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Die Verlorenen. Paloma Novae vor einem Bild ihres getöteten Sohnes. Die Graffiti zeigen Opfer von Querschlägern.
© Philipp Lichterbeck

Drogenkrieg in Brasilien: Zwischen den Fronten von Rio de Janeiro

Sie kauft gerade Zuckerwatte, als die Kugel den Kopf ihres Sohnes durchschlägt. In Rio de Janeiro tobt ein Krieg zwischen Polizei und Drogenhändlern. Auf den Straßen sterben immer mehr Unschuldige.

Benjamin Novaes starb an einem Freitag gegen 19 Uhr. Er war ein Jahr und sieben Monate alt. Seine Mutter, Paloma Novaes, war mit ihren beiden Kindern gerade an einer Zufahrt zur Favela Nova Brasília aus dem Bus gestiegen, sie kam von ihrer Arbeit als Putzfrau und wollte ihre Mutter besuchen. „Da krachte es“, erinnert sie sich, „es ging so schnell.“ Aus einer Gasse hatten Drogendealer das Feuer auf eine Polizeistreife eröffnet. Die Beamten schossen zurück, obwohl Dutzende Menschen auf der Straße waren. Eine Kugel traf Benjamin Novaes in den Kopf.

Seine Mutter stand mit der vierjährigen Tochter Sofia genau daneben, sie kauften gerade Zuckerwatte. Als Paloma Novaes sah, was passiert war, versuchte sie unter Schock, die Gehirnmasse ihres Sohnes, die über den Kinderwagen verteilt lag, wieder in seinen Schädel zu füllen. Das kurz darauf entstandene Handyfoto eines Passanten, das im Internet kursiert, zeigt, wie sie auf dem Asphalt hockt und mit ausgebreiteten Armen zum Himmel schreit. „Ich wollte nicht mehr leben“, sagt sie.

Benjamin Novaes ist das 13. Kind, das seit Anfang 2017 in Rio de Janeiro von einem Querschläger getötet wurde. So hat es die Menschenrechtsorganisation Rio da Paz erfasst. Sie zählt fast fünfzig tote Kinder seit 2007. Rio de Janeiro, sagen hochrangige Polizisten, befindet sich zwei Jahre nach den Olympischen Spielen in einem „Krieg niedriger Intensität“. Seine Opfer sind oft Unschuldige.

Früher nahm sie Crack, Fábio half ihr

Zwei Monate nach dem Unglück sitzt Paloma Novaes mit Benjamins Vater Fábio auf einem Mauervorsprung und starrt ins Leere. Sie trägt ein buntes Kleid, er ein ärmelloses Hemd. Sie sind in das Armenviertel Complexo do Alemão gekommen, zu dem auch die Favela Nova Brasília gehört. Hier, unweit des Ortes, an dem Benjamin starb, wollen sie reden. Für ein Foto hat Paloma Novaes behutsam einige Kleidungsstücke auf die Mauer gelegt: T-Shirts, Schuhe, eine Mütze. Sie gehörten Benjamin. Am Horizont hinter Paloma und Fábio Novaes erhebt sich eine Bergkette mit der berühmten Christusstatue. Fábio Novaes sagt: „Dieser Christus breitet immer nur die Arme aus, aber er umarmt uns nicht.“

Fábio und Paloma Novaes sind 38 und 30 Jahre alt. Als sie sich vor einigen Jahren kennenlernten, lebte Paloma auf der Straße und nahm Crack. Es hat ihrem Gesicht harte Züge verliehen. Fábio, ein ungelernter Bauarbeiter mit kräftigen Armen und einem zarten Lächeln, mochte sie und half ihr, von der Droge fortzukommen. Sie zogen zusammen, bekamen eine Tochter und einen Sohn. Es hätte der Anfang von etwas Schönem sein können. Dann kam die Kugel.

Bei dem Krieg von Rio geht es um die Herrschaft über Territorien, in denen Drogen verkauft, Schutzgelder erpresst und immer häufiger Waren aus Raubüberfällen auf Transporter umgeschlagen werden. Die Gebiete sind von drei rivalisierenden Drogenhändlerfraktionen, immer mächtiger werdenden Milizen und der Polizei umkämpft. Hinzu kommt die Alltagskriminalität.

"Balas perdidas". Das klingt fast poetisch – und ist irreführend

Zum Symbol der Gewalt sind die Querschläger geworden. „Balas perdidas“ heißen sie auf Portugiesisch. Verlorene Kugeln! Das klingt fast poetisch – und ist irreführend. Diese Kugeln sind nicht verloren. Es gibt immer einen, der sie abfeuert, der sie mit Geschwindigkeiten von mehr als 1200 Metern pro Sekunde durch Gassen, über Straßen und Plätze jagt. Sie durchschlagen Autokarosserien und Häuserwände. Und häufig treffen sie am Ende Menschen, für die sie nicht gedacht waren. So wie Benjamin Novaes.

Sein Vater glaubt, dass die Kugel, die ihn tötete, aus einer Polizeiwaffe stammt. Beweisen kann er das nicht. Zwar untersuchten nach dem Schusswechsel Zivilpolizisten den Tatort und sammelten Patronenhülsen ein. Aber ob jemals herauskommen wird, wer Benjamin tötete? Fábio Novaes ahnt, dass der Staat kein Interesse daran hat, diese Frage zu beantworten. „Ich fühle mich so ohnmächtig“, sagt er. „Das Leben von uns Armen und Schwarzen zählt in Brasilien weniger als eine Cola-Dose. Dafür kriegt man ja noch das Geld fürs Altmetall.“ Sollte sich herausstellen, dass ein Polizist die Kugel abfeuerte, könnte er auf Entschädigung klagen.

Fábio Novaes läuft zu dem belebten Ort, an dem sein Sohn starb. Einen Stand mit frischem Fisch gibt es, Obst und Gemüseläden, kleine Supermärkte, Schönheitssalons, Motorräder kurven umher. Nichts erinnert mehr an den Horror von vor zwei Monaten.

Geht man aber etwas weiter in die Favela hinein, stehen dort bald junge Männer in Badeshorts, die US-amerikanische Sturmgewehre vom Typ AR-15 lässig über der Schulter tragen. Auf einem Tisch haben sie Kokainbriefchen und Beutel mit Marihuana aufgereiht, aus einer Plastiktüte quellen Geldscheine. Waren sie es, die das Feuergefecht im März mit der Polizei begannen? Damals starben neben Benjamin Novaes noch zwei weitere Unbeteiligte, ein Mann und eine Frau, beide waren 58 Jahre alt. Die Polizei erschoss einen der Dealer, sieben Menschen wurden verletzt.

"Ich stand so unter Schock, dass ich nichts mehr spürte"

Unter den Verletzten war auch Paloma Novaes. Als sie mit dem bereits toten Benjamin im Hospital eintraf, sagten ihr die Krankenschwestern, dass sie blute. Sie hebt ihr Kleid und zeigt eine wulstige Narbe an der Seite ihres Bauchs. Eine Kugel durchschlug dort ihren Körper, eine weitere traf ihren Unterarm. „Ich stand so unter Schock, dass ich nichts mehr spürte.“ Paloma Novaes ist überzeugt, dass die Kugeln von Polizisten abgefeuert wurden. „Ich stand mit dem Rücken zu ihnen, und ich wurde von hinten getroffen.“

An einem gleißenden Samstagmorgen spannt Uidson Ferreira lange Schnüre über den Strand der Copacabana. Er befestigt schwarze Zettel daran, die im Wind flattern. Darauf sind Namen und Fotos der Kinder, die in den vergangenen Jahren von Querschlägern getötet wurden. Jemand hat künstliches Blut darunter verspritzt. „Die entscheidende Frage ist doch“, sagt Ferreira, „ob die Polizei hier in der Südzone, wo die Reichen leben, auch so herumballern würde?“ Es ist eine rhetorische Frage.

Uidson Ferreira hat einen Dreitagebart und ist athletisch gebaut. Er arbeitet als Kampfsportlehrer und lebt in einer Favela. Außerdem ist der 34-Jährige der Halbbruder von Maria Eduarda Alves, dem bekanntesten Opfer von Querschlägern in Rio. Anlass der kleinen Demo ist ihr einjähriger Todestag. Viele Eltern von erschossenen Kindern sind gekommen, darunter auch Fábio und Paloma Novaes. Sie umarmen sich lange und tränenreich.

Maria Eduarda starb auf ihrem Schulhof

Der Fall der 13-jährigen Maria Eduarda wurde deswegen bekannt, weil sie auf dem Schulhof von vier Polizeikugeln getroffen wurde. Zwei Polizisten lieferten sich einen Schusswechsel mit Drogenhändlern und scherten sich nicht darum, dass eine Schule dazwischenlag. Der Sprecher von Rios Militärpolizei bezeichnete den Tod Maria Eduardas damals als „den absurdesten Kollateralschaden“. Der Minister für öffentliche Sicherheit wies zur Entschuldigung auf das finanzielle Chaos des Bundesstaats Rio de Janeiro hin. „Wir verlieren jeden Monat menschliche Ressourcen und Material.“ Die Beamten stünden unter enormem Stress, das habe mehr Konfrontationen in Risikogebieten zur Folge.

Seine Schwester Maria Eduarda, sagt Uidson Ferreira aufgebracht, „war nicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie war dort, wo sie hingehört: in der Schule!“ Bis heute versuchen Ferreira und seine Mutter deswegen einen Termin bei Rios Gouverneur Luiz Pezão zu bekommen. Ihm untersteht die Polizei. Sie wollen eine Entschädigung für den Tod Maria Eduardas erlangen. Aber Pezão, der unter Korruptionsverdacht steht, lässt einen Termin nach dem anderen platzen.

„Was wäre denn los, wenn das Kind eines Anwalts, Architekten oder Arztes bei so einer Aktion umgebracht würde?“, fragt Ferreira. „Ein weißes Kind?“ Tatsächlich spiegelt sich die soziale Apartheid Rios, die immer eine rassistische Komponente hat, in den Opferstatistiken. 65 Prozent der Menschen, die von Querschlägern getroffen werden, leben in Favelas. 85 Prozent der Vorfälle passieren während Polizeiaktionen. Die allermeisten Opfer sind schwarz.

Durch Spenden bekam Benjamin wenigstens ein Armengrab

Wie Uidson Ferreira fühlen sich auch Fábio und Paloma Novaes vom Staat alleingelassen. Niemand meldete sich nach Benjamins Tod bei ihnen, niemand bot Hilfe an. Nur Reporter kamen, denen sie erzählten, dass sie die Beerdigung nicht bezahlen könnten. Bei einer Spendenaktion kam dann die Summe für ein Armengrab zusammen, rund 100 Euro. Seit der Beerdigung haben Paloma und Fábio Novaes das Grab nicht mehr besucht.

Weil sie die Erinnerungen nicht mehr ertrugen, zogen sie auch aus ihrem Häuschen in einem Armenviertel aus und wohnen nun in einem kleinen Zimmer im heruntergekommenen Zentrum Rios. Zuletzt übernahm eine Journalistin, die ihre Geschichte bewegte, die Miete. Paloma kann seit Benjamins Tod nicht mehr arbeiten und Fábio, der seit Monaten arbeitslos ist, hat Angst, dass sie wieder zu Drogen greifen könnte. „Ich passe rund um die Uhr sie auf“, sagt er. „Oder mein Bruder macht das.“

Fábio Novaes nimmt die Tochter auf den Arm. Sofia scheint auf den ersten Blick ein fröhliches Kind zu sein. Aber Fabio Novaes sagt, dass sie nachts oft schreiend aufwache, weil sie Albträume habe. Er hat sich vorgenommen, einen Menschenrechtsanwalt zu kontaktieren. Er gibt sich kämpferischer als die oft schweigende Paloma.

„Der ganze Fall ist natürlich bedauerlich“, sagt Oberst Roberto Viana. „Aber wenn wir bei den Eltern anriefen, wäre das ein Schuldeingeständnis.“ Viana ist 46 Jahre alt und Chefkoordinator für strategische Fragen bei Rios Militärpolizei. Er trägt deren graue Uniform und hat eine Pistole umgeschnallt. In seinen zwei Jahrzehnten als Beamter war er selbst an zahlreichen Schusswechseln beteiligt.

„Einmal flog eine Kugel quer durch unseren Streifenwagen, wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei“, erzählt er im Polizeihauptquartier Rios, einem alten Fort. Ob er selbst jemals einen Menschen getötet habe, wisse er nicht, denn „solche Situationen sind extrem unübersichtlich“.

"Alle zehn Minuten findet in Rio ein Schusswechsel statt"

Seit 110 Jahren hat Brasilien eine Militärpolizei. Menschenrechtsgruppen kritisieren das, weil es dazu führe, dass die Polizisten eine Kriegsmentalität entwickelten. Roberto Viana dagegen hält das für richtig. „Wir erleben eine Bürgerkriegssituation“, sagt er. „Alle zehn Minuten findet irgendwo in Rio ein Schusswechsel statt.“ Mit dieser Kriegslogik wird das Handeln der Polizei immer wieder begründet. Tatsächlich hat die Kriminalität in Rio mit Beginn der Wirtschaftskrise 2013 exorbitant zugenommen. Nur einige Schlagzeilen der vergangenen Tage: „Drogengang legt Ermordeten in Copacabana auf die Straße“. „Schon 125 Massenüberfälle auf Rios Hauptstraßen“. „Tod von Polizist löst Racheaktion der Polizei in Favela aus: vier Tote“.

Weil die Situation nach dem Karneval im Februar komplett außer Kontrolle zu geraten drohte, schickte Präsident Michel Temer das Militär nach Rio. Die Bilder von Panzern vor Favelas waren beeindruckend – doch die Kriminalität nahm weiter zu. Laut der Datenplattform „Fogo Cruzado“ – Kreuzfeuer – fanden zwischen Januar und April dieses Jahres 1751 Schusswechsel statt, es gab 222 Tote und 282 Verletze. Genaue Daten zu den Opfern von Querschlägern gibt es nicht. Aber in einer Erhebung sagten 92 Prozent der befragten Bewohner Rios, dass sie Angst davor hätten, von einem Querschläger getroffen zu werden, bei einem Überfall zu sterben oder in einen Schusswechsel zwischen Polizisten und Kriminellen zu geraten.

„Die Waffen, die auf beiden Seiten zum Einsatz kommen, gehören eigentlich in ein Kriegsgebiet“, sagt Oberst Viana. Auch das trage zur Eskalation bei. Tatsächlich fällt in den Favelas immer wieder das moderne Kriegsgerät in den Händen junger Männer auf: fabrikneu glänzende Gewehre, teils in Tarnfarben, aus den USA und Israel, die laut Polizei über Paraguay ins Land geschmuggelt werden.

Doch auch korrupte Sicherheitskräfte verkaufen Waffen an die Gangs. Vor ein paar Tagen habe ein Streifenpolizist auf einmal einen roten Laserpunkt auf seiner Brust entdeckt, berichtet Viana. „Einzig die schusssichere Weste rettete ihm das Leben.“ Auch die Angst, ständig beschossen werden zu können, macht Rios Polizei schießwütig. In keiner anderen Stadt der Welt werden so viele Polizeibeamte umgebracht wie in Rio. Im vergangenen Jahr waren es 134, in diesem sind es schon 49.

Wer beschossen wird, bekommt einen Tunnelblick

Doch Rios Polizei ist auch diejenige, die am meisten tötet, 1127 Menschen im Jahr 2017. „Jede Gesellschaft kriegt die Polizisten, die sie verdient“, sagt Viana.

Er zählt die fünf Aspekte auf, die von Polizisten zu beachten sind, bevor sie zur Waffe greifen: Selbstverteidigung, Notwendigkeit, Zurückhaltung, Proportionalität, Ethik. Aber das sind natürlich relative Kategorien. Wenn man beschossen werde, sagt Viana, dann bekomme man einen Tunnelblick. Man versuche sich zu verteidigen und schieße zurück, auch an belebten Orten. Kaum Zeit, um die fünf Kriterien abzuwägen. „Wir Polizisten haben eine Schützengrabenmentalität entwickelt“, sagt Viana. „Viele Kollegen werden durch diesen Druck krank.“

Es gibt keine Sieger in diesem Krieg von Rio.

Paloma und Fábio Novaes führen zu einem Graffito, das ihren Sohn Benjamin in einer Reihe mit anderen Gewaltopfern zeigt. Lange bleiben sie stumm davor stehen. Paloma Novaes sagt: „Ich will aus diesem Albtraum erwachen.“

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