den Wänden tropft es leise. Willi schläft bereits. Die Physiotherapeutin bringt Brennesseltee in Alutassen.
Während des Zweiten Weltkriegs stellte ein Arzt im Ruhrgebiet zufällig fest, dass wiederholte Aufenthalte in stillgelegten Bergwerken – die als Schutzbunker dienten – die Beschwerden von Atemschwachen lindern. Seitdem wird die Speläotherapie, die Höhlentherapie, in Deutschland sogar verschrieben. Die kalte, feuchte Luft bindet Allergene, klatscht Pollen und Milben an die Wand.
300 Sonnentage
Nebenhöhlenkranke merken hier sofort, wie ihre Schleimhäute abschwellen. Allergikern jucken die Augen nicht mehr. Nach etwa zwei Wochen täglicher Einfahrten berichten die meisten von verminderten Symptomen.
Ruckelige Ausfahrt, Schutzhelm abnehmen, Willi blinzelt gen Himmel. Südtirol ist berühmt für seine 300 Sonnentage. Er will noch loswerden, was außerdem zu seiner Genesung beiträgt: die dreierlei Knödel, mit Speck, Spinat und Käse, hier in den Ignaz-Stuben.
Zweite Station: Am Berg
ZWEITE STATION: AM BERG
Erst soll man das Atmen lernen und jetzt auch noch das Gehen! Südtirol, das ist, wo Selbstverständliches schwindet. Oder: eine Chance zum Neubeginn.
Zunächst den Wald um Einlass bitten. Gedanklich. „Ein Haus betritt man ja auch nicht, ohne anzuklopfen“, sagt Stefan Fauster, Wanderführer und Hotelbesitzer, den man meist nur von hinten sieht, so gut gehen kann der. Leise soll man dabei sein, erklärt er, den Berg hinauf tanzen, den Körper zum Hang hin.
Auf den Holzerböden im Ahrntal tanzt Fauster jetzt über Steine, manche liegen wackelig auf anderen, über weiteren wuchern Moos und Farn. Knöchelbrechaufstieg. Fauster zögert nirgends. Aber er predigt ununterbrochen.
Enkeltauglichkeit
Von der Natur, die uns Menschen so reich beschenkt hat. Von der Nachhaltigkeit, die er lieber „Enkeltauglichkeit“ nennt. Von seinem Hotel im Tal, dem Drumlerhof, den er nach der Gemeinwohl-Philosophie führt. Mit Biomasse beheizt, mit Lebensmitteln aus der Region versorgt, Schokolade und Kaffee fair bezogen, weitgehend CO2-neutral.
Fauster deutet auf Arnika, die macht eine gute Heilsalbe, und vom Grünen Heinrich ernährten sich seine Vorväter, den bekomme man abends im Hotel in den Schlutzkrapfen serviert. Eine Art Ravioli, abgeleitet vom Wort für gleiten – schlutzen.
Auch Fauster gleitet weiter, riechst du die Alpenrose, hörst du die Sandsieder sprudeln? In Südtirol duzt man schnell. Fauster erzählt von den Ahnen, die die Kinder nach diesen geysiergleichen Quellen schickten, wenn einer was am Magen hatte. Heilschlamm.
Endlich verlangsamt er seinen federnden Schritt, geht auf eine mit Geweihen geschmückte Hütte zu, die Holzeralm. Beugt sich zu einem sprudelnden Bach und zieht eine Emailletasse unter einem Stein hervor. Ach, deshalb hat er nichts zu trinken dabei, an diesem heißen Tag! Er weiß, wo die Natur ihn versorgt.
Ein Hotel aus Zirben
Fauster sprintet voran, deutet auf die Zirben, die gehören zur Familie der Kiefern. Sein ganzes Hotel hat er aus ihnen gebaut. „Spart 3500 Herzschläge am Tag.“ Wenn seine Kinder irgendwann keine Lust mehr auf den Betrieb hätten, könnten sie den Drumlerhof mit der Motorsäge klein hexeln.
Es dauert, bis man den durch Wiesenenziane und Johanniskraut Vorausgetanzten einholt. Er schnappt nicht nach Luft. „Geht’s?“, fragt er, klingt ein bisschen vorwurfsvoll. „Wir haben ein anderes Verhältnis zu Steilheit.“ Gemsen-Gene. Fauster ist auf einem kleinen Bergbauernhof aufgewachsen, er kannte jedes geschlachtete Schwein mit Namen, und seine Mutter machte ein Kreuzzeichen über dem Brot, bevor sie es anschnitt. Aus Respekt.
Durch den eisigen Gebirgsbach
Hier oben hat seine Natur eine Arena errichtet. Eine Hochebene, halb umgeben von Felsen, halb mit Schnee bedeckt, selbst im Sommer. Das Kailbachmoos. Wind pfeift hindurch. Fauster führt seine angestrengten Großstädter her. Sie sollen sich von einem der großen Gesteinsbrocken „aussuchen lassen“. Sich darauf legen, ihren Ballast in diesem Amphitheater abwerfen.
„Moor und Berge haben die Kraft, das aufzunehmen.“ Anschließend führt er sie mit nackten Füßen über Schnee und durch den eisigen Gebirgsbach. Welch Glück, wenn der Schmerz nachlässt! Das Moor schmatzt unter Fausters Füßen.
Dass der Berg heilt, haben Studien längst nachgewiesen. Gebirgsluft macht schlank, senkt das Herzinfarkt-Risiko, die Blutwerte verbessern sich. Angeblich liegt’s am Reizklima: Dünne, trockene Luft und starke Sonneneinstrahlung aktivieren den Abwehrmechanismus, die Zellen erneuern sich schneller.
„Geht’s?“, fragt Fauster wieder im munteren Südtiroler Ton. Und stürmt, ohne die Antwort abzuwarten, hinab ins Tal.
Dritte Station: Am Wasserfall
DRITTE STATION: AM WASSERFALL
Dem Ahrnbach folgen, hatte der strenge Fauster gesagt, durch den Ortskern von Sand in Taufers. Holzskulpturen säumen die Strecke, den Franziskusweg haben einheimische Künstler angelegt. Es riecht nach Harz, Erde, Kamille. Hatte man zuvor eine Nase? Oder haben die Abgase der Großstadt „draußen“ – wie sie hier sagen – einem auf ewig die Sinne vernebelt?
Plötzlich der erste Wasserfall. Zehn Meter rauscht es über Tonalit-Fels hinunter. Durch einen Holzrahmen zeigt sich Jesus persönlich. Oder zumindest eine Steinformation, die man mit Fantasie für die Nase des Messias halten kann. Der Christuskopf.
In Serpentinen geht es hinauf. Linksrum Kuhglocken, Ziegenmeckern, Grillenzirpen. Rechtsrum Stille. Als säß’ da wer am Regler. Links: Murmeltierpfeifen, Wind im hohen Gras. Rechts: Stille. Wasserfall Nummer zwei ist höher und schmaler, aus der engen Schlucht sprüht kühle Luft. Laut einer Studie der Salzburger Paracelsus Universität befreien die Aerosole, kleine Luftpartikel im Spritzwasser, Allergiker von Atemnot. Anfälle werden seltener. Atmen am Wasserfall soll die Lungen reinigen, das Immunsystem stärken, den Kreislauf ankurbeln. Medizin ohne Nebenwirkungen.
Noch Luft oder schon Wasser?
Noch ein paar Serpentinen, Rauschen an, Rauschen aus, bis zum höchsten der Reinbachfälle. Vorsichtig über die glitschigen Steine ans Geländer der Brücke tasten. 50 Meter schießt es in die Tiefe. Ein Regenbogen überzieht den Fluss. Tropfen glitzern in der Sonne. Ist das noch Luft oder schon Wasser? Zu laut, um sich mit jemandem zu unterhalten.
Japsend steht man im kühlen Gischtnebel. Man wollte doch Luft bekommen – nicht um Luft ringen. Bis man begreift: Südtirol zwingt einen zum Atmen. Ein. Und aus.
Reisetipps für Südtirol
Reisetipps für Südtirol
Hinkommen:
Der Weg zur klarsten Luft ist steinig. Mit dem Flugzeug nach München (ab 60 Euro mit Easyjet) oder Innsbruck (ab 100 Euro hin und zurück mit der Lufthansa) und von dort mit dem Zug (etwa 60 Euro) weiter bis nach Bruneck. Dann mit dem Bus bis Sand in Taufers oder Prettau.
Unterkommen:
Eine Nacht in Stefan Fausters Drumlerhof in Sand in Taufers kostet in einer der 37 Suiten 120 Euro. Das Frühstücksbuffet hat eine eigene Glutenfrei-Abteilung. Geführte Wanderungen sind für Hotelgäste kostenlos.
Günstiger schläft‘s sichs im Moarhof im gleichen Ort oder in einer der vielen Pensionen direkt am Klimastollen von Prettau.
Rumkommen:
Einfahrten in den Klimastollen sind von April bis November mehrmals täglich möglich und kosten 18 Euro pro Person. ich-atme.com
Graukäse mit Zwiebeln, dazu ein Glas frische Buttermilch, gibt es nach getaner Beinarbeit auf der Stegeralm. Von Prettau dauert der Weg dreieinhalb Stunden.
Käseinnovationen wie der mit Lärchenrinde gibt es bei Eggemoa in Mühlwald, wo der junge Michel Steiner den Hof seiner Familie übernommen hat. eggemoa.com
Weitere Informationen unter suedtirol-info.com
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