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Skurril und erfolgreich: Die finnische Hardrockband Lordi 2006 feiert ihren Sieg im Wettbewerb.
© picture-alliance/ dpa

Interview mit Peter Urban: Stimme des Volkes

Sein sonorer Sound klingt besser als viele der Beiträge beim Eurovision Song Contest. Peter Urban über abgelesene Kommentare, Lena und Dixi-Klos.

Was für ein Glück, dass Peter Urban im Haus ist. Vor wenigen Augenblicken haben Abba ihr Comeback angekündigt, in der Musikredaktion des NDR sind sie alle ganz aufgeregt. Breaking News, als wäre Korea wiedervereint. „Peter, kannst du bitte einen Kommentar sprechen?“ Abba, ausgerechnet! Die vier Schweden kamen 1974 beim Eurovision Song Contest mit „Waterloo“ groß raus. „Is’ nich’ wahr. Da bin ich ja gespannt. Aber jetzt mache ich erst mal das Interview“, sagt Urban. So schnell bringt ihn nichts aus der Ruhe. Am kommenden Samstag wird er zum 21. Mal in seiner Karriere den ESC moderieren, der dieses Jahr in Lissabon stattfindet.

Herr Urban, Sie sind als Pianist Teil einer eigenen Band, haben über die „Poesie des Rock“ promoviert. Sie kommentieren einen Musikwettbewerb, über den sich die Hälfte der Zuschauer lustig macht. Mögen Sie überhaupt, was Sie da hören?

Ja – auch wenn ich kein bedingungsloser Fan von ESC-Musik bin, erlebe ich immer wieder Songs, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Es gibt beim ESC eben bessere und schwächere, wie im wahren Leben – alles hat seine Berechtigung. Privat höre ich lieber Rockmusik, Soul, Singer-Songwriter.

Sie haben David Bowie interviewt, Keith Richards, Harry Belafonte. Haben Hendrix in London mit Cream spielen sehen, Live Aid kommentiert, ein Konzert für Nelson Mandela ebenfalls. Bruce Springsteen hat Sie halbnackt in seiner Kabine empfangen. Was soll der ESC Ihnen bieten, was Sie nicht schon erlebt hätten?

Es ist eine schöne Gewohnheit, in eine Welt einzutauchen, vergleichbar mit der Atmosphäre von Olympischen Spielen oder Europameisterschaften, nur eben im Fach Musik. Einmal im Jahr ist das toll, fünf Mal wäre es vielleicht nicht mehr so reizvoll.

Als Zuschauer denkt man oft, Sie improvisieren und sprechen frei. Dabei lesen Sie vom Papier ab.

Ja, damit mir nicht der Laptop abstürzt oder die Maus verrutscht. Es reicht nicht, sich ein paar Notizen zu machen. Da kann ich nur die Pointe verhauen. Zu jedem Land schreibe ich mir etwa eine halbe Seite Text auf. Ich habe nicht viel mehr als 30 Sekunden Zeit, die muss ich nutzen.

In den vergangenen drei Jahren mussten Sie vor laufender Kamera erklären, warum Deutschland mal wieder kaum Punkte bekam. Immerhin haben Sie schon bessere Zeiten erlebt. 2010 gewann Lena für Deutschland.

Sie war fantastisch! Diese Unbekümmertheit, diese Ausstrahlung. Das war ihr großes Geheimnis, sie hätte auch mit einem anderen Song gewonnen.

"Der Verband der Dickleibigen warf mir Diskriminierung vor"

Lena gewann 2010, ganz ohne große Show.
Lena gewann 2010, ganz ohne große Show.
© picture alliance / dpa

Lena siegte mit dem Song „Satellite“ zum ersten Mal für Deutschland, seit 1982 Nicole „Ein bisschen Frieden“ sang. Für Peter Urban bedeutete ihr Sieg an dem Abend eine sportliche Herausforderung. Der heute 70-Jährige war gerade an der Hüfte operiert worden. Trotzdem sollte er ein Interview mit der Gewinnerin führen. Also raus aus der Sprecherkabine, 400 Meter durchs Stadion, vorbei an besoffenen Norwegern, rauf auf die Bühne. Nassgeschwitzt, „total zerstrubbelt“ nach dreieinhalb Stunden Kopfhörertragen, hievte er sich auf die Plattform. „Peter, ist alles okay, du zitterst ja“, fragte Lena. „Ach, nur ein bisschen aus der Puste“, antwortete Urban. Er moderiert den ESC seit 1997, hatte zu dem Zeitpunkt schon seit mehr als 20 Jahren eine eigene Radiosendung.

In den sozialen Netzwerken ist die Sendung ein Hit, im Sekundentakt wird da jedes Wort, jeder Ton und jedes Outfit kommentiert. Lesen Sie, was da geschrieben wird?

Das vermeide ich. Wenn ich das alles ernst nehme, werde ich ja verrückt. Das wurde mir im vergangenen Jahr klar, als der Sängerin von Mazedonien ein Heiratsantrag gemacht wurde. Dass der kommen würde, war vorher bekannt. Ich habe das also süffisant kommentiert. Es war doch offensichtlich, dass es hier um einen Marketingtrick ging. Die wollten die Gefühlsvotes für ihren durchschnittlichen Song. Einige Twitter-Nutzer haben das nicht verstanden und mir vorgeworfen, ich sei gefühllos und unsensibel. Genau wie 2005, nach dem Beitrag von Chiara, der wunderbaren Sängerin aus Malta …

… einer etwas beleibten Frau, deren Song Sie als „runden Beitrag“ abmoderierten.

Danach schickte mir der Verband der Dickleibigen in Deutschland einen Brief und warf mir Diskriminierung vor.

Es gab in den vergangenen Jahren viele Debatten über Bodyshaming, Sexismus, Rassismus. Da sitzt nun ein älterer weißer Herr in einer Kabine und muss auch immer wieder Frauen und deren Kostüme kommentieren. Sie urteilten einmal: „Die hohen Töne so wacklig wie ihre Stilettos.“

Ich erinnere mich noch an eine griechische Sängerin in einem Fesselkleid, bei dem eigentlich alles zu sehen war. Das haben sie und die Delegation doch bewusst entschieden, das kann ich nicht ignorieren.

Macht das Draufhauen vor dem Fernseher nicht auch den Reiz des ESC aus?

Es ist für mich als Kommentator natürlich schön, wenn ich eine ironische Bemerkung machen kann. Ich muss aber zugeben, dass das schwieriger geworden ist, weil die Qualität auf der Bühne des ESC zugenommen hat. Das liegt übrigens auch an der Technik: Heute haben die Musiker einen Knopf im Ohr und können sich deshalb sehr gut selbst hören. Die Bühnenlautsprecher waren bei den Proben früher immer richtig laut, und während der Sendung wurden sie leise gedreht. Wenn ein Sänger sich nicht hört, kann er nicht gut singen. Wer es jetzt noch nicht hinkriegt, kann es wirklich nicht. Wie die Spanier im vergangenen Jahr – eine Gruppe von Surferboys, die fürchterlich schief gesungen hat.

"Terry Wogan ließ sich Baileys eisgekühlten hochbringen"

2000 erreichte Stefan Raab mit „Wadde hadde dudde da“ beim ESC den fünften Platz.
2000 erreichte Stefan Raab mit „Wadde hadde dudde da“ beim ESC den fünften Platz.
© picture-alliance / dpa

Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb über den dienstältesten ESC-Kommentator, ohne ihn sei der Wettbewerb nicht nur „quasi ungültig, er wäre auch gar nicht zu ertragen“. Geboren wurde Urban 1948 im norddeutschen Bramsche. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Nähe von Hamburg. Offiziell ist er seit fünf Jahren in Rente, beim NDR arbeitet er seitdem als freier Mitarbeiter. Eine Weile könne er noch und wolle auch, sagt Urban. Niemand im Sender müsse nervös werden. Er fühle sich sogar fitter als 2009, als er wegen der Hüfte eine ESC-Pause einlegen musste. Solange Männer mit über 70 noch glaubten, Staaten lenken zu können, könne er auch einmal im Jahr „seinen Senf zu ein paar Liedern“ dazugeben, sagt er. Wie zum Beweis stellt er den Gehstock unnötig weit weg vom Stuhl. Die einst dunklen Haare sind mit den Jahren silbrig geworden, davon abgesehen ist kaum ein Unterschied zu den Fotografien Urbans von vor zehn Jahren zu erkennen. Alte Videoaufnahmen belegen: Sogar die Stimme klingt noch wie 1997. Im ersten Jahr fuhren er und ein Redakteur noch zu zweit zur Veranstaltung, heute umgibt ihn ein Team von 30 Leuten.

So eine Sendung kann schon mal vier Stunden dauern. Was machen Sie, wenn Sie währenddessen pinkeln müssen, nehmen Sie eine Flasche mit an den Arbeitsplatz, wie es Lichttechniker manchmal tun?

Das kann schwierig werden. In Kopenhagen hätte man über eine wacklige Leiter 15 Meter weit runterklettern müssen. Ich weiß, dass einige Kolleginnen richtig Angst hatten. Da wurde mit einem Kran ein Dixi-Klo hochgeschafft. Ich bemühe mich, nicht zu viel zu trinken. Es gibt sowieso nur Wasser. Früher war das anders. Terry Wogan, der für die BBC kommentiert hatte, ließ sich eisgekühlten Baileys hochbringen. Und während der Show wurden die Kommentare immer lustiger.

Können Sie eigentlich auch irgendwas nicht kommentieren – als großer Fußballfan?

Ach was, da bin ich Liebhaber, ich genieße schöne Fußballspiele, deshalb schaue ich auch Bayern München oder Borussia Dortmund. Ich sehe unheimlich gern gute Mannschaften.

HSV-Fan sind Sie trotzdem.

Ich habe ja auch andere Zeiten erlebt. Und jetzt muss ich den Niedergang des HSV mitanschauen, wo wirklich jahrelang die falschen Spieler gekauft wurden, die falschen Trainer, der falsche Fußball gespielt wurde. Ein Drama, denn die Stadt wäre perfekt für einen großen Verein.

Sie kommentieren ja schon wieder.

Ich ärgere mich, auch zu Hause vor dem Fernseher. Meine Frau und meine Kinder sagen dann immer, ich solle nicht so laut werden.

Deutscher Beitrag. Peter Urban liebt Rockmusik und kommentiert trotzdem den ESC.
Deutscher Beitrag. Peter Urban liebt Rockmusik und kommentiert trotzdem den ESC.
© picture alliance / Andreas Arnol

Christian Vooren

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