Hertha BSC und die Fans: Wo bleibt die Begeisterung?
Mutig, durchdacht und wunderschön: Hertha spielt so gut wie lange nicht mehr. Doch die Berliner treibt das nicht ins Stadion. Die echten Fans wissen, warum.
Was hilft das schönste Kompliment, wenn es aus der falschen Ecke kommt? Gerade erst hat sich die nicht ganz so hohe Politik rangeschmissen an das neu entdeckte Erfolgsmodell namens Hertha BSC. Attraktiv und erfolgreich, und dann auch noch aus Berlin – genau so wollen wir auch sein, hat die nicht ganz so hohe Politik gesagt. Eine offizielle Reaktion gab es nicht, aber es darf wohl davon ausgegangen werden, dass sie bei Hertha nicht gerade begeistert waren von der Vereinnahmung durch den Landesvorsitzenden der … Berliner AfD.
Hertha ist groß und interessant geworden, für Fans und Freunde, aber auch für ungebetene Trittbrettfahrer. Am heutigen Freitag startet die Bundesliga in ihre Rückrunde, und die Berliner stehen auf Platz drei. So gut, wie es selbst in der traditionell unbescheidenen Stadt niemand laut zu prophezeien gewagt hatte. Platz drei würde zur Qualifikation für die Champions League reichen – dabei wäre Hertha vor einem halben Jahr beinahe noch in die Zweite Liga abgestiegen. Der Aufschwung erfolgte mit nur geringfügig und kostengünstig verstärktem Personal, und er ist keineswegs Folge einer Kette von Glück und Zufällen. Hertha BSC spielt mutigen, durchdachten und wunderschön anzuschauenden Fußball, verantwortet von einem Trainer, den das Management aus der klubeigenen Jugendabteilung beförderte. Was für eine Erfolgsgeschichte!
Nur der Berliner gewährt seine Wertschätzung in homöopathischer Dosierung. Kammannichmeckern! Aber noch lange kein Grund, Hertha das Olympiastadion einzurennen. Als Hertha vor fünf Wochen zum vierten Advent den dritten Platz erklommen hatte und zum letzten Heimspiel dieses denkwürdigen Jahres lud, da verloren sich im riesigen Olympiastadion gerade einmal 40 000 Fußballfans (nicht ganz so viele wie zum Spiel des Tabellenvierzehnten Frankfurt gegen den Sechzehnten Bremen). Gewiss, die als Gäste angereisten Sportfreunde aus Mainz zählen nicht zu den größten Attraktionen der Liga, aber sie waren ja auch nicht als Hauptact gebucht. Hertha gewann souverän 2:0 bei dieser Jahresabschlussparty im kleinen Kreis. Am Samstag nun kommen die ähnlich situierten Augsburger zur Eröffnung des neuen Fußballjahres, und der Andrang hält sich wieder in Grenzen. Der Vorverkauf lässt darauf schließen, dass es auch dieses Mal vielleicht zu knapp 40 000 Zuschauern reicht.
Ach, Berlin!
Wo bleibt die Begeisterung? Leidet sie unter der Last einer von Skandalen umtosten Vergangenheit? Gibt es da einen aus Erfahrung gespeisten Verdacht, der Einbruch komme noch früh genug? Oder ist es einfach die überdimensionierte Herausforderung, ein kickendes Äquivalent zum hippen Party-Berlin auf den Rasen zu zaubern?
Die Suche nach Antworten beginnt bei Fans und Kritikern, bei Sympathisanten und Event-Claqueuren von Hertha BSC in Mitte, Kreuzberg, Prenzlauer Berg, Westend und Mariendorf.
Bernd Schiphorst ist mit dem ICE aus Hamburg gekommen. Ein paar Termine wollen abgearbeitet werden, das macht sich am besten im Aigner, seinem Lieblingsrestaurant am Gendarmenmarkt. Schiphorst, 72, hat AOL auf den deutschen Markt gebracht, war Medienbeauftragter von Berlin-Brandenburg, Mitglied des Vorstandes von Bertelsmann, jetzt steht er dem Aufsichtsrat des Netzwerkes media.net vor und seit 2008 auch dem von Hertha BSC. Zuvor war er acht Jahre Präsident. Warum tut sich der Klub in der öffentlichen Wahrnehmung so schwer? Bernd Schiphorst seufzt, er hebt die Arme und schaut nach oben zu einem möglichen Fußballgott. Ach, Berlin!
Es ist ja nicht so, dass Hertha nur ein virtuelles Publikum bespielt. Zu den bisher acht Heimspielen dieser Saison kamen im Durchschnitt 48 000 Zuschauer, das bedeutet bisher Platz acht in der Zuschauertabelle, und die attraktiven Mannschaften aus München, Dortmund und Schalke kommen alle noch. Auch bei den Zugriffsraten des Pay-TV-Senders „Sky“ liegen die Berliner im Mittelfeld. „Es ist sicher eine echte Chance, die vielen jungen Leute, die jetzt nach Berlin kommen, für Hertha zu begeistern“, sagt Schiphorst. „Das Management hat das erkannt und einen neuen Mann fürs Digitale in die Geschäftsleitung geholt.“ Und: „Ich glaube nicht, dass Hertha weniger sexy ist als andere Klubs. Bayern, Dortmund und Schalke nehmen da aus den unterschiedlichsten Gründen eine gewisse Sonderstellung ein. Sonst müssen wir uns vor keinem verstecken.“
Das Olympiastadion ist für Hertha eine Nummer zu groß
Das Problem ist auch ein strukturelles. Das 75 000 Zuschauer fassende Olympiastadion bietet so viel Platz, dass sich keiner Sorgen um eine Karte machen muss, auch wenn er erst fünf Minuten vor Spielbeginn kommt. Und es gibt ja auch gemütlichere Orte, gerade im Winter. Am Samstag und auf ewig wird der Wind durch das Marathontor pfeifen, weil der Denkmalschutz eine Sichtachse zum Maifeld verlangt und dazu einige andere Auflagen macht, die typische Fußballatmosphäre verhindern. Selbst wenn 50 000 Zuschauer ins Stadion kommen, wirkt es leer. Zum Vergleich: Der Zuschauerschnitt in der gesamten Bundesliga lag in der vergangenen Saison bei 43 532.
Die Fans haben längst ihren Frieden geschlossen mit der steinernen Ellipse. Niemand in blau-weiß gestreifter Kluft mag heute noch auf die berühmte Ostkurve verzichten. Das Olympiastadion ist Heimat geworden, gewachsen seit bald 50 Jahren. Und doch ist es für Hertha einfach eine Nummer zu groß. „Das wird eine der Herausforderungen für die Zukunft sein: dass wir das Gut Hertha ein wenig verknappen und damit begehrenswerter machen“, sagt Bernd Schiphorst. Wie das gehen soll? Der Medienmanager lächelt und schweigt.
Hertha biedert sich nicht an
Vom Gendarmenmarkt geht es ein paar Kilometer die Friedrichstraße hinunter, vorbei am Halleschen Tor, in eine andere Welt nach Kreuzberg. Carsten Regel sitzt mit rasiertem Kopf und Bartstoppeln in einer Bar am Mehringdamm. SW 61, zu Mauerzeiten das gemäßigte Pendant zu SO 36, der raueren Hälfte des Bezirks. SO 36 brennt, SW 61 pennt, hat man früher gesagt. Regel bestellt Kaffee und holt sich vom Besitzer der Bar, einem alten Freund, ein lautes „Scheiß Hertha!“ ab. Beide lachen. Carsten Regel ist 49 Jahre alt, in Neukölln aufgewachsen und seit seiner Kindheit Hertha-Fan. In den Siebzigern sah Regel seine Mannschaft zum ersten Mal spielen, in einer Spielzusammenfassung der Abendschau. Hertha lag zur Pause 0:3 zurück, und als am Ende des Beitrags doch noch ein Unentschieden stand, war es um ihn geschehen. „Da war ich verliebt. In Hertha, meine erste Frau.“
Zu Hertha zu gehen war damals mehr, als nur Fußball gucken. „Ich will gar nicht so wortgewaltig werden“, sagt Regel und wird es dann doch. Nennt seinen Klub „die letzte Bastion der Freiheit“ zu Mauerzeiten, den Verein des West-Berliner Selbstverständnisses. „ Und als Jugendlicher fand ich auch Herthas Skandalimage cool.“ Zwangsabstieg und Bundesligaskandal und so. Am Imagewandel des Vereins, also daran, dass Hertha heute nicht mehr „so total beliebt ist“, hat seiner Meinung auch der Mauerfall Schuld. „In der Euphorie dachten damals alle: Jetzt wird Hertha die Nummer eins im deutschen Fußball.“ Mauer auf, alle nach Berlin. Es kam anders. Mit dem Verschwinden der roten Gefahr habe Hertha auch ihr Profil, ihre Reibungsfläche verloren. „Das Positivste, was man über den Verein sagen kann, ist, dass er sich nicht anbiedert“, sagt Regel. Das erste Rückrundenspiel gegen Augsburg wird er sich im Fernsehen anschauen, „im Olympiastadion brauchste ja ein Opernglas, wenn du was sehen willst“. Sein Herz wird er dennoch nicht neu vergeben, da sind sie sich einig im Kreis der alten Kumpels, mit denen er sich früher im Olympiastadion gedrängt hat. „Ich habe meine Glückseligkeit noch nie daran geknüpft, auch mal die Schale zu gewinnen. Das überlass ich den Leuten aus der Provinz.“
Gentrifizierung der Fußballlandschaft
Weiter in die Provinz, in die Heimat der Berliner Schwaben, Bayern oder Bremer, im Berliner Mikrokosmos ist sie in Prenzlauer Berg verortet. Das Alois S. liegt zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee. Lothar Heer sitzt am Tresen und liest den „Spiegel“. Obwohl er es selbst mit Bayern München hält, hat Lothar Heer das Alois S. als Werder-Bremen-Kneipe gegründet, weil damals viele zugezogene Bremer in der Gegend wohnten und noch nicht genügend Münchner. „Jeder, der seinen Verein mit nach Berlin bringt, ist für Hertha schon mal verloren“, sagt Heer. Früher gab es gleich um die Ecke eine Hertha-Kneipe, aber als „Sky“ zweimal hintereinander die Preise erhöhte, lohnte das Geschäft nicht mehr. Gentrifizierung der Fußballlandschaft sozusagen.
Lothar Heer sagt, das sei nicht der einzige Grund, warum sich nur wenige Menschen mit Hertha identifizieren. Für Fans gehe es vor allem um den Mythos einer Mannschaft, das Image. „Nach dem dritten Bier erzählt man sich immer dieselben Geschichten“, sagt er. Kutzops verschossener Elfmeter gegen die Bayern, Schalkes Meisterschaft der Herzen. „Bei Hertha gibt’s keine solchen Geschichten. Hertha steht für nichts.“ Deshalb seien seine Gäste Hertha gegenüber auch nicht negativ eingestellt. „Wenn hier über Fußball geredet wird, kommt es nicht mal zum Hertha-Bashing.“ Jedes Mal, wenn Berlin gegen Bremen spielt, kommen ein paar Hertha-Fans ins Alois S. Die bekommen dann Logenplätze, sagt Lothar Heer.
Zurück Richtung Olympiastadion, einmal quer durch die Stadt, vom neuen Zentrum in den alten Westen. Zum Rückrundenstart lädt Herthas Hauptsponsor, ein Wettanbieter, in eine Villa nach Westend. Präsentiert wird ein neues Format, eine Art „Big Brother“ für Fußballfans. Ein halbes Jahr lang sollen sie gemeinsam im Loft der Villa leben und dabei immer wieder wetten. Das Ganze wird gefilmt und wer am Ende des Monats am wenigsten Geld hat, fliegt raus. Die Kandidaten treten vor den großen Fernseher, er verdeckt die halbe Wohnzimmerwand. Franzi ist Schauspielerin, Model und 22, von Fußball habe sie eigentlich nicht so viel Ahnung. Aber darum geht es hier ja auch gar nicht. Es geht um „Bet-ification“, sagt einer der Redner und freut sich über die neue Vokabel. Ein Graffito an der Wand zeigt einen Mann im Hertha-Trikot neben einem Bären im Hertha-Trikot. Weiter oben drängen sich nebeneinander Fernsehturm, Funkturm und Siegessäule. Bildinterpretation: Berlin ist Hertha, Hertha ist Berlin. Jung und frisch und sexy.
Jenseits der Ringbahn ist Hertha-Land
Wer echte Herthafans sucht, muss nach Reinickendorf, nach Spandau, Wedding. Oder nach Mariendorf. Hier, jenseits der Ringbahn, in der weitestgehend hipster- und gentrifizierungsfreien Zone, ist Hertha-Land. Im Bier-Stübl am Mariendorfer Damm treffen sich ehrliche Trinker und Menschen aus der Nachbarschaft zum Darten oder Skatspielen. Kein Zweifel darüber, für welchen Verein sie hier jubeln. Schon Tage vor dem Spiel gegen Augsburg kündet eine Tafel neben der Tür von der Fernsehübertragung. „Rückrunde“ hat jemand mit Kreide oben auf die Tafel geschrieben, ein Ausrufezeichen dahinter, weil es endlich mal wieder was zu feiern gibt.
Gegenüber der Tür befindet sich der Hertha-Altar. Eine Fahne, darüber blau-weiße Nikolausmützen, daneben ein Bild des Dampfers Hertha, jenes Schiffs, nach dem Fritz und Max Lindner und Otto und Willi Lorenz 1892 ihren neugegründeten Verein benannten. Darunter sitzen bei Hertha-Spielen die, die immer hier sitzen. Hannelore Wilson steht hinter dem Tresen, verkauft Bier, trinkt Cuba Libre und erzählt, was hier jeder weiß. Nämlich, dass es ihnen egal ist, ob Hertha glamourös oder beliebt ist, oder einer Hauptstadt würdig. „Hauptsache wir haben unsere Hertha“, sagt sie. „Wir“, das sind für sie die Ureinwohner – echtes West-Berlin, hier geboren, hier geblieben, und hier, im Bier-Stübl, werden sie sich auch das Spiel gegen Augsburg ansehen. „Ist einfach zu teuer geworden“, sagt Hannelore Wilson. Die billigste Karte kostet 15 Euro – addiert mit Fahrgeld, Bratwurst und Halbzeit-Bier lässt sich damit schon ein netter Abend bei ihr am Tresen gestalten. Neben dem Altar hängt ein Zettel mit den Tipps der Gäste, sie heißen Tommynator, Irmchen oder Wolle. Die meisten glauben an einen Sieg, wenige an ein Unentschieden. Darauf, dass Hertha verliert, hat hier niemand getippt.