Faschistische Architektur: Steiniges Erbe
Europas Diktatoren prägten den Städtebau. Wie erhält man diese Architektur, ohne daraus Wallfahrtsstätten zu machen?
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs steht es wie ein modernes Spukschloss mitten in Predappio: drei Stockwerke hoch, 3000 Quadratmeter Fläche; Form und Fassade sind klar, schnörkellos, rationalistisch. Der Turm des Gebäudes überragt die Piazza und tritt damit in Konkurrenz zur Kirche schräg gegenüber. Nimmt man die Rundtreppe, gelangt man zum Eingang, doch die Türen sind verschlossen. Im Innern: Leere.
Die „Casa del Fascio“, das örtliche Haus der Faschistischen Partei, haben sie hier jahrzehntelang behandelt wie eine Atomruine. Es abzureißen hat niemand gewagt, es zu nutzen auch nicht.
11 000 „Case del Fascio“ gab es einst an zentralen Plätzen Italiens und in damaligen Kolonien wie Somalia und Libyen, die Hälfte davon Neubauten. Es waren Symbole der Macht, Leuchttürme der faschistischen Ideologie. Doch nur das Haus in Predappio diente als Unterkunft für Pilger. Denn in einer kleinen Siedlung, die in dem heutigen Ort aufging, wurde 1883 Benito Mussolini geboren.
"Auf uns liegt ein Fluch"
„Während des Faschismus waren wir das Bethlehem Italiens“, sagt Giorgio Frassineti, Bürgermeister der 6500-Seelen-Gemeinde östlich von Bologna. „Damals hieß es: Komm für eine Stunde nach Predappio und werd ein besserer Mensch!“ Frassineti lächelt süffisant. Er ist ein eloquenter Mann mit Witz, amüsiert erzählt er von Mussolinis sozialistischem Vater und der katholischen Mutter: „Im Wohnzimmer hing Bakunin neben einer Madonna!“ Und wie alle seine Vorgänger seit Kriegsende ist er ein Linker. Einer, der das Erbe des Faschismus verwalten muss, und das nicht nur, weil Mussolinis Geburtshaus und sein ebenfalls in Predappio gelegenes Grab bis heute Bewunderer des Diktators anziehen. „Auf uns liegt ein Fluch“, sagt er.
Die „Casa del Fascio“ ist nur das extremste Beispiel. Der Ort ist voll von Bauten aus faschistischer Zeit, ja, ohne Mussolinis Herrschaft gäbe es ihn in seiner jetzigen Form gar nicht.
Deshalb war Frassineti sofort dabei, als vor ein paar Jahren ein Netzwerk europäischer Städte entstand, die wie Predappio architektonisch durch die autoritären Regimes des 20. Jahrhunderts geprägt sind. „Atrium“ heißt dieser einzigartige Zusammenschluss, der bisher auf Italien und den Balkan beschränkt ist. Im Jahr 2014 mündete er in eine vom Europarat anerkannte Kulturroute – ein Label, mit dem die Orte werben.
16 Mitglieder gibt es aktuell, die Route reicht von Norditalien übers kroatische Labin und Albaniens Metropole Tirana bis nach Dimitrowgrad, Bulgariens „erste sozialistische Stadt“, die ab 1947 aus dem Boden gestampft wurde.
Was tun mit Gebäuden aus den Diktaturen?
Die Idee: Zusammen kann man die Geschichte besser aufarbeiten – und das Stigma vielleicht sogar in einen Vorteil verwandeln. Eine heikle Aufgabe. Doch gerade deswegen könnte „Atrium“ Vorbild sein und weiter wachsen.
Was tun mit Gebäuden aus den Diktaturen, zumal den beeindruckenden und gelungenen Bauten? Wie nutzt man sie für den Tourismus, ohne Wallfahrtsstätten aus ihnen zu machen? Und wie erhält man die weniger auffälligen, ohne ihre Geschichte zu verdrängen? Diese Fragen betreffen nicht bloß Italien oder die postkommunistischen Staaten Südosteuropas. Auch in Salazars Portugal, der Sowjetunion oder Nazi-Deutschland spielte Städtebau eine zentrale Rolle.
Dass „Atrium“ sein Zentrum ausgerechnet in Italien hat, ist dennoch kein Zufall. Schon die schiere Zahl an Bauten, die unter Mussolini zwischen 1922 und 1943 entstanden, überragt die der meisten Diktaturen. Denn der Faschismus sollte das Land, das in seiner Entwicklung anderen europäischen Mächten hinterherhinkte, rasant modernisieren und zu neuer Größe führen. Gleichzeitig waren die ideologischen Vorgaben weniger streng. Der vorherrschende Stil wechselte im Laufe der Jahre, und manche Architekten schufen sogar Meisterwerke.
Sitz von „Atrium“ ist Forlì, wie Predappio in der Region Emilia-Romagna gelegen. Die Stadt hat knapp 120 000 Einwohner, sie sollte das Tor für die Mussolini-Wallfahrt sein. Dafür gestaltete man sie massiv um, schuf breite Straßen, riss Mittelalterliches ab.
"Zuerst möchte man alles abreißen"
Damals wurde in Forlì auch ein College für angehende Kampfpiloten errichtet, 1941 benannt nach Mussolinis Sohn Bruno, der als Jagdflieger ums Leben kam. Heute beherbergt das Gebäude Realschule und Gymnasium. In den Gängen rund um den Innenhof läuft man über Marmor und schaut auf elegante Mosaike an den Wänden. Sie erzählen die Geschichte der Luftfahrt, in der faschistischen Propaganda ein einziger Siegeszug des italienischen Genies, von Leonardo da Vincis Flugmaschinen bis zur Eroberung der Kolonien in Afrika.
„Uns hat nie jemand erklärt, was es mit diesen Mosaiken auf sich hat, als ich hier später zur Schule ging, und wir haben auch nicht danach gefragt“, erzählt Claudia Castellucci, die in der Stadtverwaltung für „Atrium“ zuständig ist. Ein typischer Fall. Sehr viele Gebäude aus faschistischer Zeit waren zweckmäßig und wurden nach dem Krieg einfach in gleicher Funktion weitergenutzt. „Nicht nur Schulen, auch Bahnhöfe, Polizeiwachen, Postämter, Wohnungen.“
Bei „Atrium“ geht es nicht zuletzt darum, dass die Bewohner ihren Heimatort wieder zu schätzen lernen. Castellucci sagt, sie sei mit dem Gefühl aufgewachsen, dass Forlì eine unattraktive Stadt ist. „Heute denke ich, dass es in der faschistischen Zeit, unabhängig von der Politik, schöne und hässliche Bauten gab.“ Einen ähnlichen Prozess beobachtet sie in den östlichen Partnerstädten, wo die Wunden frischer sind. „Es gibt immer drei Phasen. Zuerst möchte man alles abreißen, dann braucht man viele Gebäude doch, und irgendwann kann man abgeklärter auf sie schauen.“
Manche wollen die Überreste des Kommunismus zu touristischen Sensationen machen
Der Wandel von Tirana, das ebenso Bauten aus der italienischen Kolonialzeit wie aus der kommunistischen Diktatur Enver Hoxhas besitzt, hat sie beeindruckt. Die einst graue, dunkle Stadt wolle so schnell wie möglich aussehen wie eine amerikanische Metropole. „Unser Netzwerk ist da eine Chance, dass erhaltenswerte Gebäude nicht verkommen oder plattgemacht werden.“ Dass man Geschichte nicht einfach entsorgt.
Andererseits gibt es in Osteuropa manche, die die Überreste des Kommunismus zu touristischen Sensationen machen wollen. Eine Tendenz, die freilich auch in Italien existiert. Das Grand Hotel in Castrocaro Terme, ein Thermalkurort südwestlich von Forlì, ist eines der architektonischen Juwelen aus der faschistischen Zeit. Besonders prächtig: der eigens für Mussolini erbaute Festsaal. Im Hotel kann man das Zimmer buchen, in dem der Diktator angeblich zu übernachten pflegte. Es ist mit Mussolinibildern dekoriert.
Das ist nicht der Ansatz von „Atrium“. In einem Leitfaden haben die Mitglieder, in Kooperation unter anderem mit den Universitäten Ljubljana und Sofia, genau festgehalten, wie man den Charakter von Häusern bewahren und ihre Geschichte aufarbeiten sollte. Trotzdem steckt auch dahinter die Idee, mit der diktatorischen Vergangenheit Touristen anzulocken. Es werden eigens Fremdenführer ausgebildet, sie sollen differenziert über Geschichte sprechen können.
Forlì hat begonnen, sein Erbe zu vermarkten
In dem ehemaligen Piloten-College in Forlì hat das Netzwerk jetzt Schilder aufstellen lassen, die die Entstehung des Gebäudes sachlich und kritisch darstellen; Ähnliches wird gerade für zahlreiche Bauten erarbeitet. Zwei junge Franzosen schauen sich an diesem Tag die Mosaike an. Die beiden arbeiten für einen alternativen Reiseveranstalter. Auf Leute wie sie haben es Castellucci und ihre Kollegen abgesehen. „Wir wollen, dass Schüler und Studenten auf Studienreisen nach Forlì kommen, und wir zielen auch auf kulturinteressierte Reisende.“
Forlì hat begonnen, sein Erbe zu vermarkten. Faltpläne wurden gedruckt, in denen die faschistischen Gebäude eingezeichnet sind, nebst Foto und Name des Architekten. Von „Atrium“ gibt es eine kleine Box, in der sich farbige Karten finden, die die Orte mit ihren architektonischen Höhepunkten vorstellen, sowie eine Art Stempelpass für 24 Stätten.
Vor allem veranstaltet Forlì mittlerweile regelmäßig Ausstellungen und Stadtspaziergänge. Beim Projekt „Totally Lost“ kooperiert man mit einem Verein, der Fotos verlassener Bauten aus Diktaturen in ganz Europa sammelt. Jedes Jahr findet eine internationale Konferenz statt, immer mit anderem Schwerpunkt. Etwa zu Frauen in totalitären Regimen. „Wir hatten zum Beispiel Niklas Frank zu Besuch, den Sohn des Nazi-Generalgouverneurs in Polen“, sagt Castellucci. Sogar Slow Food hat sich beteiligt, mit einem Programm, bei dem es um Ernährung und Agrarwirtschaft zwischen 1920 und 1945 ging.
Bürgermeister Frassineti hat einen Plan für die "Casa del Fascio"
Für den Moment hat „Atrium“ keine neuen EU-Gelder einwerben können, auch aus einer Erweiterung ist bisher nichts geworden. Deutsche Städte wie Weimar und Nürnberg reagierten verhalten, sagt Castellucci, und in Spanien wolle man gar nichts von dem Netzwerk wissen; die Ära Franco ist noch immer eine sehr empfindliche Angelegenheit.
Die verschiedenen Erinnerungskulturen in den europäischen Ländern sprächen gerade für ein Projekt wie „Atrium“, findet der Berliner Sozialwissenschaftler Harald Bodenschatz. Das Fazit seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Thema: „Den diktatorischen Städtebau kann man nur in internationaler Perspektive verstehen.“ So habe es etwa bis Mitte der 30er Jahre regen Austausch zwischen der Sowjetunion und Italien gegeben.
Bodenschatz, Autor des Buches „Städtebau für Mussolini“, hat immer wieder erlebt, wie irritierend aus deutscher Perspektive der Umgang mit der diktatorischen Vergangenheit in vielen Ländern sein kann. Vorletztes Jahr war er im Stalin-Museum in Gori, der georgischen Heimatstadt des sowjetischen Diktators, wo diesem bis heute gehuldigt wird. Ein ziemlich verstörendes Erlebnis. „Aber der erste Schritt besteht darin, den anderen überhaupt wahrzunehmen und sich regelmäßig auszutauschen, das passiert kaum.“ Außerdem gebe es ein ganz praktisches Argument dafür, Stätten ehemaliger Diktaturen zu „europäisieren“: „In dem Moment, wo viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern dorthin strömen, können sie kein nationaler Kultort mehr sein.“
In Predappio soll ein Museum über den Faschismus entstehen
Bürgermeister Frassineti muss noch damit leben, dass Predappio ein Wallfahrtsort ist. „Das betrifft aber nur zehn Prozent der Besucher“, sagt er, „die restlichen 90 Prozent sind einfach historisch Interessierte.“ Er pflegt den europäischen Austausch, auch über „Atrium“ hinaus. In Gori war er auf einer Konferenz, und dem österreichischen Braunau riet er von der Zerstörung des Hitler-Geburtshauses ab.
In Predappio bieten mehrere Läden faschistische Devotionalien an; verboten ist das nicht. Allerdings haben Frassinetis Vorgänger die Eröffnung von Hotels im Ort verhindert. „Wenn es nach mir geht, dürfte es die ruhig geben“, sagt er. Sein Plan ist ein anderer. Er will in der „Casa del Fascio“ bald ein wissenschaftlich fundiertes Museum über den Faschismus einrichten. Es wäre das erste in Italien.
Mehr Infos: www.atriumroute.eu; Fotoprojekt „Totally Lost“: spaziindecisi.it