Krimiautor Lenz Koppelstätter über Südtiroler Küche: Knödel in Neukölln
Was passiert, wenn ein Südtiroler nach Berlin zieht? Er träumt von Knödeln. Und findet sie per Zufall in Neukölln. Nie wieder Heimweh!
Es war an einem Freitag im vergangenen Oktober: In Gedanken war ich in den Plot meines unfertigen Krimis versunken, der in Südtirol spielt, tatsächlich aber schlenderte ich abends durch Neukölln. Regen klatschte auf das glitschige Kopfsteinpflaster, Straßenlaternen dämmerten matt, ein paar Hipster in weißen Turnschuhen, hautengen Jeans und dunkelgrünen Parkas kamen mir entgegen – und von irgendwoher drängten sich die Aromen von geschmolzener Butter, Speck und Parmesan in die Nase. Spielten meine Sinne verrückt und verwechselten Erinnerung und Gegenwart?
Der Geruch von Knödeln! Er kam mir so vertraut vor und gleichzeitig eigenartig fremd, wie ein Clash der Kulturen: einerseits das angesagte Neukölln, andererseits meine bodenständige Heimat.
Montags Spaghetti, mittwochs Frittatensuppe
Ich bin in der Südtiroler Provinz aufgewachsen. Zwischen zwei Sprachen, zwischen zwei Kulturen. Aber vor allem: inmitten eines kulinarischen Schmelztiegels. Montags kamen Spaghetti al Pomodoro auf den Tisch, dienstags Tiroler Speckknödel, mittwochs habsburgische Frittatensuppe, donnerstags Spinatknödel, freitags Spaghetti alle Vongole, samstags gefüllte Teigtaschen, Schluzer genannt, sonntags Lasagne... Dazu stets ein Glas vom Eigenbau-Vernatsch, der unter den Stuben in den tiefen Kellern lagert.
Und dann Berlin! An meinem ersten Tag in der Stadt spazierte ich von der Brunnenstraße den Prenzlauer Berg hoch, aus einem Lokal drang „Azzurro“ von Adriano Celentano, ich trat ein, über der Theke hing ein gerahmtes Bild von Padre Pio. Wenn schon keine Knödel, dann halt eine anständige Pizza, dachte ich und sprach den Wirt auf Italienisch an.
„Nix Italiano“ sagte der Wirt, der Türke war. Ich würgte die Quattro Stagioni runter. Der Teig war hart wie Südtiroler Schüttelbrot, der Käse zäh. Nach drei Anisschnaps verriet mir der Wirt, der Özcan hieß, sich aber Francesco nannte, sein Geschäftsmodell: „Dönerbuden gibt es schon so viele. Italiener aber nicht mal halb so viele wie in Stuttgart. Und solange die Pizza weit über den Tellerrand rausschaut und billig ist, ist es den Gästen wurscht, wenn sie billig schmeckt.“
Berlin vor zehn Jahren, das war kulinarisches Brachland. In dieser ersten Nacht lag ich wach und hatte Heimweh. Nicht nach den Bergen – das kam erst später, in den langen Berliner Wintern –, sondern nach der Südtiroler Küche.
Epizentrum des guten Geschmacks
Wir sind verwöhnt, wir Südtiroler. Geografisch mögen wir in der hintersten Provinz leben, wo genau, das weiß im Nordosten Deutschlands kaum jemand. Was den Geschmack angeht, ist’s das Epizentrum.
Wenn ich meinen Commissario Grauner durch Bozen gehen lasse, offenbart sich ihm ein schlaraffenlandähnliches Genussensemble. Auf unzähligen Kreidetafeln präsentieren urige und moderne Gasthäuser einen Mix aus mediterraner und heimischer Küche: Tortelloni mit Pfifferlingfüllung, Kartoffelgnocchi mit Garnelen, Lasagne mit Hirschragout, Cannelloni mit Brennnesselpesto.
Das war nicht immer so. In den Friedensverhandlungen von Versailles war das südliche Stück Tirols dem Königreich Italien zugesprochen worden. Bald machten sich die Faschisten daran, alles Deutsche aus Südtirol zu verbannen und die Italianità in der neu errungenen Provinz voranzutreiben. Doch die Südtiroler wehrten sich. Und da, wo um Land, Sprache und Kultur gekämpft wurde, musste auch die kulinarische Demarkationslinie gehalten werden.
Wir Südtiroler sind sture Köpfe. Und unsere Knödel sind uns mehr als nur ein Gericht. Sie sind uns ein Kulturgut. Dabei sind sie die scheinbar lapidarste Sache der Welt: Milch, Zwiebel, trockene Semmel in kleine Würfel geschnitten, Ei, Speck, Petersilie, Salz, alles vermischen, rund formen, für 15 Minuten in heißes Wasser geben. Fertig ist der Knödel. Einfach, oder?
Werner Gassers Knödelwirtschaft
Ich bin an jenem Oktoberfreitag in Neukölln dem Aroma meiner Heimat gefolgt und in einem unscheinbaren Ladenlokal gelandet. Werner Gassers „Knödelwirtschaft“. Früher sei das Ladenlokal ihr WG-Wohnzimmer gewesen, erzählt Gasser, aber auch stets mehr als nur das. Mal hat ein Freund Bilder ausgestellt, mal hat ein anderer als DJ Platten aufgelegt. Und weil am Ende immer alle hungrig waren und Werner aus Völs am Schlern kommt und bei uns gebürtigen Südtirolern immer jeder davon ausgeht, dass wir eh alle mindestens so gut kochen können wie Skifahren, hieß es jedes Mal: Werner, geh, mach uns ein paar Knödel!
Wenn’s so simpel wäre. „Es ist schon nicht einfach, das richtige Brot zu bekommen“, erklärt Gasser. „Schrippen kannst du schon mal vergessen.“ Zudem müsse die Balance der Zutaten stimmen, sonst fällt der Knödel auseinander. Und Knödel, die auseinanderfallen, das ist wie ein verschossener Elfmeter im WM-Finale. Eine Schmach.
Ein Dreivierteljahr habe es gedauert, sagt der 28-Jährige, bis ihm seine Knödel perfekt gelangen. Anders gesagt: „Nach 1000 Knödeln hatte ich es endlich drauf.“
Der Kastanienknödel ist der Hit
Aus dem Wohnzimmer wurde die „Knödelwirtschaft“, die Gasser mit einem Kompagnon betreibt (Fuldastr. 33, geöffnet Do-Sa ab 19 Uhr). Zuerst kamen Freunde, dann Freunde von Freunden, dann mal ein Seniorenpärchen aus Schöneberg, mal Familien aus Charlottenburg – und Heimweh-Südtiroler aus allen Bezirken sowieso. Ganze Autoladungen voll mit Knödelbrot ließ sich Gasser aus Südtirol mitbringen, Speck natürlich auch. Und in der Küche wurde experimentiert: Bärlauchknödel, Spargelknödel, Löwenzahnknödel – die Dessertkreation, ein Kastanienknödel, kommt besonders gut an.
Ich bin nun fast jede Woche zu Gast. Auf gastronomischen Heimatkurzurlaub sozusagen. Südtirol-Lokale sind ja oftmals mit Alpenidylle überfrachtet: Da hängen Kraxen an den Wänden, die Tischdecken sind rot-weiß-kariert, die Kellner tragen Lederhosen und knallen einem andauernd unbestellten Treberschnaps auf den Tisch – und hinter Plastikgeranien dringt Zithermusik aus den Boxen. In der „Knödelwirtschaft“ ertönt Berghain-Musik, die Wände sind unverputzt, Neukölln-Style eben.
Göttinnen am Herd
Ich sitze also da mit Freunden, wir philosophieren über Südtirol, Berlin und den Knödel an sich: dass er es im reichen Bayern über die Beilage nie hinausgeschafft hat; anders als im einst armen Südtirol, wo er von der Notmahlzeit zur tugendhaften Hauptspeise aufstieg. Dass er ein perfektes Gericht sei, weil er, wie Pasta und Pizza, so vielfältig ist. Dass das Klischee, wir Südtiroler könnten alle gut kochen, Blödsinn ist. (Im Gegenteil: Wir haben einen Kochminderwertigkeitskomplex, weil unsere Mütter Göttinnen sind.) Dass der Italotürke in Prenzlauer Berg längst zugemacht hat. Dass man einen guten Döner in Berlin lange suchen muss. Dass sich die Stadt zur gastronomischen Hochburg entwickelt hat. Dass man mal Knödel all’arrabbiata ausprobieren müsste.
Die Zeiten, in denen in Südtirol selbst im Kochtopf der Kampf der Kulturen herrschte, sind längst passé. Dafür sind wir Südtiroler – Deutsche und Italiener – allesamt zu sehr Feinschmecker, haben von Anfang an heißhungrig auf den Teller des anderen geschaut. Früher kamen in den Bauernstuben eine Pfanne mit Mus und für jeden ein Löffel auf den Tisch, heute hat Südtirol italienweit die höchste Dichte an Sternerestaurants.
Punkt zwölf steht der Knödel auf dem Tisch
Wir essen einfach fürs Leben gern. Auch mein Commissario Grauner, der im Nebenberuf Viehbauer ist, und sein Ispettore Saltapepe, der von Süditalien nach Bozen versetzt wurde. Nur über eines werden sich die beiden nie einig sein: Wie spät gegessen wird. Denn ein echter Tiroler will mittags um Punkt zwölf seine Knödel auf dem Tisch haben, für einen Neapolitaner ist alles vor eins Frühstück. Und Knödel zum Frühstück – das ist dann doch zu viel des Guten.
Lenz Koppelstätters erster Südtirol- Krimi „Der Tote am Gletscher – Ein Fall für Commissario Grauner“ erscheint am Montag bei Kiepenheuer & Witsch.