Gesundheitssystem: Zu jung fürs Pflegeheim
Wenn sie sitzt, fühlt sie sich wie 60. Wenn sie geht wie 90. Dabei ist sie erst 44. Die meisten Deutschen haben Angst vor dem Pflegeheim – Tanja Herz sehnt sich danach. Doch Menschen wie sie sind im System nicht vorgesehen.
Wie Tanja Herz diesen Satz hasst. Sie steht im Flur eines Altenheims in Berlin, einem jener 298 vollstationären Pflegehäuser dieser Stadt, nach denen sie sich seit Monaten sehnt. Die Heimleiterin läuft auf sie zu, guckt Tanja Herz mit hochgezogenen Brauen an. „Guten Tag. Sie wären hier aber mit Abstand die Jüngste.“ Das ist das Erste, was sie sagt.
Tanja Herz, graue, kurze Haare, ist 44 Jahre alt, in Wirklichkeit heißt sie anders. Natürlich würde sie gern das Leben einer Frau in diesem Alter führen, aber sie hat keine Wahl. Seit ihrer Kindheit hat sie eine fehlgebildete Wirbelsäule und eine verdickte Schädeldecke. So rennen wie die anderen im Sportunterricht konnte sie nie. 2006 kam eine Autoimmunerkrankung dazu, wegen der sie stark zugenommen hat, mitten am Tag einschläft. Sie kann schlecht laufen, hören und sehen, hat seit 2007 Pflegestufe II. Permanent schmerzen ihr Rücken, die Hüfte, Knie, Füße und Arme. Nachts bekommt sie schwer Luft.
Im Heim, glaubt sie, würde es ihr besser gehen. Sie stellt sich vor, dort Freunde zu finden. Und Helfer, die sich um sie kümmern. Dass Tanja Herz ungefähr halb so alt wäre wie die anderen Bewohner, stört sie nicht. Aber bei jedem ihrer bislang zwanzig Versuche, ob per Anruf oder Besuch, wurde ihr gesagt: Sie ist zu jung.
Von 2,9 Millionen Pflegebedürftigen sind 386.000 jünger als 60
Laut Umfragen haben 80 bis 90 Prozent der Deutschen Angst davor, irgendwann in ein Pflegeheim ziehen zu müssen. Tanja Herz nicht. Tanja Herz hat Angst davor, keinen Platz im Pflegeheim zu finden.
Mit diesem Problem ist sie nicht allein. Von 2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland sind rund 386 000 noch keine 60 Jahre alt. Das sind 13,5 Prozent. Die Barmer-Krankenkasse machte zuletzt mit einem Report darauf aufmerksam und bemängelte, dass die Jüngeren im deutschen Pflegesystem vergessen würden. Das Personal sei für jüngere Patienten „häufig nicht speziell ausgebildet“, das Angebot an Wohngemeinschaften und Heimplätzen viel zu gering. Der Barmer-Vorstandsvorsitzende Christoph Straub empörte sich: Ein 30-Jähriger habe doch nichts in einer Einrichtung mit 80-Jährigen verloren!
Die Leiterin des Heims gibt Tanja Herz eine Broschüre mit. Zur Zeit habe sie kein freies Bett, und niemand würde in nächster Zeit „planmäßig ausziehen“. Aber sie kann Tanja Herz auf die Warteliste setzen. Wenn sie sich das alles noch einmal gut überlegt hat.
Wieder eine Enttäuschung. Tanja Herz setzt sich auf einen Stuhl im Flur, öffnet die Knöpfe ihrer bordeauxroten Wolljacke und beobachtet, wie eine Pflegerin vor einem gebückten Mann mit lichtem weißem Haar im Rollstuhl kniet. „Wie geht’s Ihnen?“ „Ja, ja.“ „Ich freue mich, Sie zu sehen. Hören Sie mich?“ „Ja, ja.“
Sein Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen. Die Haut von Tanja Herz ist rosig und glatt. „Man ist doch aber so alt, wie man sich fühlt“, sagt sie. „Wenn ich sitze, bin ich 60. Wenn ich gehe, mich anziehen oder bücken muss, schon 90.“
Was sind in ihrer kleinen Wohnung denn Höhepunkte?
Noch wohnt Tanja Herz allein, für viele Menschen ist Eigenständigkeit ein hohes Gut. Aber was sind in ihrer kleinen Wohnung denn Höhepunkte? Die meiste Zeit liegt sie auf dem Sofa und schaut Fernsehserien, am liebsten „Sturm der Liebe“. Sie schmiert sich nur noch Brötchen, weil sie sich wegen der Einschlafattacken nicht traut zu kochen. Ihren Körper kann sie alleine nicht mehr waschen. „Wenn ich abends einnicke, ohne noch einmal zur Toilette gegangen zu sein, schwimme ich morgens weg“, sagt sie. „Was ist zu Hause schon besser? Dass ich in meinem eigenen Schmutz liege?“
Einmal in der Woche kommt eine Putzfrau, die saugt und wischt. Einmal kommt jemand vom Besuchsdienst für zwei Stunden, trinkt mit ihr Kaffee, spielt Karten, hilft ihr manchmal ins Bad, aber zwei Stunden sind schnell um. Wenn Tanja Herz zum Arzt oder Amt muss, hilft der Begleitdienst. Am liebsten ist ihr Micha. Wie es der Zufall will, holt Micha gerade eine Frau aus dem Heim ab, in dem Tanja Herz sich um einen Platz bewirbt. Er versteht nicht, warum ihre Suche bisher erfolglos geblieben ist. „Manche müssen mit 70 gezwungen werden, ihr Zuhause zu verlassen. Doch du weißt, worauf du dich einlässt, und hast dich dafür entschieden“, sagt er zu ihr. „Das Leben ist dir eben so passiert, aber du lässt den Kopf nicht hängen.“
Ja, sie will das Beste aus allem machen. Und das Beste für sie, da ist sie sich sicher, ist ein Leben im Heim.
Mittwochs Quizrunde, donnerstags Bingo, freitags eine Lesung
Dort würde Tanja Herz wieder etwas Warmes essen. Hätte Kontakt zu anderen Menschen, bekäme wieder Anregungen. Hier zum Beispiel sieht diese Woche so aus: Montags kegeln im Foyer, dienstags ein Ausflug ins Technikmuseum, mittwochs Quizrunde, donnerstags Bingo, freitags eine Lesung. Sie könnte ihr Leben mit mehr Inhalt füllen. Würde sich nicht mehr so eklig fühlen, weil jemand helfen würde, wenn sie sich eingenässt hat oder duschen möchte. Wenn die Schmerzen unerträglich werden, könnte sie sofort eine Cortisonspritze bekommen.
Außerdem hat sie alte Menschen gern. Sie ist bei ihrer Oma groß geworden, hatte immer Ergraute um sich. Ihr erster Mann, der mittlerweile verstorben ist, war 36 Jahre älter, ihr jetziger Freund ist 19 Jahre älter. Vor einigen Jahren, als es ihr noch besser ging, leitete sie eine Seniorengruppe. Kniffelte mit den Teilnehmern, löste Kreuzworträtsel. Hörte dabei Lieder von Peter Alexander. „Das hat mir so viel Spaß gemacht“, sagt sie. Die Jüngeren, die mühelos umhereilen, zu Jobs und Familien, waren ihr schon immer ferner.
Kinder und Jugendliche werden laut dem Barmer-Report in den allermeisten Fällen zu Hause betreut. Für sie gibt es laut der Senatsverwaltung für Gesundheit und Pflege zwei Wohngruppen in Berlin, zwei Kinderhospize und sieben Behindertenheime. Für Erwachsene unter 60 Jahren liegen keine „statistischen Erhebungen“ vor.
Aus dem Altenheim, "da wollte ich nur raus"
Zehn Kilometer von Tanja Herz entfernt lebt Udo Rink, der seinen richtigen Namen ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will, in einer der ganz wenigen betreuten Wohnmöglichkeiten für Menschen, die nicht mehr jung und noch nicht alt sind. Der 32-Jährige, dunkle Strubbelhaare, Brille, kleiner Buckel, ist Ende vergangenen Jahres in das St.-Elisabeth-Stift in der Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg gezogen, wo es eine Station für Jüngere gibt. Davor lebte er in einem Altenheim in Hohenschönhausen. „Da wollte ich nur raus“, sagt er und fährt mit seinen Rollstuhl an einen weißen Tisch im Gemeinschaftsraum, auf dem zwei Schnabeltassen stehen. Ein Mann schmiss damals im Altenheim oft seine Windel auf den Boden, ein anderer habe ständig herumgeschrien. „Am schlimmsten aber war Bert, der hatte Demenz und vergaß immer, wo sein Bett war“, erzählt Rink. „Der stand dann plötzlich vor meinem, weil er dachte, das wäre seins.“
Auf der Etage „Regenbogen“, vierter Stock, leben 21 Menschen. Einige hatten einen Schlaganfall oder haben Multiple Sklerose. Eine Frau hat so stark Adipositas, dass sie nur in ihrem Bett liegt. Udo Rink ist querschnittsgelähmt.
Ein Nachmittag vor zwölf Jahren: Rink kommt nach Hause und sieht im Wohnzimmer, wie seine damalige Freundin mit einem Arbeitskollegen kuschelt. Wie sie kichert. Ihn küsst. Leise schleicht er sich nach draußen, geht in eine Kneipe und betrinkt sich, Klarer mit Cola. „Ich hatte mehrere Promille, als ich zu ihr ging“, sagt er. An das, was dann geschah, kann er sich nicht mehr ganz genau erinnern. Sie streiten sich. Dann geht er raus, auf den Balkon. „Sie hat gesagt, ich soll nicht springen, das weiß ich noch.“
Neun Stunden lang wird er operiert. Zwei Tage liegt er im künstlichen Koma. Dann wacht er auf. Mit einem Schlauch im Mund. Kann seine Beine nicht bewegen. Der Arzt sagt, daran werde sich nie wieder etwas ändern. „Das war ein schlimmes, schlimmes Jahr“, sagt Udo Rink. „Ein Mal hab ich noch mal rüber zum Fenster geguckt.“
Hier ist er einer der Fittesten
Ein Bewohner in der Ecke des Raums schaut rüber zu Rink. Er hat den Mund offen stehen, sabbert ein bisschen, weswegen ihm ein Lätzchen umgebunden wurde. Aus dem Flur hört man eine Frau „Hallo?, Hallo?“ rufen. Die Bewohner sehen deutlich jünger aus als die Alten in den unteren Etagen des Heims, aber dass sie auf andere angewiesen sind, sieht man trotzdem. Die zwei Männer an einem weiteren Tisch, die schweigend vor sich hin starren, sitzen zwei Stunden später noch genauso dort. Ohne ein Wort gesagt zu haben.
Udo Rink ist hier einer der Fittesten. Er fährt mit seinem Rollstuhl oft raus, gern in die Schönhauser Arkaden, holt sich manchmal eine Tiefkühlpizza, die er sich in der Mikrowelle warm macht, besucht seinen Vater im Pflegeheim oder seine Verlobte. Übermorgen für ein ganzes Wochenende. Seit acht Jahren sind sie zusammen, die Beziehung gibt ihm Kraft.
„Manchmal hat man das Gefühl, die Bewohner geben ihr Leben an der Tür ab, wenn sie einziehen“, sagt eine Pflegerin. „Die Tage werden nur noch abgesessen. Man wacht auf, isst, schläft. Das Gefühl, dass für sie schon Endstation ist, wollen wir den Jungen so gut es geht nehmen.“ Sie kochen zusammen. Besuchen Ausstellungen. Bald wollen sie bei gutem Wetter wieder in den nahen Mauerpark.
Trotzdem können Udo Rink und die anderen nicht immer tun, was sie wollen. Wenn sie raus möchten, müssen sie Bescheid sagen. Wenn sie etwas brauchen, müssen sie fragen. Dann fühlen sie sich schon unfrei. Vermissen es, spontan zu sein, eigene Entscheidungen zu treffen. Jung zu sein.
Neben seinem Bett, das aussieht wie in einem Krankenhaus, hat Udo Rink Bilder von seiner Verlobten aufgehängt. Eins ist blau angemalt mit einem Herz drauf. Das andere ist rot und in Herzform ausgeschnitten. „Bei mir im Altenheim zu schlafen, fand sie komisch“, sagt er. Das hat sie einmal im Monat getan. Hier besuche sie ihn lieber. Nur übernachten geht nicht, weil er sich das Zimmer mit einem anderen teilt. „Wenn ich bald ein Einzelzimmer hab, dann hab ich meine Ruhe mit meiner Süßen und kann so viel mit ihr schmusen, wie ich will.“
"Alles klärchen, muss ja, muss ja"
Wenn er genug Geld gespart hat, will Udo Rink seine Verlobte heiraten. Am liebsten hier im Heim. Er schiebt sich in seinem Rollstuhl zum Fahrstuhl. Will den perfekten Ort dafür zeigen. „Hey Udo, alles jut?“, fragt ein Bewohner, der in einem hellbraunen Cordsessel sitzt. „Alles klärchen, muss ja, muss ja.“ Zwei Stockwerke tiefer befindet sich die Etage „Abendfrieden“.
Rink öffnet eine große weiße Tür. Die Tür zur Kapelle. Sonnenlicht fällt durch die bunten Fenster, wärmt den Raum. Vorne steht ein Altar mit Kerzenständern, daneben ein Holzflügel, auf der anderen Seite eine Orgel. „Manchmal bete ich hier. Auch wenn ich nicht gläubig bin“, sagt Udo Rink. „Aber die Welt besteht für mich aus ziemlich vielen Fragezeichen.“
Die meisten anderen Bewohner haben keine so großen Pläne mehr. Sie werden hier alt werden. Jahrzehnte verbringen.
Wie gerne Tanja Herz mit ihnen tauschen würde. Ganz früher hat sie mal davon geträumt, Kinder zu haben. Dann hat sie davon geträumt, dass ihre Eltern sie vielleicht doch von der Oma holen und selber großziehen wollen. Auch dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Jetzt träumt sie vom Heim. Obwohl sie im Heim ihre Oma hat sterben sehen und ihren ersten Mann. Obwohl sie weiß, dass viele Pfleger überarbeitet sind. Sie sieht das Positive: Ein Leben im Heim wäre für sie ein Leben in Gesellschaft. Ob ihr Vater noch lebt, weiß sie nicht. Ihre Mutter besucht sie hin und wieder in einer Pflegeeinrichtung. In die gleiche will Tanja Herz auf keinen Fall. Sie kann ihrer Mutter nicht verzeihen.
Ihren Freund kann sie nicht besuchen - er wohnt im vierten Stock
Der Einzige, der sie besucht und der ihr bei der Suche nach einem Heim hilft, ist ihr Freund, aber der arbeitet und hat Kehlkopfkrebs. „Ich will ihn nicht zu sehr belasten. Pflegen ist schwer und anstrengend“, sagt sie in ihrer Einzimmerwohnung und deckt sich auf dem Ledersofa mit einer Wolldecke zu. Ihn zu Hause besuchen kann sie auch nicht. Sie schafft jeden Weg nur mit Rollator. Er wohnt im vierten Stock ohne Aufzug. Wenn sie später an diesem Tag noch zu ihm fährt, gehen sie in der Nähe etwas essen. Danach fährt sie zurück zu sich. Ist wieder allein.
Hier, im Märkischen Viertel, leben 40.000 Menschen in 16.000 Plattenbauwohnungen. Doch Tanja Herz weiß nicht, wer ihre Nachbarn sind. Würde sie stürzen und Hilfe brauchen, bekäme sie keine. Niemand klingelt, weiß, dass sie da ist, will wissen, ob es ihr gut geht. Sie müsste hoffen, dass ihr Freund sich irgendwann Sorgen macht, wenn sie nicht ans Telefon geht. „Im Heim wird das jemand mitbekommen und sich kümmern“, sagt sie. „Vielleicht wird das mein Familienersatz.“
Was sie für einen Platz im Pflegeheim aufgibt, ist nicht viel: Es ist nur ihre Einsamkeit.