Mussolini-Biographie: Er konnte links wie rechts
In ihm erschöpfte sich das Regime: Hans Woller zeichnet in seiner Biographie Mussolinis zunehmende Radikalisierung nach. Eine Rezension.
Als es bereits zu spät war und die Alliierten in Nordafrika gesiegt hatten, setzte Mussolini noch einmal alles auf eine Karte. Im Februar 1943 entließ der Duce nahezu sein gesamtes Kabinett, brachte die Partei, den „Partito Nazionale Fascista“, auf einen radikalen Kurs und suchte, ganz Italien noch einmal zu mobilisieren. Die Entwicklung vom monarchistisch-legalistischen Kompromisssystem der 20er Jahre zur Führerdiktatur der 30er wurde abermals beschleunigt. Und war sehr bald zu Ende: Denn Mussolinis Entscheidung, mit einem radikalisierten Regime den Kriegszustand fortzuführen, in dem sich Italien im Grunde seit 1929 befand, „sprengte die von den Kriegs- und Friedensdebatten ohnehin schon strapazierte faschistische Partei förmlich auseinander“.
„Es wäre ihm sogar ein Leichtes gewesen, die Kritiker verhaften zu lassen“
So beschreibt Hans Woller in seiner Biografie die Lage unmittelbar nach der alliierten Landung auf Sizilien am 10. Juli 1943. Es dauerte von da an nur noch erstaunlich kurze zwei Wochen, bis der Duce seine Macht verlor. In der Nacht zum 25. Juli zerstritt sich der „Großrat“, diese Parallelinstitution zu Parlament und Regierung ohne jede gesetzliche Grundlage, und forderte, wenn auch verklausuliert, die Entmachtung des Duce durch König Vittorio Emanuele. „Mussolini hätte die Diskussion jederzeit unterbinden können“,wundert sich Woller, der langjährige Chefredakteur der angesehenen „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“ und Mitarbeiter am München-Berliner Institut für Zeitgeschichte: „Es wäre ihm sogar ein Leichtes gewesen, die Kritiker verhaften zu lassen. Die Miliz stand vor der Tür bereit…“
In solch nüchtern formulierten Sätzen kommt die Rätselhaftigkeit der Untätigkeit Mussolinis zum Ausdruck. Dessen Entlassung samt Abtransport als Quasi-Häftling resümiert Woller: „Die Ära Mussolini, die 1922 mit dem Marsch auf Rom triumphal begonnen hatte, schien am Nachmittag des 25. Juli 1943 ganz unspektakulär in einem Sanitätsauto zu Ende zu gehen.“ Das „schien“ bezieht sich auf das schaurige Nachspiel der „Repubblica Sociale Italiana“, bekannt als Republik von Salò, in der Mussolini unter der Oberhoheit von NS-Regime und Wehrmacht, die Italien 1943 besetzte, eine Terrorherrschaft bis dahin ungekannten Ausmaßes etablierte. So unverständlich Mussolinis Lethargie angesichts der drohenden Entmachtung im Hochsommer 1943 bleibt, so sehr passt sie doch zum Bild einer widersprüchlichen, sprunghaften und grenzenlos narzisstischen Persönlichkeit, das Woller zeichnet. Das Verdienst seiner Biografie – und über Mussolini ist viel geschrieben worden – besteht darin, die nur auf den ersten Blick seltsamen Wechsel seiner Politik zwischen Links- und Rechtsradikalismus ebenso herauszuarbeiten wie den sehr früh schon zutage tretenden, nur eben lange Zeit mühsam gebändigten Antisemitismus. Mussolini, man vergisst es allzu leicht, war vor dem Ersten Weltkrieg einer der Führer der Sozialisten, und zwar einer der revolutionären Sorte. Mit Kriegsbeginn schwenkte er auf eine ebenso radikale nationalistische Linie ein; daraus erwuchs nach dem für Italiens Ambitionen so enttäuschenden Ausgang des Krieges die faschistische Bewegung.
Erst lässt er dem Imperialisten freien Lauf und alsbald dem Rassisten und Antisemiten
„Bewegung“ ist das Schlüsselwort für den nie zu einer halbwegs konsistenten Ideologie, einem „Weltbild“ gelangten Mussolini. Sein Programm war die „Tat“, genauer gesagt die schiere Gewalt, mit der er lange Zeit eher spielte, als sie auszuüben. Schon der „Marsch auf Rom“ war eine bloße Inszenierung „und wurde ganz abgeblasen, als Mussolini im Nachtzug nach Rom saß und praktisch schon Regierungschef war“. Der formell machthabende König unterließ es, das Militär gegen die „Schwarzhemden“ einzusetzen und ermöglichte so den Sieg des künftigen Duce. „Die Gründe für diesen Rückzieher liegen bis heute im Dunkeln“, rätselt Woller. Hat man sein Buch als Ganzes im Blick, springt die Parallelität von ungeplanter Machtübergabe 1922 und plötzlicher Entmachtung 1943 ins Auge.
Dazwischen liegen zwei Jahrzehnte, in denen Mussolini erst dem Imperialisten freien Lauf lässt und alsbald dem Rassisten und Antisemiten. Die in Italien gern beschönigte Geschichte der Expansionsbemühungen des Regimes, in Nordafrika, Albanien, Abessinien und schließlich Griechenland, zeichnet Hans Woller in aller Deutlichkeit. „Permanente Radikalisierung und Entgrenzung der Kriegsgewalt waren denn auch die Hauptmerkmale der Kämpfe in Abessinien“, heißt es da: „Das Signal dazu gab Mussolini selbst.“ Unter der Bevölkerung gab es während des Feldzugs 150 000 Tote und unter der bis 1941 dauernden Besatzung weitere 180 000 bis 230 000 Opfer.
Mussolini wollte nicht nur territoriale Gewinne, er erstrebte zudem eine „anthropologische Revolution“, die „einen neuen Menschen hervorbringen sollte“. Oft ist Mussolini als Nachahmer Hitlers kleingeredet worden. Dagegen urteilt Woller: „Nicht nur der Imperialist war älter als der Faschist, auch der Rassist war es. Mussolini dachte schon seit einem Vierteljahrhundert in rassistischen Kategorien.“ Das Ende 1938 erlassene „Gesetz zum Schutz der italienischen Rasse“ bildete den Höhepunkt der svolta totalitaria, der „totalitären Wende“, die Mussolini in immer stärkerer Missachtung der seit 1922 mühsam bewahrten Machtbalance mit dem König und den bürgerlich-konservativen Eliten vollzog. Damit setzte Mussolini eine „Dynamik der antisemitischen Selbstermächtigung in Gang“: Die Parallele zu der von Hans Mommsen benannten „kumulativen Radikalisierung“ des NS-Regimes liegt auf der Hand. Doch musste Mussolini, auch wenn er in völlige Abhängigkeit vom „Dritten Reich“ geriet, seine Herrschaftspraxis nicht erst vom übermächtigen Partner der Achse Berlin–Rom erlernen.
Er öffnet den Blick auf ein in seiner Gewaltsamkeit oft unterschätztes Regime
Im bald entfesselten Krieg, dessen Verlauf Mussolinis Träume vom „Impero“ nach erstem Hochgefühl bald zunichtemachte, entwickelte der Duce gegenüber Hitler eine eigene, von Woller herausgestellte Position: die Hoffnung auf ein „Arrangement mit Moskau“. Mussolini hoffte dadurch auf die Stärkung seiner Position im Mittelmeerraum. Freilich, „zu konkreten Schritten kam es nicht“. Dass Mussolini den Hitler’schen Willen zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion derart unterschätzen konnte, sagt viel über seine inkonsistente, dem Augenblick verhaftete Politik. Sie endete augenblicklich mit dem Tod Mussolinis, der am 28. April 1945 von kommunistischen Partisanen umstandslos erschossen wurde wie gleich ihm ein reichliches Dutzend faschistischer Funktionäre.
Hans Wollers Biografie öffnet den Blick auf ein in seiner Gewaltsamkeit oft unterschätztes Regime – ein Regime, das in der Person des Diktators nicht nur kulminierte, sondern sich in ihr erschöpfte. Unausgesprochen bleibt die Einsicht Ernst Noltes in dessen bahnbrechendem Buch von 1963, „Der Faschismus in seiner Epoche“: „Die Geschichte des Faschismus ist, wenn sie zugleich als Geschichte der intellektuellen Entwicklung Mussolinis gefasst wird, die einzige angemessene Darstellung seiner Doktrin.“
– Hans Woller: Mussolini. Der erste Faschist. Verlag C.H.Beck, München 2016. 397 Seiten, 26,95 Euro.
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